Am Ende geht es um Frauen
Nein, man muss das 1500-Seiten-Manifest des Osloer Attentäters Anders Breivik nicht gelesen haben. Es ist mühsam, und spätestens nach den ersten 300 Seiten flimmern einem die Augen. Dennoch kann man es tun, und es gehen einem dabei sogar Lichter auf. Insbesondere, wenn man sich dazu ein Buch aus dem Regal holt, das man zuletzt vor 25 Jahren in der Hand hatte: Klaus Theweleits Klassiker “Männerphantasien”, ebenfalls knapp 1.000 Seiten.
Er seziert das Innenleben der Angehörigen jener Freischärlertrupps, die in den Anfangsjahren der Weimarer Republik die kommunistischen Revolten niederschlugen und aus denen später viele führende Figuren der nationalsozialstischen Bewegung hervorgehen sollten. Ihr Frauenbild, ihre Körperwahrnehmung, ihre Ängste, ihre Phantasien, die Bedrohungsszenarien, die diese jungen Männer sich ausmalten, und die Rettungsvisionen, an die sich klammerten. Alles beginnt mit der Angst.
Angst vor der Flut, dem Brei, der Unordnung; vor den Massen, dem Verschlungenwerden. War für die Faschisten der Zwischenkriegszeit diese “Flut” gleichbedeutend mit der kommunistischen Revolution, so passt die Terminologie mindestens ebensogut auf Breiviks Bedrohungsszenario.
Denn da ist tatsächlich wenig von Ausländergesetzen, Arbeitsmigration oder der Scharia zu lesen. Dafür umso mehr von der drohenden “Feminisierung der europäischen Kultur”, vom “radikal-feministischen Angriff auf unsere Werte”, der “psychologischen Kriegsführung gegen den europäischen Mann”, von Testosteron und “Alpha-Boys”.
Breivik spricht offen aus, dass sein anti-islamischer, anti-marxistischer Kulturkampf sich über weite Strecken mit einem anti-weiblichen Geschlechterkampf deckt. Da “60 bis 70 Prozent aller kulturellen Marxisten weiblich” seien, müsse sich die Strategie logischerweise auf sie konzentrieren. An jenen Stellen seines Traktats, wo er versucht, Mitkämpfer anzuwerben und ihnen konkrekte Handlungsanleitungen zu geben, wird deutlich, dass er dabei ausschließlich Männer im Kopf hat: Als Tarnung für geheime Aktivitäten empfiehlt er ihnen, “ein Mädchen zu erfinden. Sagt, ihr geht in einen Massagesalon oder fahrt in ein ausländisches Bordell. Oder sagt, ihr seid süchtig nach einem Computerspiel. Das wird jeder eurer Bekannten verstehen.”
Bei Theweleits Soldaten sind die kommunistischen “Flintenweiber” der Inbegriff des Bösen. Bei Breivik hingegen besteht das Hassbild Frau aus zwei komplementären Teilen. Auf der einen Seite stehen die “weiblichen Power-Figuren”, von denen er sich in Fernsehen und Popkultur umzingelt fühlt, unterstützt von “Gender-Polizistinnen”, die “Männer zu Fußabstreifern gemacht” hätten. Ihre Waffen sind nicht Flinten, sondern Anklagen wegen sexueller Belästigung, gendersensitive Trainingskurse oder “Zeitschriften wie GQ oder Men’s Health, die von Männern verlangen, sich hübsch zu machen”.
Auf der anderen Seite, nicht minder bedrohlich, lauert die fremde muslimische Frau, die ihre Fruchtbarkeit als Waffe einsetzt. Um das zu verdeutlichen, fügt Breivik an dieser Stelle seines Traktats eine Illustration ein: Eine Frau, gesichtslos hinter der Burka versteckt, mit einem prall gespannten, hochschwangeren Bauch. Auf dem Bauch liegt ihre knöcherne Todeshand, aus dem Bauch heraus hängt eine brennende Lunte.
Das Bild könnte aus Theweleits Buch stammen. “Gerade der Fähigkeit der Frauen zu gebären gilt der Hass der Nicht-zu-Ende-Geborenen und ihre Rache”, schreibt er.
Individuell gesehen, wäre das alles bloß ein Fall für den Psychiater. Wäre es nicht längst auch politisch relevant. Denn tatsächlich ist nicht nur Anders Breivik davon überzeugt, der Feminismus habe die “Wehrbereitschaft der christlich-europäischen Bastionen von innen heraus zerstört”. Dass Zivilisation, Geschlechtergerechtigkeit, Fairness und respektvolle Umgangsformen eine Gesellschaft schwächen, und sie in Gefahr bringen, von wilden Horden überrannt zu werden, ist ein oft erhobener Vorwurf – weit über radikale Kreise hinaus.
Dagegen hilft nur: Verhärten. Erstarren. Abwehrhaltung einnehmen. Auch Breivik sucht einen “Zusammenhalt, der eine nationale Vision produziert, mit festgelegten Grenzen für akzeptables und inakzeptables Verhalten.” Wer sich zusammenhalten will, braucht Techniken. Theweleit zählt sie auf: “Sich selbst Kommandos geben, sich zusammenreißen, alle Formen der absichtsvollen Selbstkontrolle/das Wachsein, die ständige Beobachtung/das Körpertraining im ’Trimm-dich’-Sinn…Tätig sein, um etwas zu tun/Schreiben, um zu ordnen, um nicht fühlen zu müssen/ Reden, um nicht zu hören, um zu beschwören…”
Und als hätte er dieses Psychogramm gelesen, gibt Breivik detailliert Auskunft über seine Motivationsrituale. Täglich ein vierzigminütiger Spaziergang oder Workout mit dem Ipod, dann “einen Widerstandsblog lesen” oder “die Operation mental simulieren”: “Solche Rituale laden die Batterien auf”, schreibt der Massenmörder. “Schließlich motivieren sich auch die Muslime, indem sie fünfmal am Tag beten und Koransuren rezitieren.”
Rituale helfen beim Fokussieren und machen fit für die Tat. Für die Rache an all jenen, denen die eigenen Ängste fremd sind. Die sich weder vor dem Untergang der Rasse noch vor dem Zusammenbruch der christlichen Moral noch vor der Verschmelzung mit anderen Kulturen fürchten. Wie die Jugendlichen auf der Insel Utöya. Haben womöglich unterschiedliche kulturelle Hintergründe, und dennoch keine Berührungsängste. Finden nichts dabei, im selben Zelt zu schlafen. Wer weiß, was sie dort drin tun. Und haben womöglich auch noch Spaß dabei.
Ja, selbstverständlich geht es hier auch um Sexualität. Und um Neid.
Frauen, die ein Mann gern hätte, aber nicht haben kann, müssen - damals wie heute – mit Gewalt rechnen. Oder zumindest damit, “Huren” genannt zu werden. Bei näherer Betrachtung ist es beinahe unheimlich, wie viele sexuelle Anspielungen sich in seinen Worten finden. Von “Entmannung” und “Impotenz” ist oft die Rede, von der “Vergewaltigung Europas”. Parlamentarier werden als “politische Prostituierte” bezeichnet.
Angewidert, aber umso detaillierter erzählt Breivik von der Promiskuität, die seiner Mutter eine Herpesinfektion und seiner Schwester Chlamydien und Unfruchtbarkeit eingetragen hätten („Beide haben über mich und unsere Familie Schande gebracht”). „Basierend auf den Erfahrungen meiner männlichen Freunde, meine eigenen inbegriffen”, ordnet er die Frauen verschiedener Nationalitäten nach ihrer Sexualmoral, vergibt Punkte und erstellt Rankings. Wieder geht es darum, jeder den ihr zustehenden Platz zuzuweisen. Oder, wie Theweleit sagen würde: “Frauen in unbelebte Objekte zu verwandeln.”
Mittelfristig stoßen körperfeindliche Rassisten allerdings auf ein programmatisches Problem: Wie soll man den Fortbestand der Rasse sichern, “den Volkskörper zusammenhalten”, sich wappnen gegen “Überfremdung”, wenn man Frauen grundsätzlich misstraut?
Breivik hat eine Idee, wie man das Familienmodell der Fünfzigerjahre in die Moderne hinüberretten könnte: Er stellt sich eine Ehe vor, in der die Mann-Frau-Beziehung auf einen Vertrag zur Kinderaufzucht reduziert wird. Der Staat solle Häuser zur Verfügung stellen, in die Familien ab dem dritten Kind einziehen. Ausziehen dürfe man erst, wenn das jüngste 18 Jahre alt sei, Trennungen davor wären untersagt.
In einem weiten Schritt, phantasiert Breivik, könne man das Gebären an Leihmütter in Billiglohnländern auslagern. Die europäischen Embryos würden in Vitro erzeugt, die Leihmütter “nach örtlichen Marktstandards entlohnt”, die Kinder anschließend, jeweils zu sechst, in Wohngemeinschaften von je einem Erzieher und einer Erzieherin professionell aufgezogen. In letzter Konsequenz könne es schließlich auch maschinelle Gebärmütter geben.
Der Attentäter gibt das alles als Lösung für “das demographische Problem” aus; als Antwort auf die Frage, wie man verhindern könne, dass “die nordischen Gene” aussterben. Doch es braucht nicht seine psychotanalytische Expertise, um zu erkennen, was dahinter hervorlugt: Die Sehnsucht, Frauen zu entmachten und samt ihrer Fruchtbarkeit überflüssig zu machen. Sie durch Dinge zu ersetzen, die man auf Knopfdruck steuern kann. Und bei der Gelegenheit die Sexualität, die einem ohnehin schon immer unheimlich war, ein für alle mal abzuschaffen.
Mit dieser Phantasie ist der Mann wahrscheinlich nicht allein.