Sexsucht online
Es war kein Mord, der Schlagzeilen machte. Nur eine Meldung unter vielen. Oberflächlich betrachtet gehörte die Geschichte zur Kategorie "Eifersuchtsdrama". Wäre da nicht diese seltsame Vorgeschichte, die ein Schlaglicht wirft auf eine neuartige Sucht- form: Er verliert seine Stelle als Ingenieur. Mit einer guten Abfindung im Rücken sucht er ein Jahr lang nach einem Job und vertieft sich in dieser Zeit immer weiter in die Pornowelt des Internets, verliert alle sozialen Kontakte und verlässt kaum noch die Wohnung. Seine Frau hat eine leitende Position. Wenn sie abends nach Hause kommt, sitzt er vorm Schirm. Bis zum frühen Morgen. Um ihn nicht ganz zu verlieren, lässt sie sich auf seinen Wunsch ein, ihm dorthin zu folgen, wo er seine Sexualität auslebt – in eines der vielen Sex-Foren. Fortan sitzen sie gemeinsam in der Wohnung, jeder an seinem Rechner. Realen Sex haben sie nur noch sporadisch, stattdessen verabreden sie sich zum virtuellen Verkehr in einem der vielen Anheiz-Chats. Über diese ungewollte neue Leidenschaft rutscht sie in eine Co-Abhängigkeit. Ihren nächsten Urlaub auf Mallorca verbringen die beiden im Hotelzimmer, vor ihren Laptops. Irgendwann lernt sie im Netz einen anderen kennen, sie trennt sich. Bei einer letzten Aussprache tötet der arbeitslose Ingenieur seine Frau mit 30 Messerstichen.
"Das war wohl die erste Tote als Folge einer Onlinesucht", erklärt Professor Werner Platz vom Vivantes Institut am Berliner Humboldt Klinikum, eine der wenigen Anlaufstellen für Online- sexsüchtige in Deutschland. Cybersexsüchtige werden meistens nicht als solche erkannt, weil der Konsum von Pornos im Netz als Privatsache gilt. Wer seine Sexualität fast ausschließlich im Netz auslebt, scheint erstmal niemandem zu schaden, außer sich selbst.
Es sei denn, er lebt in einer Beziehung, wie die Sexualwis- senschaftlerin Alexandra Stupperich erklärt, denn "das Surfen im Netz befriedigt nicht nur sexuelle Bedürfnisse, die eine reale Partnerin nicht erfüllen kann oder will – es schafft diese Bedürfnisse auch". Das Sexualverhalten wird nachhaltig verändert, Pornobilder und Realität durchmischen sich. Die Sexualforscherin: "Exzessive Nutzer könnten Probleme bekommen, zwischen der echten Welt und der Cyberworld zu unterscheiden."
Die betroffenen Männer (der Anteil der Frauen bewegt sich im Promillebereich) surfen im Verborgenen und suchen sich oft erst dann Hilfe, wenn die Partnerin ihnen mit Trennung droht oder "weil plötzlich die Polizei vor der Tür steht, wenn Kinderpornos im Spiel waren", wie die Sozialtherapeutin Elvira Lorenzen vom Fachkrankenhaus Nordfriesland berichtet. Bis es soweit kommt, ist oft bereits die Familie zerstört oder der Süchtige ist durch den Konsum arbeitslos geworden und steht finanziell vor dem Ruin.
In der Spezialklinik melden sich von Jahr zu Jahr mehr Abhängige, die von hilflosen Hausärzten und überforderten Suchtberatungs- stellen weiter geschickt werden. Auch das Institut für Sexual- forschung des Hamburger Universitätskrankenhauses Eppendorf und das Berliner Vivantes Institut verzeichnen seit drei Jahren einen deutlichen Anstieg der Patientenzahlen. Und wenn man bedenkt, wie hoch die Hemmschwelle ist bei dieser Sucht, muss man davon ausgehen, dass die Dunkelziffer ein Vielfaches beträgt.
Abgesehen von der Zerstörung der eigenen Existenz tragen Onlinesüchtige verstärkt dazu bei, dass die Anzahl der Porno- seiten im Netz explodieren und die Inhalte eskalieren: Die Reize werden gesteigert und immer öfter an Gewalt und Kindes- missbrauch gekoppelt. Die Spirale dreht sich in beide Richtungen. Das Pornoangebot kann "normale" Nutzer zu Pädophilen machen. Ein verhängnisvoller Trend, den auch die Ermittler in dem jüngst aufgeflogenen größten Kinderpornonetz Deutschlands beobachten. "Viele der Täter, mit denen wir es zu tun haben, sind über den Konsum legaler Pornos in die Kinderpornografie gerutscht.", erklärt Oberstaatsanwalt Peter Vogt, Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Sachsen-Anhalt. "Wenn wir bei einem Verdächtigen auf massive Sammelleidenschaft stoßen, das heißt mehrere Zehntausend Bilder, dann ist immer auch Kinderpornografie dabei."
Für solche Datenmengen verbringen die User zwangsläufig täglich Stunden vor dem Schirm, sind also schon durch die Quantität der Bilder als Süchtige einzustufen. Vogt kennt einen Fall, in dem ein Beschuldigter, der vorher nie ein sexuelles Interesse an Kindern hatte, 45.000 harte Kinderpornos geladen hatte. Insgesamt hatte der Mann zwei Millionen Pornos auf seiner Festplatte.
Trotz jüngster Fahndungserfolge häufen sich die Fälle, in denen der Nachweis immer schwieriger wird. Wie die Sexualwissen- schaftlerin Stupperich herausgefunden hat, verändert sich die Community ständig: "Immer mehr Bilder werden direkt übers Handy verschickt und entziehen sich damit dem Zugriff der Ermittler im Internet. Oder die Täter dringen in Jugendchats wie ICQ (aiseekju), wo Kinder mit ihren 'Buddies' chatten. Da haben selbst die Eltern kaum mehr Kontrollmöglichkeit." Aus Stupperichs Sicht hilft es da auch nichts, die Provider solcher Seiten verantwortlich zu machen: "Es ist für große Provider schwierig, Inhalte zu überprüfen. Wenn allerdings die Zugriffe (Hits) auf eine Website plötzlich rasant ansteigen, wird schon mal nachgeschaut und gegebenenfalls die Polizei verständigt."
Mit den Angeboten im Netz steigt auch die Zahl der Nutzer und umgekehrt. Laut Internet Filter Reviews 2006 sind es inzwischen weltweit 72 Millionen User monatlich, die pornografische Seiten besuchen. Der globale Umsatz der Pornografie-Branche soll 2006 97 Milliarden US-Dollar betragen haben. Im Namen des Profits wird das ehemals heimliche Hobby gesellschaftsfähig.
Pornosurfen im Internet halten die meisten Männer – zumindest unter sich – für eine harmlose Ablenkung, der auch gern am Arbeitsplatz nachgegangen wird. 70 Prozent des Internet- "Porntraffic" fällt werktags in die Zeit zwischen 9 und 17 Uhr. Links zu kostenlosen Sexseiten werden im Freundes- und Kollegenkreis weiter gereicht, so wie andere Schnäppchentipps auch. Niemand kann sagen, wie viele dieser Millionen Sexsurfer schon abhängig sind, oder auf dem Weg in die Sucht.
Aber alles, was man über die Risiken des Pornokonsums im Internet herausgefunden hat, weist erschreckend klar in eine Richtung: Pornos im Netz sind perverser und gewalttätiger als Pornos, die über andere Vertriebswege zu haben sind. Im Netz gibt es keinerlei Kontrolle oder Zensur. Das Angebot steigt mit der Nachfrage, jeden Tag entstehen 266 neue Porno-Webseiten. Die Wachstumszahlen verselbstständigen sich mit jedem Dauer-User, denn wer erst mal regelmäßig nach Pornos surft, braucht immer mehr und immer krasseres Material. "Allein die Fülle des Angebots fördert einen allgemeinen Abstumpfungs- prozess", erklärt Andreas Hill, Oberarzt am Institut für Sexual- forschung und Forensische Psychiatrie an der Universitätsklinik Eppendorf. Gerade bei süchtig verlaufenden Karrieren reizt manchmal nur noch das Spiel mit dem Verbotenen. "Wenn man 500 mal einen 'normalen' Akt gesehen hat, kann es sich so entwickeln, dass man bei immer devianteren Fantasien landet", erläutert Hill, "zum Beispiel bei Kindern und Tieren." Das bedrohliche Potential dieser Entwicklung liegt im Detail: Denn auch Patienten, die vorher keinerlei pädophile Interessen hatten, berichten den Sexual- forschern von ihren pädosexuellen Fantasien.
Der Trend ließ sich in einer Studie nachweisen: Ein Viertel von bis dato unauffälligen Personen zeigt bei der Betrachtung von Kinderpornos Erregung. "Auf der Suche nach weiteren Stimuli können die irgendwann auf den Lolita-Seiten landen und bleiben da hängen", sagt Hill, "Das sind Personen, die wären früher nie im Leben in eine Videothek gegangen, um sich Kinderpornografie zu beschaffen." Der Prozess kann in einzelnen Fällen noch weiter gehen, weiß Hill zu berichten, denn "wenn man viele Kinder- pornos konsumiert, wird die Entstehung dieser Bilder ausge- blendet. Und das steigert das Risiko, das solche Situationen auch real ausgelebt werden."
Oberstaatsanwalt Vogt hält beispielsweise Teilbereiche der virtuellen Plattform "Second Life" für eine Art Päderasten- Trainingscamp: "Besuchen Sie dort mal einen Kinderspielplatz oder das 'Fairytale Wonderland' – was da los ist", erklärt Vogt. "Da können Pädophile jederzeit kindliche Avatare treffen. Potenzielle Täter können sich hier Handlungsmuster aneignen, die bei einem Übergriff in der Realität vielleicht tatsächlich funktionieren."
Allein durch die Unbegrenztheit des Angebots erweitert das Internet automatisch den Kreis pädophiler User. Und sie werden immer jünger: 14- bis 18-jährige Jugendliche verbreiten Kinder- pornos und tauchen plötzlich als eigene Größe in den Kriminalstatistiken auf. Noch vor zehn Jahren gab es, wenn überhaupt, nur Einzelfälle aus dieser Altersgruppe. Eine Studie aus Island offenbart, dass dort 96 Prozent der 14- bis 18-jährigen Pornos konsumieren. In den USA sind es 42 Prozent der Zehn- (!) bis 17-jährigen.
Was die virtuelle Pornowelt bei Heranwachsenden anrichtet, ist bis heute nicht annähernd erforscht. Und auch für Sexualforscher Hill steht fest: "Je früher der Kontakt mit Hardcore- oder Gewaltpornos stattfindet, desto prägender ist der Einfluss in Bezug auf das Frauenbild."
"All diese Kinder sehen Bilder, die weit über das hinausgehen, was man noch in den 80ern im Playboy zu sehen bekam. Und wir haben keine Ahnung, was in den Köpfen dieser Kinder passiert", erklärt Hill. Fest steht, dass Hardcore- und Gewaltpornografie die Aggressionen steigert und die Mitleidensfähigkeit sinkt. "In Zukunft", meint Hill, "sollten wir unsere Kinder nicht mehr fragen: 'Wie war es heute in der Schule', sondern: 'Wie war es heute im Internet'?"
Zum Weiterlesen:
Doppelinterview mit einem Online-Sexsüchtigen und seiner Frau (3/2008)