Coole Tipps zum Kotzen

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Um ihre Religion zu praktizieren, braucht sie bloß eines: ihren Internetanschluss. Erst online trifft Marie ihre Gemeinde. Die besteht aus vielen jungen Frauen, die an dasselbe glauben wie sie. An eine Göttin, deren Gesetze tödlich sind und deren Gefolgschaft inzwischen Tausende junger Frauen weltweit umfasst. Sie heißt Anorexia nervosa. Kein passender Name für eine Göttin. Klingt irgendwie zu medizinisch, nicht mystisch genug. Ihre Anhängerinnen nennen sie deshalb Ana.

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Für Mediziner ist Ana bloß die Abkürzung von Anorexia nervosa und das ist schlicht der Fachbegriff für Magersucht, eine tödliche Krankheit. Für Marie ist Ana eine Göttin, die Anführerin der Hungerreligion, der sie angehört. Und die Gemeinde wächst. Nach Schätzungen der Ärztekammer Niedersachsen leiden allein in Deutschland rund 220.000 junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren an Magersucht oder Bulimie. Andere Studien gehen von bis zu einer Million Erkrankter aus, 95 Prozent sind weiblich.

Häufig ist die Krankheit bloß Folge einer Diät, die sich verselbstständigt hat. Der Körper war plötzlich so leicht, die Mädchen in der Schule waren freundlicher, die Jungs zeigten Interesse und Mama war endlich mal stolz. So war es bei Marie. Ihre frühe Pubertät über war sie pummelig, dann fing sie an mit Sport und hörte auf zu essen. Erst hatte sie für ihr Hungern keinen Namen – bis sie im Internet auf die Pro-Ana-Bewegung stieß. Eine Religion mit Zukunft.

Pro Anas sind Magersüchtige, die ihre Krankheit als etwas Positives begreifen. Sie streben einen perfekten Körper an, der so dünn ist, dass er kaum mehr die Kraft für Herzschläge hat. „Ana till the End“, lautet ihr Ziel – Ana bis zum Tod. Auf dem Weg dahin unterstützen sich die Pro-Anas, immer weniger zu essen, geben sich Tipps zum richtigen Kotzen oder ordern in Sammelbestellungen verbotene Diätpillen aus den USA – das alles in ihren passwortgeschützten Internetforen.

Hier hat Göttin Ana leichtes Spiel. Das Internet ist ihr Reich. In Form von zehn Geboten und eines Glaubensbekenntnisses – beides haben Anhänger der Krankheit formuliert und ins Internet gestellt – wird dort Anas Wille verbreitet. So wird das Netz zu einer wahren Brutstätte für Magersucht, Bulimie und Fresssucht. Hier findet plötzlich jeder seine Gemeinde. Noch vor drei Jahren gab es im deutschsprachigen Internet etwa ein halbes Dutzend Pro-Ana-Gruppen, inzwischen sind es beinahe 50.

In den USA sind Pro-Ana-Seiten längst keine Geheimforen mehr wie hier in Deutschland. Oft sind nicht mal Registrierungen nötig, jeder kann direkt mitreden. Eine Studie unter den erkrankten Mädchen des Lucile Packard Kinderkrankenhauses der Universität Stanford ergab, dass 40 Prozent von ihnen Mitglieder in einem Pro-Ana-Forum waren, bevor sie eingeliefert wurden. US-Experten wie die Leiterin einer Kinderklinik für Essstörungen in Houston, Carmen Mikhail, sind sich sicher, dass das Internet die Ausbreitung fördert und erleichtert.

So werden die Foren auch in Deutschland immer spezieller, sind noch individueller abgestimmt auf die Probleme der Mädchen. „Blacksouls“ ist ein Forum für junge Mütter mit Bulimie: „Wollt ihr, dass eure Kinder auch Bulimie bekommen?“, fragt dort ein Mitglied namens „Sternenmama“ (alle Pseudonyme geändert). Einige Mitglieder der Gemeinde bejahen. Es gibt auch Foren für magersüchtige Singles; Mädchen, die hungern und sich zudem mit Rasierklingen zwangsartig die Haut aufschlitzen oder Foren nur für männliche Anas – die werden zwar mehr, sind bisher mit einem Zwanzigstel der insgesamt Erkrankten aber immer noch eine Minderheit. Es gibt inzwischen Studentinnenverbindungen, die einen Body-Mass-Index (BMI) unter 20 zur Voraussetzung für die Aufnahme machen.

Marie ist 18 Jahre alt und Mitglied in dem Forum „Glaskinder“. Dort schreibt sie unter einem Pseudonym, das sie nicht verraten möchte. Der Name ist eine Anlehnung an das größte deutsche Pro-Ana-Forum, das inzwischen dicht gemacht hat, weil es zu bekannt geworden war und nicht mehr nur Mädchen, sondern auch Journalisten danach suchten: die Spiegelkinder. Auch Marie war vor drei Jahren – mit 15! – dort mal für einige Wochen Mitglied, bis sie rausgeworfen wurde, weil sie sich geweigert hatte, im Forum über ihre Kindheit, die Vergewaltigungen durch ihren Stiefvater und die Prügel von ihrer Mutter zu berichten. „Damals konnte ich das halt noch nicht“, schreibt sie in einem Chatprogramm.

Telefonieren oder sich gar im echten Leben treffen, das will die 18-Jährige nicht. Warum sie überhaupt hilft und für diesen Artikel Einblicke ins Forumsleben gewährt? Sie weiß es nicht genau. Es ist ein bisschen von allem: Sie kokettiert mit der Krankheit und den krassen Regeln, die sie befolgt und ist stolz, dabei zu sein. Aber noch etwas anderes treibt sie um: Sie hat neulich eine Schwester im Geiste verloren. Ein Mädchen aus Spiegelkind-Zeiten ist gestorben, mit 19, an Magersucht.

Das Mädchen nannte sich „Mondlicht“. Immer lag es im forumsinternen Wettbewerb um den niedrigsten BMI ungeschlagen vorn. Sie war 1,78 Meter groß und wog 42 Kilogramm. Ihr BMI: 13,26. Medizinisch gesehen war „Mondlicht“ schon vor drei Jahren eine Todeskandidatin. Ab einem BMI von 18 beginnt man von Untergewicht zu sprechen, spätestens ab einem BMI von 15 wird es lebensgefährlich. Und selbst für die, die sich behandeln lassen, sind die Heilungschancen gering. Eine Studie der Universität Heidelberg hat ergeben, dass nur die Hälfte der an Magersucht erkrankten Menschen vollständig geheilt werden kann.

Doch von der Ana-Gemeinde gab es immer Anerkennung. „Wow, tolles Gewicht“, lobte ein anderes Mitglied. Nur „Mondlicht“ selbst war noch nicht zufrieden. Sie klagte. Wenn sie morgens nach dem Aufstehen vor ihren ovalen Spiegel trete, der über Seelenheil oder Todessehnsucht entscheidet, dann zittere sie immer vor Anspannung. Meistens packe sie letzteres Gefühl. Sie sehe nur: Fett! Für den Moment helfe ihr nur ein Trick: Sie stelle sich seitlich vor den Spiegel, auf die Zehenspitzen, strecke die Arme nach oben und lasse den Oberkörper leicht nach hinten abknicken. „Ich genieße diesen Anblick ein paar Sekunden lang und begebe mich dann resigniert wieder in meine Normalposition. Mein Ziel ist es, in einer normalen Position genauso auszusehen wie in der gestreckten – mit all diesen Knochen und Rippen und dem nach innen gewölbten Bauch“, schrieb sie damals. Jetzt ist sie tot.

Sie hatte im Forum den Bezug zur Realität verloren. Göttin Ana macht das leicht. Die Anonymität des Internets wird hier missbraucht, um eine Scheinwelt zu erschaffen, gar eine Scheinreligion. Die Mädchen verlieren sich darin. „Sie schaukeln sich gegenseitig hoch, jede will die Dünnste sein“, warnt Jan Nedoschill. Er ist Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Erlangen und Gründer des Internetforums „Hungrig-Online“, das virtuell Hilfestellungen aus der Magersucht bietet. Eine goldene Seite der Medaille. Er und seine MitarbeiterInnen erreichen online Mädchen, die noch nicht bereit sind für eine richtige Therapie.

Mädchen wie Marie, die immer mal wieder Angst kriegt, wenn sie von Einweisungen in Kliniken oder gar Todesfällen in der Gemeinde erfährt. Obwohl es nach den Gesetzen der Göttin Ana ja erklärtes Ziel ist, dünn zu sterben, ist ihr das nun doch irgendwie zu endgültig. Aber auch nicht abschreckend genug, um aufzuhören.

So ist es bei allen. Sie verlieren Freundinnen auf dem Weg, aber sie gehen weiter. Die Gemeinschaft motiviert sie. Auch wenn sie mal drauf und dran waren, ihren Glauben zu verlieren, gibt ihnen die Gemeinde wieder Kraft. In der Rubrik „Thinspiration“, einem Kunstwort, dass sich aus den englischen Wörtern für dünn und Inspiration zusammen setzt, diskutieren die Mädchen über tolle Körper. „Trauerfee“ schwärmt von Kate Moss, dem Dauervorbild. „Sie sieht so fertig und zerbrechlich aus“, schreibt das Mädchen. Ein Kompliment unter den Anas. Gesund ist hier ein Synonym für fett und absolut nicht erstrebenswert.

Ein weiteres Vorbild ist Nadja Abdel Farag, über die in den Ana-Foren getuschelt wird, sie sei Mitglied in dem Pro-Ana-Forum „Seelenkinder“. Ihre aktuelle Figur, die es ermöglicht, am Unterarm zwischen Elle und Speiche zu unterscheiden, ist das erklärte Ziel der Mädchen.

Auf dem Weg dahin ist jedes Mittel recht. Zwar sind die meisten der etwa 50 Mädchen bei den „Glaskindern“ Anas, aber Fressattacken und anschließendes Erbrechen gehören meist doch dazu. Mischformen von Magersucht und Bulimie sind typisch. „Richtig Kotzen“ ist deshalb auch ein großes Thema im Forum.

Marie kennt sich da aus, sie leitet das Online-Seminar. Ihr Schichtungsprinzip funktioniert so: Zuerst isst man etwas kalorienarmes, aber schwer verdaubares wie Salat, der bildet die Grundlage. Danach kann der Fressanfall, im Fachjargon der Mädchen schlicht FA genannt, genossen werden: Schokolade, Pizza, Weingummi, Tiramisu – alles, was man sich tagelang verboten hat. Durch die Grundlage bleiben die Kalorienbomben eine Weile unverdaut und können später erbrochen werden. „Natürlich macht es keinen Spaß, sich dann aufzuraffen, wenn man grad den schönen Geschmack von Schokolade im Mund hat“, schreibt Marie in ihrem Beitrag. Doch der anschließende Gang zur Toilette ist ein Muss. Auch die Stellungen werden ausgetauscht: Schließlich ist das herkömmliche Knien vor der Toilettenschüssel etwas für Anfänger. Da haben die „Profis“ inzwischen noch ganz andere, bedeutend effektivere Techniken entwickelt.

Kate Moss, die nicht mehr isst, aber dafür kokst, ging aus ihrer Krankheit noch berühmter und begehrter hervor. Mary-Kate Olsen zierte, solange sie essgestört war, wöchentlich die Titelseiten der „Intouch“. Die Liste der jungen Frauen, die erst dann richtig beachtet wurden, als sie sterbensdünn waren, ist lang: Keira Knightley gehört dazu, ebenso wie Nicole Ritchie oder Lindsay Lohan. Ein Hilfeschrei der Stars wirkt, die Medien berichten, die Eltern horchen auf und die Welt macht sich Sorgen.

Die Anas wünschen sich das auch. Aber für ihre Körper gibt es kaum Aufmerksamkeit, höchstens mal ein Lob von der Klassenkameradin für die dünnen Oberschenkel. Das war’s. Ihre Eltern bekommen meist gar nicht mit, wenn die eigenen Kinder am Tag bloß einen Apfel, eine halbe Gurke und ein Knäckebrot essen. Auch die Geräusche von der Toilette oder die herausstechenden Beckenknochen scheinen zu Hause nie aufzufallen. Die Hilfeschreie gehen ins Leere.

Nicht selten sind die Zustände in der Familie die Ursache für die Erkrankung. Die Lebenswege der Mädchen ähneln sich: Scheidung der Eltern, Missbrauch, Vergewaltigung und Vernachlässigung nehmen einen großen Gesprächsraum ein. Rund die Hälfte der Mädchen hat einen oder mehrere Selbstmordversuche hinter sich. Blutig geritzte Unterarme und hämatomübersäte Oberschenkel scheinen Pflicht. Im Aufnahmebogen des Pro-Ana-Forums „Bittersweet Symphony“ müssen die Kandidatinnen angeben, welche psychischen Störungen sie haben, ob sie suizidgefährdet sind und warum.

Nur wer ganz unten ist, ist bereit für die Hungerreligion und bereit, Anas zehn Gebote zu befolgen. Sie bieten die Orientierung, die die jungen Frauen brauchen, um ihr zerrüttetes Leben zu ordnen. Ana gibt ihnen einen Lebenssinn – und die Kontrolle. Die Essstörung ist oft die einzige verlässliche Größe im Leben der Betroffenen. „Wenn der soziale Halt wegbricht, dann wird die Krankheit zum Lebensinhalt“, sagt der Jugendforscher Klaus Hurrelmann. Seine Shell-Jugendstudie erscheint regelmäßig seit 1952 und gilt als Basiswerk der Jugendforschung in Deutschland. Oft hätten die betroffenen Mädchen in ihrem Leben die Erfahrung machen müssen, einer Sache ohnmächtig gegenüberzustehen, sagt der Sozialforscher. So konnten sie beispielsweise die Trennung der Eltern nicht verhindern. „Diese passive Rolle wollen sie loswerden, sie suchen nach etwas, das sie beherrschen, eine Sache, die sie aktiv lenken können.“ Und stoßen auf die Essstörung. Ihren eigenen Körper können sie kontrollieren.

Im Forum der „Glaskinder“ schreibt Marie: „Ich denke schon, dass ich unabhängig bin, ich lass mir nichts diktieren.“ Und meint das auch tatsächlich ernst. Die anderen „Glaskinder“ teilen diese Definition von Emanzipation. „Ja, wir sind stark und beherrscht“, schreibt ein anderes Mitglied mit einem BMI von 15,6 (die meisten Mädchen geben den Index als Zusatz zu ihrem Nickname an, der soll über sie aussagen, wie stark sie sind – bzw. wie schwach).

Die Weiblichkeit haben sie sich längst weggehungert. Und die Emanzipation ebenso. Mädchen, die wie die Anas bei einer Größe von 1,70 nur noch 45 Kilogramm wiegen, sind kaum noch stark, belastbar und durchsetzungsfähig. Höchstwahrscheinlich sind sie eher blass, schwach, zerbrechlich und haben sich eine eigene Meinung längst abgewöhnt. Das Fasten fordert so viel Energie von ihnen – für Bildung und Mitgefühl für andere bleibt da nichts übrig. Viele gehen nicht mehr zur Uni oder Schule, sie sind einfach zu schwach. Die Anas haben sich zurück in die Rolle des schwachen Geschlechts gehungert.

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