Die Ding-Dynastie

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Dass sie schön ist, erzählen ihr alle. Der Typ, der sie aus Weißrussland nach New York verfrachtet hat, sowieso, die von ihrer Agentur und auch die bei den Castings für die Modenschauen. „You are very beautiful“, „I love your legs“, was auch immer. Sie stand dann immer da, so scheu und fast ängstlich, dass sie sie sofort gernhatten, die sieben, acht Leute hinter den Tischen, hat leise „Thank you“ gesagt, gelächelt, ist artig einmal hin- und hergegangen („Would you please walk!“). Am Ende hat das alles wenig gebracht. Am Ende landete ihr Foto meist auf dem zweiten Stapel: „maybe“. Am Ende war vieles „vielleicht“, wenig sicher.

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New York lief ganz gut für sie, Mailand schon weniger, und jetzt, in Paris, geht’s gar nicht. Morgen fliegt sie wieder ab.

Viel zu früh, es ist die letzte Februarwoche, die Prêt-à-porter-Schauen laufen sich heiß, aber sie hierzulassen kostet Geld und lohnt sich offenbar nicht. „Sie soll noch ein bisschen Zeit mit der Mutter verbringen“, sagt ihre Agentin, was nett klingt, aber nicht die Wahrheit sein kann. Sie ist noch ein Niemand, Nettigkeiten sind ihr egal. Am Nachmittag wird sie noch den Fotografenkünstlern Mario Testino und Paolo Roversi gezeigt, alles wäre gut, würde nur einer von beiden sie buchen.

Veronika Antsipava, 16 Jahre alt, aus Witebsk, Weißrussland. Blass und dünn und zart, sie sieht aus wie ein Mädchen, das ein paar Vitamine gebrauchen könnte. „Ich will ein Star werden“ ist einer der wenigen Sätze, die Veronika auf Englisch kann. Sie hat das Zeug dazu, das finden alle, und sie versucht schon mal, sich wie einer zu benehmen: Schwarze Lack-High- Heels, schwarze Shorts, schwarzer Mantel, Prada-Brille im Haar, einen riesigen Starbucks-Pappbecher in der Hand, so kommt sie an diesem kalten, sonnigen Morgen in ihre Pariser Agentur in der Rue Duphot. Ein klassizistisches Haus, ein hoher, heller Raum, ein paar Leute, die in ihre Headsets hineinreden, um Models unterzubringen, Termine zu koordinieren.

Veronika läuft geschäftig herum, lässt sich die neuen Fotos von sich zeigen und was im Internet auf style.com von ihr zu sehen ist. Richtig Zeit hat keiner für sie.

Ihre Geschichte geht wie viele Geschichten: Ein Alex (Alex Heifitz, ein dunkelhäutiger Kleingewachsener mit Bartschatten, Mitte 40, aus Usbekistan – ein Mann, dem hier in der Agentur keiner so recht glaubt, dass er Zahnarzt in New York ist, was aber tatsächlich stimmt, und der nebenbei in Russland und der Ukraine nach Models sucht), Alex also hat sie in einer Modelschule entdeckt. Da war Veronika 13, zu jung für Europa und die USA, aber nicht für Japan. In den Ferien also Foto shootings in Tokio, sie war da „wahnsinnig erfolgreich“; und dann: Am 9. Oktober 2006 ist sie 16 geworden, zwei Tage später saß sie schon im Flugzeug nach New York.

Alex hat sie bei DNA untergebracht, einer der weltweit angesehensten Modelagenturen. Er kassiert zehn Prozent ihrer Gagen, er ist jetzt mit ihr (und seinen anderen Models) hier in Paris, er war mit ihr in Mailand, er steht neben ihr, er redet für sie. Veronika wirkt unsicher. Sie ist 16. Sie wohnt mit vier anderen Alex-Mädchen in einem seiner Apartments in Brighton Beach, dem Russenviertel von New York, wo Männer auch im Sommer mit dicken Lederjacken und Wollmützen sitzen, Wodka trinken und von der Newa träumen. Jeden Morgen steht sie um sieben auf, geht für zwei Stunden ins Fitnessstudio, dann Frühstück, Castings, Shootings, Shows. Keine Partys. Das sind Alex’ Regeln. Zur Schule geht Veronika nicht mehr. Was sie verdient, weiß er, nicht sie.

Ihre Mutter Janna kam mit in die USA, aber sie will in ein paar Tagen wieder zurück nach Hause, sie vermisst ihre Familie. Was Veronika aus Weißrussland mitgebracht hat, ist ihr Teddy („natürlich“, sagt Alex dazu), und sie träumt von einem Mercedes SLK. Das war’s. „Embrasse-moi“, sagt sie immer wieder zu ihrer Agentin, genießt den Brocken Französisch, mit dem sie sich noch ein bisschen mehr wie ein Star vorkommt. Die lacht: „Das ist das Einzige, was sie sagen können.“ Und umarmt das Mädchen.

Veronika Antsipava, blass und zart, ist eine von Gott weiß wie vielen Mädchen, die derzeit ununterbrochen in den Kreislauf der Modelindustrie gepumpt werden, die Tag für Tag durch die Gegend hetzen, Go-See, Go-See, Go-See, wie die Vorstellungstermine heißen, immer die schwere Plastikmappe mit ihren Fotos in den Armen, die sich bei Castings anstellen, die Fotografen hergezeigt und von denen Polaroids durch die Gegend geschickt werden. „Wir haben da eine, guck dir die mal an.“ Veronika ist eine aus dem Mädchenheer, die es vielleicht schafft und groß wird. Eine von denen, die vielleicht auch nicht.

Eine von denen, die einen 40-Milliarden-Dollar-Markt anheizt (grob geschätzt, die Branche ist verschwiegen). Der Markt wächst unaufhörlich, die Rechnung heißt Roulette: Das Mädchen, mit dem man Millionen verdienen kann, kann überall und jede sein, und das Rad dreht sich schneller als jemals zuvor. Die Branche giert nach dem neuen Gesicht. „Gierig“ ist das Wort, das jeder irgendwann sagt, mit dem man spricht, und jeder wirft mit irgendwelchen Namen um sich, von einer, die er irgendwo gefunden hat, „very beautiful“.

Wenn ein Mädchen Glück hat, wird es auf den Schauen entdeckt, von einem der Fotografen oder einem der Castingagenten. Wie lange es very beautiful bleibt? Models hielten früher acht bis zehn Jahre, heute oft nur ein, zwei Saisons. Mit 14, 15 anzufangen ist normal, mit 20-irgendwas ist sowieso Schluss. Die Mädchen haben nur noch einen Vornamen und bestenfalls noch den Anfangsbuchstaben ihres Nachnamens, Lucie P., Anna K., Tania D. Designer, so heißt es, wollen keine Supermodels mehr, die am Ende mehr beachtet werden als das Kleid, das sie tragen.

Es gibt eine Art Topmodel, das sind die, die ohne Mappe in der Hand zum Casting kommen, die meinen, sie würden sowieso genommen (was dann oft doch nicht der Fall ist) – aber Hand hoch: Wer kennt Emina Cunmulaj, Diana Dondoe oder Irina Lazareanu? Und das sind Namen, die im Moment angesagt sind. Sie sind keine vier Jahre im Geschäft, aber schon wieder kurz vorm Abtreten, die Gesichter oft müde, abgespannt und abgeklärt. Draußen auf dem Flur warten frische, unverbrauchte, an denen noch keiner dran war, bei denen man vielleicht der Erste ist.

Tausende von Modelscouts wie Alex Heifitz streifen durch die Welt wie Grizzlys, die wissen, wo die Lachse ziehen, immer dorthin, wo sie das finden, was sich gerade am besten verkauft. Ein bisschen Brasilien, eine neue Gisele Bündchen wäre schließlich auch nicht schlecht; ein bisschen Nordchina, weil es da große Mädchen gibt und die Firmen gern immer auch eine Asiatin dabei haben; vor allem aber Russland, Balkan und Osteuropa. Jeder von ihnen erzählt einem, dass er auch mal „ganz kurz“ mit der Kurkova oder Vodianova zu tun hatte oder mit Snejana oder welcher auch immer. Der Ost-Look ist noch immer der gefragteste; auf den Modenschauen Anfang des Jahres hieß es nur -ova, -ova, -ova. Kaum noch eine Chance für andere, kaum noch eine Chance für die Deutschen, es sei denn, sie sehen ein bisschen -ova aus.

Die Booker und Castingagenten in Mailand und Paris nennen es inzwischen „Tsunami“ und „Invasion“, und keiner in der Branche sieht ein Ende. Der „Körperbau“. Die Leute hinter den Tischen reden von den Mädchen davor wie der Dozent im Orthopädie-Seminar über das Skelett neben sich. Der Körperbau der Ost-Mädchen also ist so, wie das Kartell aus Designern, Marketingchefs, Fotografen und Art-Direktoren es im Moment haben will. Nicht mehr das Gesunde, das Frische, das Kräftige der Neunziger, sondern: groß und schmal, „dünne Knochen“, hohe Wangen, dieses Durchscheinende, Kindliche, Unreife, Morbide, Ausgezehrte, Zerbrechliche – was manch eine, die mithalten will, an die Grenze zur Magersucht treibt, manche da- rüber hinaus. Größe 34.

Schön sind diese Mädchen sowieso, mit Zügen, die anecken, die bisweilen sogar ein bisschen ins Hässliche gehen. Und dann sind sie, die aus der Armut kommen, auch noch bereit, hart zu arbeiten, für 100 oder 50 Dollar Taschengeld in der Woche, beschweren sich nicht, sitzen nicht in New York und schmeißen vor Heimweh nach Mama alles hin. Oder stellen sich an, nur weil ein paar Kakerlaken durchs Apartment laufen.

25.000 Agenturen spielen inzwischen mit, dauernd kommen neue dazu, die meisten machen nach sechs Monaten wieder zu. Früher gab es eigentlich nur Elite und Ford, heute sind Agenturen wie IMG, DNA, Next oder 1-Management an ihnen vorbeigezogen. Etwa 80 Agenturen sind richtig wichtig, sie liefern sich einen brutalen Kampf. Das Zentrum ist New York.

IMG etwa, unter dem Management des Sportmarketing-Mannes Chuck Bennett von Null zum Marktführer aufgestiegen (Gisele Bündchen, Kate Moss, Liya Kebede), wird nachgesagt, nur ins Geschäft gekommen zu sein, indem es der Konkurrenz Mädchen abgejagt hat – es soll ihnen weniger Kommission abknöpfen. Alle kämpfen um Buchungen, um Preise.

Der Markt wächst zwar: Die Firmen investieren wieder mehr in Kampagnen, auch Städte wie Singapur, Barcelona, São Paulo oder Melbourne haben jetzt Modenschauen; IMG plant eine Fashion Week in Berlin, die Branche visiert jetzt den Mega-Markt China an, und es werden mehr Kataloge und mehr Online-Werbung produziert, das wenig prestigeträchtige Brot- und Buttergeschäft der Agenturen. Aber: Die Krise der Luxusindustrie hat Spuren hinterlassen, und es gibt diese gigantische Model-Reservearmee – die Kunden bestimmen die Preise. „Käufermarkt“, würden Ökonomen sagen.

Am High End der High Fashion, bei den Pradas und Dolce & Gabbanas, da, wo sie alle hinwollen, ist es eng geworden. Das Unter-10.000-Dollar-am-Tag-stehe-ich-nicht-auf-Gehabe war gestern. Viele Cover und Werbeauftritte gehen an Hollywood- Stars; die vier Millionen Dollar, die Uma Thurman von Louis Vuitton bekommen haben soll, hätten die Agenturen auch gern gehabt. Claudia Schiffer und ihre Kolleginnen, deren Ära Ende der Neunziger auslief, haben früher bis zu acht Millionen Dollar im Jahr verdient, und sie kassieren auch heute noch um die 150.000 Dollar, wenn sie mal auftreten. Eine Naomi Campbell verdient eine Million Dollar, wenn sie für die Faser-Messe in Paris zwei Fotoshootings macht und eine Pressekonferenz.

In diese Liga kommt heute kaum noch eine, und es gibt jetzt die ersten, die gern zurück zum Supermodel wollen. Die Masse hoch, die Margen runter, in Zeiten der Gesichterinflation bieten die Agenturen mehr Mädchen an als früher, dauernd tauschen sie ihr Sortiment aus. Zur New Economy am Modelmarkt trägt auch das Internet bei, das man nach Zigtausenden neuen Gesichtern durchforsten kann: Allein die Seite models.com, eine Art Bloomberg der Branche, hat jeden Monat 15.000 Einsendungen.
Die Agenturen schließen sich zusammen, jede hat feste Partner in Paris und Mailand, Konzerne entstehen. Und fast jeder hat inzwischen einen Investor im Hintergrund. Mit Elite Europa ist vor wenigen Monaten die erste Agentur an die Börse gegangen, die nächste dürfte IMG sein.

Es ist ein Business, in dem jeder von den entscheidenden Leuten jeden kennt, und zwar meist schon sehr lange, in dem jede Agentur so ihre Tische in Pariser Cafés hat, in dem der eine Agenturchef über die anderen sagt, sie seien alle klein, ehrgeizig und Womanizer, in dem meist Ex-Models und Ex-Fotoassistenten arbeiten, Menschen, die so wirken, als hätten sie schon alles gesehen. Es ist ein Business, das vorsichtig geworden ist nach dem Magersucht-Tod eines Models im vergangenen Jahr, wo alle mit kleinen Augen dastehen, verlegen, als hätte jemand plötzlich das Licht angemacht. Und es ist ein Business, in dem die Chefs der Branche unsichtbar sind. Von ihnen gibt es so gut wie keine Fotos und keine Interviews.

Das gilt erst recht für die Investoren, diese Männer über 60, diese Männer mit „deep pockets“. Anderswo könnten sie ihre Millionen lukrativer anlegen, das ganz große Geld ist mit Models nicht zu machen; Elite etwa setzte zu besten Zeiten 120 Millionen Dollar um und machte nur sechs Millionen Dollar Gewinn. Aber, auch das erzählt einem irgendwann jeder ungefragt: Diesen Männern gefällt es, in der Nähe von jungen, schönen Mädchen zu sein. Es fallen die Worte „Langeweile“, „gesicherter Nachschub“, „aufgefrischtes Sozialleben“. Ein Blick auf die Liste: Der Texaner Theodore Forstmann, sonst Aufkäufer und Sanierer maroder Firmen, hat sich die Modelsparte von IMG gekauft; der Immobilientycoon Eddie Trump vor ein paar Jahren für 7,8 Millionen Dollar Elite. Sein Namensvetter und Nichtverwandter Donald Trump ist schon seit 17 Jahren im Geschäft mit der kleinen Agentur Trump.

Horst-Dieter Esch, Deutschlands Baupleitier, ist Inhaber der sehr gut gehenden New Yorker Agentur Wilhemina. Einem Carlo Salvi, italienischer Pharma-Milliardär, der verschwiegenste von allen, gehören die Mailänder Woman, Mega Miami und Mega Brasilien, und er soll auch bei DNA eingestiegen sein. Ein australischer Autoverkäufer gönnt sich Central European Models, und auch ein Thierry Roussel, der Witwer der toten Tina Onassis, war mal dabei, hat es mit fünf Agenturen versucht, jetzt aber an einen Schweden verkauft. (…)

Es gibt vielleicht ein Dutzend Leute in der Branche, die Macht haben, die über Aufstieg und Fall eines Mädchens entscheiden. Die Chefin der amerikanischen Vogue, Anna Wintour, gehört dazu, sie machte Karolina Kurkova groß, entdeckte sie, als sie 16 war, und setzte sie mit 17 als Jüngste in der Vogue-Geschichte aufs Cover, gleich viermal. Natalia Vodianova geht auf das Konto von Franca Sozzani, der Vogue-Chefin in Italien. Dann natürlich: die Fotografen. Steven Meisel, Mario Testino, Craig McDean und ein paar andere, die den Markt für die Kampagnen unter sich ausmachen.

Und dann ist da jemand, den nur wenige kennen: Russell Marsh, genannt „das Auge“. Castingagent in London. Von ihm gibt es kein einziges Foto. Er arbeitet für alle Konzerne und Magazine. 100 Mappen schaut sich das Auge jeden Tag an, 3.000 Models lässt er im Jahr antanzen, 18.000 Gesichter hat er in der Datenbank. Wenn ein Marsh etwas an einem Mädchen findet, steigt sein Preis auf 5.000 Dollar. Dann geht’s los mit dem großen Geld: Ein gutes Mädchen kommt auf 150.000 im ersten Jahr, dann 250.000, dann 400.000. Es gibt vielleicht 200, die 600.000 bis eine Million Dollar machen. Die 45 Prozent, die die Agentur kassiert, schon rausgerechnet.

Wenn alles gut läuft, ist es leicht verdientes Geld. Wenn das Casting überstanden ist, dieses: „Die hat dicke Beine, bestimmt hat sie ein Drogenproblem“; wenn sie nicht mehr zu den 120 auf dem Flur gehören, sondern die sind, auf die es jetzt ankommt; wenn sie in Turnschuhen und Sweatshirt- Jacken, die Kapuzen über den Kopf, den iPod im Ohr und die neueste Tasche von dem und dem über der Schulter, morgens in die Maske kommen; wenn die Musik angeht und sie die Laufstege hinunterschreiten, wenn sie hofiert werden, wenn beim Shooting der persönliche Betreuer danebensteht und die Agentur fünfmal anruft, ob es ihnen gut geht – dann bekommt alles ein anderes Tempo, und man spürt den Reiz.

Wenn nicht – viel Geduld haben die Agenturen nicht. Ein Mädchen, das nichts verdient, kostet. Wohnung, Flüge, Handy, Testfotos fürs Buch, Fahrer, vielleicht müssen zu Anfang auch die Zähne gemacht und Klamotten gekauft werden. „Es gibt nur ein kleines Fenster, in dem Mädchen es schaffen können, in dem sie ihr Potenzial maximieren können“, sagt Ivan Bart, Headbooker bei IMG, auch einer der Einflussreichen, „das ist wie bei Spitzensportlern.“ Die anderen werden nach unten durchgereicht und können Kataloge machen. Und wenn eine „zickig“ ist und „eine schlechte Atmosphäre verbreitet“, die ist sowieso ganz schnell wieder raus, sagt Bart. Manche schaffen es an die Spitze und hören irgendwann mit Mitte 20 auf, sprechen drei Sprachen, haben vier Kreditkarten.

Und dann gibt es die, die immer wieder das Gleiche hören: „Toll. Wir melden uns bei dir.“ Die trotz allem glauben, dass sie das Zeug haben, eine neue Kate Moss zu werden, aber auch nach drei Jahren in New York noch nicht genug Geld für eine eigene Wohnung verdienen. Die in abgetretenen Stiefeln dastehen und denen man dann zum Abschied 20 Dollar in die Hand drückt für ein Taxi. Weil sie zu dünn angezogen sind und weil ihre Wochenkarte für die U-Bahn schon abgelaufen ist.

Moskau, ein Donnerstag Ende März, vier Uhr nachmittags, die Agentur Point. Während DNA-Chef Bonnouvrier in SoHo vom großen Ganzen redet, wird hier Nachschub produziert. Moskau ist der Umschlagplatz Nummer eins für Mädchen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, die von der Modelkarriere in New York träumen, und alles ist genau so, wie man sich das vorgestellt hat. Ein flacher Bau in einem Hinterhof, am Eingang eine Tafel: „Brauche zehn Mädchen mit langen Haaren, Größe egal. 120 Dollar auf die Hand“, hingeschmiert mit schwarzem Filzmarker.

Im Keller – der Weg führt vorbei an Titelseiten von Playboy und Wedding, an Werbefotos für Sony und Timotei – kämpfen drei Dutzend Mädchen beim Casting um einen Job für Prada. Später stellt sich heraus, dass es um eine Werbeaktion im Prado Café geht. „Danke, die Nächste.“ „Soll ich noch laufen?“ „Die Nächste, bitte.“ Während sich die Models im Halbkreis vor dem weißen Resopaltisch aufbauen, klingelt bei der einen das Handy, eine andere kaut laut Kaugummi.

Die Runde wird kleiner. „Das war’s.“ Der Kunde, ein Restaurantbesitzer, lässt sich am Ende nur noch gelangweilt Brust und Po zeigen, lässt die Haare nach hinten werfen und ein paar Schritte gehen.

Jelena Jermolajewa steht auch da und raucht Vogue Noire. Sie ist die Chefin von Point, der Nummer drei in Russland, seit 15 Jahren im Geschäft. Eine Frau Mitte 50, blond, raue Stimme, grellrot lackierte Fingernägel, Typ Puffmutter, diese Mischung aus herzlich und abgezockt. Sie spricht von „meinen Arbeitspferdchen“ und begutachet gerade ein Video mit neuen. Ihr Scout Tanja, 33 und Ex-Model, war bei einem Casting in der Provinzstadt Tula, die Mädchen tragen Badeanzüge.

„Nettes Gesicht, zu breite Hüfte.“ Es ist diese Welt der zugigen Kulturhäuser in der Provinz, in denen Modelschulen den Mädchen die ersten Schritte beibringen. Die Schönheitswettbewerbe in den Kleinstädten, wo der erste Preis, gern eine Waschmaschine, an die Geliebte des Sponsors geht. Große Schwierigkeiten, die Eltern der Nachwuchsmodels zu überreden, ihre Töchter trotz des miserablen Rufs der Branche nach Moskau ziehen zu lassen, hat Jermolajewa nicht. Auch wenn die Tochter erst 15 oder 16 ist. „Alle wissen doch: In Moskau gibt es Arbeit.“ Tanja hat schon den Koffer gepackt. Es geht nach Orenburg, Sibirien.

Alles ist soweit ganz nett, bis unser Fotograf auf die Idee kommt, ein paar Mädchen draußen vor dem Gebäude zu fotografieren. Da ist plötzlich Schluss. Zu sehr „Straßenstrich“.

Zu heikel. Wenn ein ehemaliger Agenturchef über Models in Moskau redet, hört sich das so an: „Moskaus Agenturen sind wie Bordelle.“ Es gehe nur am Rande darum, den Nachschub für die Laufstege im Westen heranzuziehen. In erster Linie würden die Agenturen Russlands Dekadenz mit „blutjungem Fleisch“ versorgen.

„Du erhältst einen Anruf: ‚Ich brauche zehn Mädchen für eine Fete auf Ibiza. Alle über 18. Ich will keinen Ärger mit der Polizei.‘ Du erstellst also eine Rechnung: Honorar pro Mädchen: 200 Dollar am Tag. Hotel mit Vollpension, Visum, Flughafentransfer, und noch eine Modenschau mit 50 Dollar für den Auftritt. Macht zusammen vielleicht 30.000 Dollar.“ Ausgefallene Wünsche wie ein nacktes Mädchen, das auf dem Restauranttisch mit Sushi und Koks bedeckt ist, würden extra berechnet. Auch Sex ist im Preis nicht unbedingt inbegriffen.

Anfang Januar wurde der russische Oligarch Michail Prochorow, laut Forbes-Liste 6,4 Milliarden Dollar schwer, im französischen Skiort Courchevel vorübergehend festgenommen. Er hatte 16 russische Models zu einer Neujahrssause im Privatjet einfliegen lassen. Die meisten der 150 Agenturen in Moskau bessern ihre Etats durch Vermittlerdienste auf. Die meisten Models machen mit. Nur eine von Hunderten schafft den Sprung, die meisten stranden in der Stadt, bei Minigagen von 50 Dollar für ein Coverfoto oder 100 Dollar auf der Russian Fashion Week.

Reiche Klienten, im Branchenjargon „Oligarchen“ und „Sponsoren“ genannt, können sich Mädchen wie aus einem Katalog bestellen: als Sexspielzeug, Lebensgefährtin, Nebenfrau. Die Agentur arrangiert die Dates, kassiert dafür 1.500 bis 3.000 Euro. Den Preis für Sex machen die Mädchen direkt aus, bezahlt wird gewöhnlich in Naturalien. Der ehemalige Agenturchef listet auf: BMW Coupé oder Audi TT, eine Wohnung im Zentrum von Moskau, Schmuck von Bulgari, die jüngste Kollektion von Moschino oder D&G, Urlaub auf Bora Bora, ein Schoßhündchen. (…)

Drei Wochen nachdem sie aus Paris abgeflogen ist, sitzt Veronika in New York im Burger Heaven und teilt sich mit Alex Heifitz einen Salat. Die Stimmung ist mäßig. Die Sache ist die: Testino und Roversi wollten sie beide nicht. Alex erzählt, dass sie aber mit Michael Thompson (Michael wer?) ein Shooting gemacht habe. Sie sagt leise und auf Russisch, sie sei „ein bisschen enttäuscht“, er übersetzt und erklärt, es sei eben nicht so einfach. Und: „Sie ist sehr schön, sie ist aber eben auch noch sehr jung.“ Aber eigentlich will Alex lieber von Anabela reden. Die hat er vor drei Monaten aufgetan. Sie ist 16 und aus Weißrussland.

Sie hat schon für Prada und Miu Miu gearbeitet. Aus der wird was. Ganz sicher vielleicht.

"Die Ding-Dynastie", Park Avenue, Mai 2007 (Mitarbeit: Jens Hartmann, Heiko Roloff)

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