Alice Schwarzer schreibt

Wie laut soll ich noch schreien?

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Alice Schwarzer: Frau Fehrer, Sie hatten gehofft, dass der von vielen als skandalös empfundene Freispruch der Angeklagten im "Mordfall Pascal" vom Bundesgerichtshof wieder aufgehoben würde. Doch der hat am 14. Januar 2009 die Freisprüche bestätigt und den Revisionsantrag des Staatsanwaltes abgelehnt. Begründung: Die "Beweisführung (ist) Sache des Tatrichters" und dieser habe keine "überspannten Anforderungen" an die Beweise gestellt. Sie waren persönlich in Karlsruhe an diesem Tag. Wie fühlen Sie sich jetzt?
Esther Fehrer: Wir alle sind erschöpft. Mein Pflegekind, dessen Aussagen ja im Zentrum des Prozesses standen. Meine eigenen vier Kinder. Mein Mann. Und ich. Ich habe lange gekämpft. Aber jetzt fühle ich mich absolut hilflos und ohnmächtig.

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Ihre stärkste Kritikerin ist die Gerichtsreporterin des Spiegel, Gisela Friedrichsen. Sie unterstellt Ihnen, Sie hätten Ihr Pflegekind, bewusst oder unbewusst, mit Ihren "suggestiven Fragen" zu falschen Anschuldigungen verleitet. Sie waren in den 148 Verhandlungstagen in Saarbrücken an quasi jedem Tag dabei und sprechen von einer "großen Kluft" zwischen dem, was Sie im Prozess wahrgenommen haben und dem, was manche Medien berichtet haben.
Frau Friedrichsen war ja nicht oft da, vielleicht an knapp 30 Tagen von den 148. Aber wenn sie da war, dann veränderte sich die Atmosphäre im Gericht spürbar. Die Anwälte – allen voran Herr Teusch, der Anwalt der Hauptangeklagten Christa W., stellten noch provokantere Anträge und putzten die Zeugen noch härter runter als sonst, vor allem die Frauen. Die wurden gerne gefragt, ob sie nicht vielleicht selber "schlimme Erlebnisse" in ihrer Kindheit gehabt hätten und darum jetzt ... Die meisten Zeuginnen sind dann prompt noch unsicherer geworden, als sie eh schon waren.

Wenn Sie sagen: "Die Anwälte putzten die Zeugen runter" – meinen Sie damit, dass sie die Glaubwürdigkeit der Aussagen überprüften und hinterfragten?
Nein, viel mehr! Manche Anwälte machten sich regelrecht zu Komplizen der Angeklagten. Vor allem Herr Teusch. Er tauschte ganz offen vielsagende Blicke und Informationen mit Frau Friedrichsen. Für mich als Zeugin entstand der Eindruck: Hier geht es gar nicht darum, die Wahrheit herauszufinden. Nicht die Glaubwürdigkeit unserer Aussagen wurde hinterfragt, sondern unsere Glaubwürdigkeit als Personen. Da wurden die Opfer zu Tätern gemacht.

Hatten Sie den Eindruck, dass man auch mit Ihnen so verfuhr?
Vor allem mit mir, weil ich ja mit den Aussagen meines Pflegekindes Kevin die Hauptbelastungszeugin war. Ich musste vor Gericht auf die Fragen des Richters zur Person antworten. Und da kam dann zur Sprache, dass ich als Kind in einem Pflegeheim war und meine Mutter nicht so oft gekommen ist, wie ich es mir gewünscht hätte. Von da zu der Unterstellung, dass ich mich nun sozusagen durch mein Pflegekind rächen will, war es nicht weit. Frau Friedrichsen ging so weit, von mir als „traumatisierter Pflegemutter“ zu reden. Dabei bin ich zum Glück nie sexuell missbraucht worden. Und ich habe auch nichts abzurechnen. Und ich bin auch nicht naiv. Ich bin ja examinierte Kinderkrankenschwester und habe mich bei der Betreuung von Kevin von Anfang an professionell beraten lassen. Ich bin in den Prozess nicht blauäugig reingegangen. Auch habe ich immer einen gewissen professionellen Abstand gehabt, Kevin ist ja nicht mein leibliches Kind, und er ist mein fünftes Pflegekind.

Frau Friedrichsen hat wiederholt über den Prozess berichtet und jetzt auch noch ein Buch veröffentlicht, in dem es in weiten Passagen über Sie als Person und um Kevin geht. Hat sie eigentlich jemals mit Ihnen gesprochen?
Nein, nie. Sie hat noch nie auch nur versucht, mit mir zu sprechen. Sie hat noch nicht mal jemals Augenkontakt mit mir gehabt… Trotzdem hat sie über mich geschrieben, als würde sie mich ganz genau kennen. Sie hat sogar meine angeblichen Gedanken und Gefühle formuliert. Sie hat zum Beispiel behauptet, ich hätte Kevins Verhalten als „ekelig“ empfunden. Frau Friedrichsen war im Gerichtssaal öfter auch mal damit beschäftigt, ihre Lippen zu schminken und schien im Prozess überhaupt niemanden wahrzunehmen, sondern nur mit aller Macht ihre Version zu verfolgen. Und die lautete: Die Zeugenaussagen sind falsch, die vielfach wiederholten Geständnisse sind abgepresst worden – die Angeklagten sind unschuldig. In der Auffassung, dass nicht die Angeklagten, sondern wir Zeugen unglaubwürdig seien, war Frau Friedrichsen von Anbeginn an die treibende Kraft. Ich hatte den Eindruck, dass das auch den Richter einschüchterte. Und immer hat sie alles so dargestellt, als wäre sie dabei gewesen. Dabei war sie am weitesten weg von allen.

Sie hatten mit dem Freispruch der Angeklagten zunächst nicht gerechnet.
Nicht nur ich nicht. Der Staatsanwalt war ja so empört, dass er in Revision gegangen ist. Als der Prozess anfing, haben mehrere Frauen, die ich schon jahrelang kenne, mir plötzlich erzählt, dass sie auch selber Opfer sexueller Gewalt waren. Bei der ersten, zweiten und dritten habe ich noch gedacht, das sei ein Zufall. Aber als es immer mehr wurden, insgesamt waren es neun, da dachte ich: Das ist ja nicht auszuhalten! Doch als die Berichterstattung sich dann drehte und alle Angeklagten freigesprochen wurden, da sagten genau diese Frauen zu mir: Da siehst du, was dabei rumkommt! Ich würde niemals eine Anzeige machen. Die Opfer sind also wieder eingeschüchtert. Die Lobby für Opfer würde durch diesen Fall stark geschwächt.

Rein juristisch ist der Fall jetzt abgeschlossen. Und auch für die Medien wird er bald vergessen sein. Aber Sie leben weiter mit Ihrem Pflegesohn Kevin, der inzwischen 14 Jahre alt ist und seit acht Jahren in Ihrer Familie lebt.
Vor sieben Jahren, als er anfing darüber zu reden, hatte er nur mich. Seit zwei, drei Monaten redet Kevin endlich auch mit seiner Therapeutin über seine schlimmen Erlebnisse. Damals habe ich zu dem Kind gesagt: Hab keine Angst, ich werde dich niemals im Stich lassen! Jetzt sitze ich in der Falle. Kevin braucht und liebt mich, er würde sein letztes Hemd für mich geben. Und auch zu meinen anderen Kindern ist sein Verhältnis innig, sie haben ihn immer unterstützt. Mein Sohn ist schon 24, der lebt selbstständig. Aber meine Töchter sind noch im Haus. Und sie sagen manchmal zu mir: „Mama, warum können wir nicht mal ein normales Leben führen?“ Sie haben ja alles mitbekommen: den rasenden Schmerz von Kevin, meinen Kampf, meine ohnmächtige Verzweiflung, die Freisprüche, die Häme über mich…

Und Ihr Mann?
Der unterstützt mich. Aber er hält sich in bezug auf Kevin zurück. Was ich verstehe, er ist einfach hilflos. Ich bin einfach zu allein mit dem Problem. Als ich als Kinderkrankenschwester im Krankenhaus gearbeitet habe, habe ich mich auch immer sehr engagiert – aber abends konnte ich wenigstens nach Hause gehen, in eine andere Welt. Als Pflegemutter habe ich einen 24-Stunden-Job und keinen Tag Auszeit. Wenn es dabei nur um mich ginge, wäre es vielleicht noch irgendwie zu schaffen. Ich bin ja für die Entscheidung verantwortlich, Kevin nicht mehr wegzuschicken, weil dieser Bruch ihm den Rest geben würde. Und ich würde mit dem Schuldgefühl nicht leben können. Mein Herz sagt darum ganz klar Nein zu dieser Lösung. Gleichzeitig aber geht meine Familie dabei vor die Hunde. Ich bin einfach verzweifelt. Ich weiß nicht ein noch aus.

Gibt es denn von außen keine Unterstützung für Sie?
In den ersten Jahren, als das alles bei Kevin aufbrach, hatten wir viel Unterstützung: von Freunden und auch vom Jugendamt. Aber jetzt… Seit den Freisprüchen und den Publikationen, die mich als „fragwürdige Pflegemutter“ darstellen, halten sich alle mehr und mehr bedeckt. Denn Kevin ist natürlich auch anstrengend. Er hat immer Erwartungen, braucht permanente Zuwendung. Dabei hat er sich gut entwickelt, sich wirklich stabilisiert. Gerade darum bräuchte er jetzt in der Pubertät eine besondere Förderung. Mehr Menschen, denen er vertrauen und auf die er sich stützen kann.

Und das Jugendamt?
Früher hatte uns das Jugendamt einmal im Monat eine andere Betreuung für Kevin zugestanden. Und wir konnten auch als Familie mal ein, zwei Wochen ohne ihn Urlaub machen. Das gab mir und meinen Kindern ein bisschen Luft und Selbstbesinnung. Doch das ist in der letzten Zeit alles weggefallen. Ich habe das Gefühl, ich stoße überall nur noch auf taube Ohren. Ich bin einfach zu allein mit dem Kind. Und ich verstehe nicht, wie laut ich noch schreien soll.

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