Essstörungen: Dünne machen!
Seit neuestem aber ist Sand im Getriebe. Das Gift des Diätwahns scheint in Überdosis verabreicht worden zu sein. Die bisher diskret hungernden (und heimlich fressenden) Frauen flippen aus .Zunehmend. Ärzte schlagen Alarm. Eine neue Frauenkrankheit breitet sich aus: die Bulimie, profaner auch Fress- und Kotzsucht genannt.
An ihr leiden Frauen, die zwischen Hungerkuren und Fresstouren schwanken, in diesen Phasen ungeheure Mengen verschlingen und durch künstliches Erbrechen und Abführmittel gleich wieder ausscheiden. Allein in der Bundesrepublik schätzen Ärzte die Zahl der fresssüchtigen Frauen auf mindestens 300.000 - 400.000. Für sie ist die alltägliche Diät zur unentrinnbaren Sucht geworden, Sucht, die ihr Denken und Fühlen beherrscht und ihr Leben bestimmt.
Frauen treiben den Diätwahn auf die Spitze, werden krank und verrückt, funktionieren nicht mehr. Die Zahl der Frauen, für die das Essen so zur Sucht geworden ist (oft in Kombination mit Medikamenten, den Abführmitteln) wie für andere der Alkohol, steigt. Sie steigt so beunruhigend, dass selbst die, die es bisher am tollsten getrieben haben, die Bremse ziehen. Zumindest leicht. So heben "Brigitte" und "Bild" plötzlich warnend den Finger: Die Frauen sollten es nicht gar zu toll treiben mit der Diät, "lieber mollig und glücklich, als schlank und unglücklich" (und veröffentlichen gleich ein paar Seiten weiter die allerneueste Blitz-Diät).
Täglich bis zu 1.500 Briefe erhält nach eigenen Angaben die Frauenzeitschrift "Brigitte" zur Diät. 1.500 Briefe. Man stelle sich vor, Frauen schrieben täglich 1500 Briefe, um gegen den Abbau der 218-Reform zu protestieren. Zum Beispiel. Oder, um mehr Rechte für Frauen zu fordern. Oder, um gegen den .Rüstungswahnsinn zu protestieren ...
Doch man muss diese Zahlen nicht kennen, man muss sich nur im eigenen Leben umschauen, um zu begreifen, in welchem Maße die Idee "Ich bin zu dick" Frauen okkupiert. Egal, wie alt sie sind. Egal, wie bewusst sie sind. Egal auch, wie schlank oder dick sie wirklich sind. Die Zauberformel "Diät" scheint Erlösung von allem Leiden zu versprechen. So kommt es, dass die "Traumfigur" inzwischen in den Träumen vieler Frauen noch vor dem "Traumprinzen" und der "Traumrobe" rangiert (dafür sprechen auch die Schlagzeilen der auflagenstarken Frauenzeitschriften, deren Verkaufsargument Nummer eins die jeweils neueste Diät ist).
Besonders beunruhigend dabei ist, dass der alltägliche Diätwahn so selbstverständlich geworden ist, dass wir ihn noch nicht einmal mehr als solchen wahrnehmen. Da lacht kaum eine schallend über die zwei Messerspitzen Petersilie, die wir, um die Völlerei auf die Spitze zu treiben, zum Abendessen laut "Brigitte" noch über das geraspelte Radieschen streuen dürfen. Da schüttelt kaum eine den Kopf über die neue Mode, die, diesmal, "breite Gürtel" um die Hüften vorschlägt, und dazu Mannequins defilieren lässt, deren Hüftumfang in Zentimetern das misst, was bei einem einigermaßen gesunden Körper eigentlich Taillenumfang sein müsste.
Da ist Protest auch kaum hörbar, wenn einem die liebste Freundin, der eh schon die Knochen vorstehen, sagt: Ach, ich muss unbedingt abnehmen, ich bin nämlich schon wieder dicker geworden.
Die Perversion ist eine doppelte: Man muss schon in einer Überflussgesellschaft leben, um Essen so zum Spielball der Ideologien machen zu können. Und man muss schon im Patriarchat leben, um als Frau in einer Überflussgesellschaft so zu hungern.
Etwa Mitte der 70er Jahre haben wir Feministinnen begonnen, laut über die Ursachen und Folgen des Schlankheitsdiktats nachzudenken. Wir haben schon einiges dazu gesagt, aber noch längst nicht alles. Es scheint so zu sein, dass ausgerechnet in den Zeiten, in denen wir Frauen es geschafft haben, äußere Fesseln zu lockern oder gar zu sprengen, sich neue, innere Fesseln um uns gelegt haben. Und, dass eine der schlimmsten inneren Fesseln eben dieser Schlankheitswahn ist, der sehr viel mehr Folgen hat, als wir zu ahnen wagen.
Es beginnt mit einem tief gestörten Verhältnis zum Essen. Millionen Frauen essen entweder nicht. Oder sie essen zu wenig. Oder sie essen, haben dabei ein schlechtes Gewissen. Oder aber, neuere Entwicklung, sie schlingen das Essen hinunter. Aus Hunger. Hunger nach dem Leben. Und sie kotzen es wieder aus. Weil das Leben zum Kotzen ist. - Einer der elementarsten sinnlichen Genüsse, Essen, ist all diesen Frauen nicht mehr möglich.
Das Hungern und das Schwanken zwischen Hungern und Fressen Schwächt den Körper, ja macht ihn regelrecht kaputt. Hinzu kommen die zerstörerischen Auswirkungen der Appetithemmer und Abführmittel. Die heute modische "Idealfigur" entspricht, rein medizinisch gesehen, einer Unterernährung, doch längst ist sich die seriöse Medizin darüber einig, dass ein paar Kilo mehr gesünder sind, als ein paar Kilo zu wenig. Denn dem unterernährten Körper fehlen Abwehrkräfte und Kräfte. Man stelle sich nur eines dieser schlanken Wesen in der körperlichen Auseinandersetzung mit einem ordentlich ernährten Mann vor hoffnungslos.
Hinzu kommt die seelische Zerrissenheit, der permanente Doublebind. Denn die "Idealfigur" ist für keine jemals erreichbar (Ich jedenfalls habe noch nie eine Zufriedene getroffen). Auch die Schlankste fühlt sich noch "zu dick" - und ist das in Relation zu den Kleiderständern der Modeseiten ja auch tatsächlich. Und noch bei der Dürrsten stimmt etwas nicht mit den Pfunden: da ist der Hintern zu dick für Jeans, der Busen zu groß, die Waden sind zu stramm ... Und wenn frau endlich so rank ist wie Jane Fonda oder Lady Di, wispert es in ihr: Jetzt bist du vielleicht schön schlank, aber begehrt bist du nicht, denn eigentlich, eigentlich mögen die Männer etwas ganz anderes ...
So kann der eigene Körper zum narzisstisch-autistischen Gegenstand allen Sehnens und Handelns, kann er zur Ersatzwelt werden. Vor allem natürlich für die Frauen, die sonst schon nicht viel Platz in der Welt habe (aber auch Frauen mit Engagement und Beruf räumen der Beschäftigung mit der Linie oft einen Platz ein, der für einen Mann undenkbar wäre). Alle Sehnsüchte, alle Revolten, alle Kämpfe gelten dem eigenen Körper, er soll nach fremden, feindlichen Gesetzen funktionieren.
Nicht die Lebensumstände und die Welt sollen sich ändern der Körper soll es. Und wenn er erst anders, wenn er erst perfekt wäre, dann würden auch das Leben und die Welt wunderbar.
Einst fragte die Königin: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land ..." Heute fragen die Frauen: "... wer ist die Schlankste im ganzen Land?" Die Schlankheitskarriere scheint die begehrteste zu sein, der Wettbewerb um die Pfunde der weitverbreitetste Konkurrenzkampf unter Frauen. Du bist viel schlanker als ich - Ich habe jetzt endlich abgenommen - Kompliment, du bist ja wunderbar schlank geworden. Während Männer Karriere machen, machen Frauen Diäten.
"Ich wusste nicht, dass ich so stark sein kann", titelte Brigitte in ihrem Septemberheft 84 den "Brigitte-Diät-Club". Der stolze Spruch kam aus dem Mund von Petra Hunger, 21, aus Goslar. Petra hatte zwischen Januar und April 1984 genau 24 Kilo abgenommen. Und darauf ist Petra stolz. Verständlicherweise. Denn ansonsten gibt es zur Zeit wenig, worauf sie stolz sein könnte.
Wie einigen wenigen Nebensätzen in Brigitte zu entnehmen war, hatte Petra mit 17 geheiratet und dann prompt angefangen, "mehr und öfter zu essen". Als sie ihre Lehre beendet hatte, keine Stelle fand und zuhause blieb, aß sie noch mehr. Jetzt sitzt sie noch immer berufslos in ihren vier Wänden, aber sie hat etwas zu tun: sie kämpft um die Linie. Und sie hat sich bewiesen, dass sie Energie und Selbstdisziplin hat, dass sie "stark" ist. Jubelt Brigitte: "Petra hat wieder Konfektionsgröße 38." Wie schön.
An Brigittes Petra wird karikatural eines klar: der Ablenkungs- und Ersatzcharakter der Welt der Diäten. Ablenkung vom Hausfrauenleben, bei dem eine lebendige junge Frau ja aus der Haut fahren (aus dem Leim gehen) muss, Ersatz für die fehlende Welt. Da wird die Kalorientabelle zum Gradmesser für Tüchtigkeit, die erreichte "Traumfigur" zum Ziel aller Träume. Zentrum weiblicher Existenz ist hier nicht das Selbstexistieren, sondern das Anderengefallen. Und der Horizont weiblichen Strebens ist nicht vom Universum begrenzt, sondern - von der eigenen Haut.
Es wird kein Zufall sein, dass ausgerechnet mit erstarkender Emanzipation die Frauen immer dünner werden sollen. Daran haben auch Aerobic und Bodybuilding wenig geändert. Im Gegenteil: diese Moden haben einerseits das Streben von Frauen nach mehr Bewegung und Stärke aufgenommen, es aber andererseits im Handumdrehen wieder pervertiert: schlank sein und dekorativ, das bleibt das Gesetz.
Ja warum machen die dämlichen Frauen denn all das mit, wird da so manch eine/r fragen. Ja, warum. Weil Ideologien zäher sein können als Realitäten. Weil frau ökonomisch schon unabhängig sein kann, aber seelisch noch gefangen - das sind langwierige Prozesse. Und, weil die Frauen selbst, als Schwächere, die nach dem Gesetz des Starken streben, Trägerinnen und Mitverbreiterinnen dieser Ideologien sind.
Doch: bestimmt werden Ideologien von den Herrschen. Und sie sind es auch, die letztendlich davon profitieren. Auch vom Schlankheitswahn. Diese Männergesellschaft will, dass wir Frauen uns dünne machen. In jeder Beziehung. Dass wir selbst dabei mitmachen, gestehen wir uns nicht gerne ein. Verständlich. Wir suchen Ausflüchte. Wir sagen nicht gern: Wir wollen schlank sein. Wir sagen lieber: Es ist gut für die Gesundheit - Ich fühle mich ganz einfach besser so - Ich mache Heilfasten - und was der hübschen Bemäntelungen mehr sind.
Manchmal ist ja vielleicht sogar etwas dran. Aber: wir sollten misstrauisch sein mit uns selbst in diesem Punkte. So manche einleuchtende Erklärung fürs Diäten ist nicht mehr als eine geschickte Rationalisierung, die vor anderen und vor uns selbst verbergen soll, dass wir uns ganz profan dem Schlankheitsdiktat beugen. Egal, wie alt wir sind (ein 40jähriger Körper hat natürlich andere Formen als ein 20jähriger); egal, welche Form unser Körper individuell eigentlich hat (eher stämmig oder eher hager, eher barock oder eher schmal); egal, wie wir uns wohlfühlen (könnten) wir beugen uns der Einheitsform, hungern nach der "Idealfigur". Nur: Wessen Ideal ist das eigentlich?
Unsere Körper, Terrain männlicher Normen, männlicher Gewalt, männlicher Besitznahme, sind seit Jahrtausenden enteignet, kolonialisiert vom Patriarchat. Nicht zufällig lautete eine der ersten Forderungen der neuen Frauenbewegung: Mein Bauch gehört mir! Wenn wir Freiheit wollen, müssen wir zu allererst einmal uns selbst, unsere eigenen Körper befreien. Und unsere Seelen entgiften. Auch vom Gift des Diätwahns.
Das wird ein langer Weg sein. Und die ersten Schritte werden sein, das Selbstzerstörerische am Diätwahn zu erkennen. Dann, der Vielfalt wieder Raum zu geben, in uns hineinhorchen, versuchen rauszufinden, welche Körperformen uns ganz persönlich entsprechen. Und dann? Ja, dann wird vielleicht ein Teil der Phantasie und Energie, die wir heute in dieses kleinliche und wahrhaft unwürdige Kalorienzählen investieren, wieder frei sein. Frei zum Leben. Frei zum Kämpfen um etwas, das sich lohnt.