Alice Schwarzer schreibt

Simone de Beauvoir: Unser aller Vorbild

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Für meine Generation waren sie in den 50er Jahren der einzige Lichtblick. Liebe? Ehe? Kein Nachdenken darüber war denkbar ohne das Modell des Traumpaares: Beauvoir und Sartre. Liebe ohne Ehe, ohne Abhängigkeit, ohne Ungleichheit. Das Wort Emanzipation fiel damals ganz sicherlich nicht. Es wurde noch nicht einmal gedacht. Aber gefühlt. Denn das demonstrierte dieses Paar bei jedem Schritt: dass sich hier zwei Gleiche begegnet waren.

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Irgendwann in den frühen 60ern habe ich dann die ersten Romane und "Das andere Geschlecht" gelesen. Es war wie ein Geheim-Code. Man las und verstand, aber man wusste sich allein damit. Ende der 60er sah ich das Buch zum ersten Mal bei einer anderen Frau: in einem Frankfurter Studentenheim lag es auf dem Schreibtisch einer Aktiven des legendären Weiberrates ...

Anfang der 70er begannen wir, endlich, miteinander zu reden. Wir entdeckten, dass "Das andere Geschlecht" unser aller heimliche Fibel war und Simone de Beauvoir unser aller Vorbild. Sie hatte uns, mit ihren Memoiren und Romanen, mit ihren politischen Engagements und privaten Revolten, das Bild einer Frau vermittelt, die hoch erhobenen Hauptes gegen die Angepasstheit, gegen die Feigheit und Dreistigkeit der anderen anlebte. Und die dabei nicht auf der Strecke blieb, sondern, im Gegenteil, erst wirklich anfing zu leben.

Sicher, die Frauen der westlichen Welt hätten sich, wieder einmal, auch ohne "Das andere Geschlecht" in Bewegung gesetzt. Aber sie hätten das nur zögernder und nicht mit dieser intellektuellen Klarheit tun können. "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es." - Dem gab es nichts hinzuzufügen.

Beauvoirs umfassender Essay wurde allerdings erst eine Generation nach seinem Erscheinen zur radikalen Streitschrift gegen die Männergesellschaft, aber auch - gegen die Weiblichkeit. Beauvoir, 1970 von den neuen Feministinnen persönlich angesprochen, gehörte selbstverständlich dazu. Sie wurde unsere Wegbegleiterin; sie stellte sich, wie sie es selbst formulierte, der Sache "zur Verfügung", gab ihren Namen, demonstrierte mit, bezog Stellung.

"Das andere Geschlecht" habe "nur" die Analyse geliefert, aber keine Strategie entwickelt, kritisierten einige. Als sei eine Strategie von einem einzelnen Menschen überhaupt denkbar (und wünschenswert) und nicht nur als Produkt eines handelnden Kollektivs wirklich politisch ...

In zwei Punkten allerdings, und in sehr wichtigen, konnte der neue Feminismus aufgrund der neuen historischen Gegebenheiten über die Analyse Beauvoirs hinausgehen: Die Töchter Beauvoirs erkannten das Ausmaß der Männergewalt gegen Frauen. Und sie benannten die Funktion der (Zwangs)Heterosexualität (und damit die subversive Rolle der weiblichen Homosexualität).

Beauvoir war zu Beginn der neuen Frauenbewegung in der Tat leicht verschreckt von der militant lesbischen Amazonen-Fraktion. In ihren frühen Solidaritätsbekundungen versäumte sie selten, anzumerken, dass es doch auch sympathisierende Männer gäbe, ja sogar solche, die Feministen seien. Wenige Jahre später allerdings hatten diese Ausnahmemänner zwar weiterhin den altgewohnten Platz in ihrem Herzen, vom Kopf her aber wurden sie politisch nun offen von ihr kritisiert ("Selbst Sie, Sartre, teilen nicht die Erfahrungen der Frauen! Sie wollen uns einfach nicht verstehen!").

Ihre Beziehung zu Sartre war, das wird nach der Veröffentlichung der Briefe Sartres an Beauvoir noch klarer, sehr bald eher geschwisterlicher Natur. Zwei Menschen, die sich als Gleiche erkannt und gewählt und sich in dem halben gemeinsamen Jahrhundert so manches mal einen durchaus hemmungslos Komplizenhaften Umgang gegenüber Dritten erlaubt hatten.

Um so absurder der Versuch, Beauvoir jetzt, nach ihrem Tod, wieder einmal zum Anhängsel Sartres, zur "großen Sartreuse" und "lebenslangen Gefährtin", zum relativen Wesen, zur "Anderen" reduzieren zu wollen. Wie bezeichnend und grotesk, dass wir das selbst bei einer der bedeutendsten Frauen der Geschichte immer noch und immer wieder klarstellen müssen.

Versteht sich, dass Beauvoir selbst nie Ideal sein wollte. Sie war ein Anti-Star. Sie hat, glaube ich, bei allem stolzen bis manchmal schroffen Selbstbewusstsein, selbst nie wirklich die eigene Bedeutung begriffen, sie nicht begreifen wollen. "Berühmt", hat sie einmal zu mir gesagt, "berühmt ist man immer nur für die anderen." (Ein Satz, der in die Poesiealben aller Tagesschau-Politiker/innen gehört.)

Auch darin war sie eine konsequente Existentialistin: Sie hat sich nie festlegen lassen, hat immer wieder neu nachgedacht, ist der Versuchung eines fixierten Bildes von sich selbst - und sei das auch noch so strahlend - nie erlegen. Beauvoir ist bis zum Schluss bereit geblieben, sich auf Ungewohntes einzulassen, dazuzulernen. Recht unduldsam allerdings war sie immer mit der Dummheit und der Selbstgefälligkeit. Selbstbetrug konnte sie kaum ertragen (es ist darum nicht ohne Ironie, dass die bemühte taz ausgerechnet Luce Irigaray, die für Beauvoir eine typische Vertreterin der intellektuellen Schaumschlägerei und der neuen Weiblichkeit war, zur "Hommage" an sie aufgefordert hat).

Trotzalledem musste der sperrige "Castor" (= Biber, ihr Spitzname) dennoch als Ideal herhalten. Wer, wenn nicht sie?! Menschen brauchen Vorbilder. Keine vernebelnden, entmündigenden Idole. Aber mitreißende Vorbilder. Solche, die vorleben, dass widerständiges, integres Denken und Leben möglich ist, mehr noch: erfüllend sein kann.

Männer haben solche Vorbilder. Sie haben davon so viele, dass sie sich in dem reichhaltigen historischen Angebot die jeweils passende Variante aussuchen können. Frauen haben sie nicht oder kaum. Frauen gehören nicht dazu. Sie sind ganz draußen, haben, bis sie überhaupt den Horizont erblicken, so viele innere und äußere Hürden zu nehmen, dass sie meist auf der Strecke bleiben oder - den Weg gar nicht erst antreten (welche Gründe und Folgen das hat, hat Beauvoir in nicht zu übertreffender Klarheit im "Anderen Geschlecht" analysiert). Die wenigen, die es dennoch schaffen, sich von den Fesseln zu befreien, versucht man spätestens im Nachhinein in die Niederungen des Ewig-Weiblichen hinabzuzerren.

Selbst einer Beauvoir bleibt das nicht erspart. Die Nachrufe waren mehr als bezeichnend, sie waren Strategie. Den schwarz-rot-goldenen Vogel schoss in ihrer dumpfen Uniformiertheit und sexistischen Dreistigkeit diesmal die Zeit; ab, subtil aber nicht weniger dreist flankiert von der Frankfurter Rundschau.

Beauvoir selbst haben solche Manöver schon zu Lebzeiten kaum angefochten. So skeptisch und klarsichtig sie intellektuell war, so vital war sie emotional. Von einem nicht totzukriegenden Optimismus. Von der Art Optimismus, aus dessen Holz die Revolutionär/innen geschnitzt sind.

An diesem 14. April 1986 haben Millionen Frauen in der ganzen Welt geweint. Wenige Tage später standen Kate Millett und ich an ihrem aufgebahrten Sarg. Zu traurig, um zu reden, zu denken. Aber gefühlt haben wir, glaube ich, beide dasselbe: Das war nicht nur Abschied, es war auch Versprechen. Versprechen, weiterzukämpfen. Für die Freiheit. Für die Selbstverantwortung. Für das Glück aller Menschen. Vor allem und endlich auch für das der weiblichen Menschen.

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