Ein Besuch bei Domenica

Alice Schwarzer im Gespräch mit Domenica. - © Bettina Flitner
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Alice Schwarzer: Du hast gestern abend, als wir zusammen essen waren, ein paarmal gesagt: Ich hätte schon vor Jahren mit dir sprechen sollen, Alice. Warum? Was wolltest du mir sagen?
Domenica Niehoff: Ich hätte dir meine Sorgen erzählt. Denn ich denke, daß du eine Frau bist, die emanzipiert ist. Wir hätten dann gemeinsam die Probleme, die ich hier so habe, anpacken können. Aber das können wir ja jetzt immer noch tun...

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Welche Probleme?
Das mangelnde Selbstbewußtsein der Mädchen hier. Ihnen klarmachen, daß sie nicht für die Liebe zahlen müssen!

Wieso? Ich dachte, die würden für die "Liebe" bezahlt?
Ich meine nicht die Freier, ich meine die Zuhälter. Gut 70 Prozent aller Frauen und Mädchen, die anschaffen, haben ja einen Zuhälter. Und den bezahlen sie. Fürs Nichtstun.

Außerhalb vom Kiez nennt man dich "Die Königin der Reeperbahn". Hier auf dem Kiez aber hast du eher den Ruf einer "Emanze". Es heißt, du würdest "die Mädchen wachmachen". Das Haus auf der Herbertstraße, in dem du zuletzt gearbeitet hast, hatte den Spitznamen "Emanzen-Puff". Seit wann hast du diesen Ruf, Domenica?
Das hat vor sechs Jahren bei mir angefangen. Ich sah so viele Mädchen, die aufs Gemeinste ausgebeutet wurden und auch geschlagen wurden. Und das hat mir leid getan. Ich hab gedacht: Mensch, kann man denn hier nichts tun?! Und es wird ja auch immer schlimmer. Die Mädchen, die jetzt anschaffen, werden immer jünger. Heute stehen schon die 12-, 13-, 14-Jährigen auf der Straße. Hier auf der Reeperbahn geht's ja noch, hier sind sie schon meist 18. Schlimm ist das in Sankt Georg, wo die Mädchen voll sind mit Drogen. Die schaffen das auch gar nicht, mit den Freiern richtig umzugehen.

Was heißt das?
Also, wenn bei mir ein Mann frech ist, den schick ich gleich wieder weg. Bei mir muß man sich gut benehmen. Mein Zimmer ist kein Mülleimer, ich bin kein Schrotthaufen. Wir Alt-Huren haben unsere Gesetze. Wir machen's nur mit Kondom, immer schon. Wir lassen uns nicht küssen, denn das ist ja was, was man natürlich nur zuhause tut. Anal gibt es überhaupt nicht. Aber die jungen Mädchen, die meist von einem Zuhälter Drogen kriegen und dann auf die Straße geschickt werden, die machen alles. Denen ist alles egal. Die sind so kaputt, die haben gar nicht mehr die Kraft, auf sich zu achten. Früher wurde man eingeführt von älteren Huren. Da wurde gesagt: Das machst du, und das machst du nicht. Heute stehen die da ziemlich isoliert, die sind ganz ihren Kerlen ausgeliefert.

Verderben diese jungen Frauen dadurch auch euren Markt?
Noch nicht mal. So einen Gast, der sowas mit jungen Mädchen macht, den möchte ich vor meinem Fenster gar nicht haben.

Du hast öffentlich gesagt, du freust dich über jede, die aussteigt.
Ja, ich freue mich über jede, die aussteigen will und das auch kann! Und über jede, die hier erfolglos ist und eine andere Arbeit findet. Ich freue mich auch, wenn sie nicht erst aussteigen, wenn es zu spät ist.

Für dich selbst, Domenica, ist es fast schon zu spät.
Ja, für mich ist es fast schon zu spät. Noch verdiene ich mein Geld, aber das ist ja eine Zeitfrage. Eine Berufsausbildung habe ich nicht.

Welchen Beruf hättest du denn gern gehabt?
Ich wäre schrecklich gerne Modezeichnerin geworden. Aber naja...

Dichter haben auf dich Gedichte geschrieben, Maler haben dich gemalt. Du scheinst das Paradebeispiel für die erfolgreiche, selbstbewußte Hure zu sein. Und dennoch warnst du heute jede Frau vor der Prostitution.
Weil das ein sehr schwerer Beruf ist. Den übersteht nicht jede unbeschadet, unbeschadet am Körper und an der Seele. Es ist auch nicht besser geworden in unserem Gewerbe. Aids. Arbeitslose Männer. Immer mehr Frauen schaffen an. Aber es kommen immer weniger Gäste. Und die Gäste werden auch immer jünger. Und perverser. Die stehen auf Urin und so. Hinzu kommt: Früher war der Weg in die Prostitution auch wirklich schwerer. Heute gehen manche auf den Strich wie auf die Kirmes. Sie kommen heute auch oft aus besseren Kreisen. Früher kamen die Huren aus einem so armen Milieu, dem nichts anderes übrig blieb. Heute kommen sie auch aus den besten Familien.

Es gibt Frauen, die behaupten, auf dem Strich wäre es leicht "eine schnelle Mark " zu machen. Zum Beispiel die von dem Berliner Prostituiertenprojekt Hydra. Die sagen auch, die modernen Prostituierten hätten alle keine Zuhälter mehr, sie würden ihr Geld selbst behalten.
Das ist natürlich Quatsch. Und es ist auch verdammt gefährlich, sowas zu erzählen. Pieke Biermann hat neulich im Fernsehen gesagt, es gäbe das Problem Zuhälter nicht. Da muß ich mich sehr wundern ... Das Schlimme ist: Die jungen Mädchen glauben das auch noch, und dann haben sie die Bescherung. Es ist besser, die Wahrheit zu sagen. Und diese Wahrheit kennen wir Huren selbst natürlich nur zu gut. Das Problem bei Hydra ist, daß das fast alles Sozialarbeiterinnen sind, die die Sache nicht aus eigener Erfahrung kennen. Und die glauben, sie täten uns Huren einen Gefallen, wenn sie sowas erzählen. Die Wahrheit ist: Maximal ein Drittel der Huren hat einen netten Mann, der selber verdient, oder gar keinen. Alle anderen werden abkassiert. Und das oft mit Gewalt. Die meisten Huren werden auch heute noch überhaupt erst von einem Mann auf den Strich geschickt. Daß eine von ganz alleine hier ankommt und sagt: So, jetzt will ich anschaffen — also das ist mir in all den Jahren kaum begegnet. Das sind dann auch Mädchen, die gar nicht erst auf die Straße gehen, die versuchen, in Appartements zu arbeiten. Die jungen Mädchen müssen doch wissen, was auf sie zukommt. Eine Warnung, das ist doch das wenigste, was wir Alt-Huren ihnen schuldig sind.

Und was kommt auf sie zu?
Elend. Verdammt viel Elend. 90 von 100 Huren werden ein Fall fürs Sozialamt. (...)

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