Nicht länger wegsehen

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Ihre Platzwunde am Kopf muss sicherheitshalber noch geröntgt werden“, ­erklärt der Arzt in der Notaufnahme der Patientin. Die Krankenschwester führt die Frau, deren Wunde gerade genäht wurde, in den Röntgenraum. Ihr Mann, der sie begleitet hatte, muss draußen bleiben. Die Schwester schließt die Tür und erklärt der Patientin: Das mit dem Röntgen stimme gar nicht, man habe sie nur unter vier Augen sprechen wollen. „Wir erleben hier oft, dass Frauen mit einer Verletzung wie Sie sie haben, von ihrem Partner misshandelt wurden. War das bei ihnen vielleicht auch der Fall?“ Die Frau senkt verschämt den Kopf – dann nickt sie.

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Genau zehn Jahre ist es her, dass die Berliner Benjamin-Franklin-Uniklinik nicht länger wegsehen wollte, wenn Frauen mit Platzwunden, gebrochenen Kiefern oder ausgekugelten Armen in der Notaufnahme erschienen und durchsichtige Geschichten über die Ursache für ihre Verletzungen ­erzählten: vor den Schrank gelaufen, die Treppe runtergefallen, in der Tür geklemmt. Auf die Idee, in solchen Fällen nachzuhaken, hatte sie „Frauenzimmer“ gebracht, ein Berliner Projekt, das Zufluchtswohnungen für misshandelte Frauen anbietet. Immer wieder hatten die Mitarbeiterinnen von ihren Bewohnerinnen gehört, dass sie mit ihren Hämatomen, Brüchen und Schlafstörungen jahrelang von Arzt zu Arzt gerannt waren, ohne dass ein einziger Verdacht geschöpft hätte. Und wenn doch, ging er geflissentlich darüber hinweg. Dabei sind ÄrztInnen oft die ersten und einzigen, die die Verletzungen einer misshandelten Frau zu Gesicht bekommen – und helfen könnten.

Also entwarf das „Frauenzimmer“ ein Schulungsprogramm, nannte es S.I.G.N.A.L. und klopfte damit an die Tür der ­Ben­jamin-Franklin-Uniklinik. Ihr Ziel: Die ÄrztInnen, Krankenschwestern und Pfleger zu sensibilisieren, so dass sie 1. bei verdächtigen Verletzungen genau hinschauen, 2. die Frau vorsichtig darauf ansprechen, sie 3. an eine Beratungsstelle oder ein Frauenhaus vermitteln, wenn sie das möchte, und 4. die Verletzung gerichtsfest dokumentieren.
Zehn Jahre nach dem Start des Programms, das 1999 in Deutschland das erste seiner Art war, ist die Hilfe bei Häuslicher Gewalt in den drei Notfall­ambulanzen der Berliner Charité, zu der die Uniklinik inzwischen gehört, zum Normalfall geworden. „Jeder vom Pflegepersonal muss eine eintägige Fortbildung über den Umgang mit solchen Patientinnen machen“, erklärt Krankenschwester Claire Hemmert-Seegers, stellvertretende Abteilungsleiterin und S.I.G.N.A.L.-Beauftragte einer der Ambulanzen. Die Pflegeschule der Charité hat das Thema Häusliche Gewalt in ihre Ausbildungsrichtlinien aufgenommen.

Dort lernen die Krankenschwestern und -pfleger, was ihnen S.I.G.N.A.L.-Mitarbeiterinnen wie Karin Wieners aus jahrelanger Erfahrung mit geschlagenen und geflüchteten Frauen vermitteln können: „Gibt es kleine, nicht behandlungsbedürftige Wunden wie blaue Flecken oder Druckstellen am Handgelenk oder ältere Narben am Körper? Ist die Frau mit ihrer Verletzung sehr spät zur Behandlung gekommen? Und ein ganz großes Warnzeichen: Wird sie von einem Mann begleitet, der sie nicht aus den Augen lässt und eine Situation vermeiden will, in der die Frau allein mit Arzt oder Krankenschwester ist?“ Und wie geht es dann weiter, wenn die Alarmglocken schrillen? „Viele haben zunächst Angst, ihren Verdacht anzusprechen, weil sie fürchten, die Frau zu brüskieren“, erklärt Karin Wieners, die lange in einem Berliner Frauenhaus arbeitete und das S.I.G.N.A.L.-Projekt wissenschaftlich begleitet hat. Deshalb ist es wichtig, den richtigen Ton zu treffen und der Patientin klar zu machen, dass „sie sich hier in einem Schutzraum ­befindet, der der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt, und dass nichts passieren wird, was sie nicht möchte.“

Wenn die Frau aber möchte, ruft die Krankenschwester die Hotline der „Ber­liner Interventionsstelle gegen Gewalt“ (BIG) an und eine BIG-Mitarbeiterin berät telefonisch oder kommt in Notfällen sogar ins Krankenhaus, um zu besprechen wie es weitergeht. Ist die Patientin sicher, dass sie nicht mehr nach Hause will, kann auch gleich ein Frauenhaus ­informiert werden. Für alle Patientinnen, die zögern, hat S.I.G.N.A.L. kleine Notfallkarten mit Telefonnummern entwickelt, die unauffällig in die Hosen- oder Handtasche gesteckt werden können.

Wie auch immer die Patientin sich entscheidet – auf alle Fälle werden ihre Verletzungen so dokumentiert, dass diese Dokumentation vor Gericht verwertbar ist. „Selbst wenn sie ihren Mann erst in drei Jahren verlässt – es liegen dann Beweise dafür vor, dass es diese Misshandlungen gab“, erklärt Karin Wieners. 136 Fälle Häuslicher Gewalt dokumentierte die Ambulanz allein in den ersten drei Jahren des Modellprojektes. Die verletzten Frauen waren zwischen 14 und 80 Jahre alt, zwei von drei hatten mehr als eine ­behand­lungsbedürftige Verletzung.

Die Angst, dass Patientinnen die Nach­frage des Klinikpersonals als Übergriff ­ablehnen könnten, hat sich als unbegründet erwiesen. „Die Patientinnen nehmen die Nachfragen durchweg gut an“, erzählt Krankenschwester Claire Hemmert-Seegers. Das bestätigt auch die Befragung von 800 Patientinnen der Notfallambulanz. Drei Viertel der Befragten fanden es „wichtig“, dass Frauen mit Gewaltverletzungen routinemäßig nach Häuslicher Gewalt gefragt werden. Zwei Drittel der Befragten plädieren sogar dafür, dass Frauen bei jedem Besuch in einer Notfall­ambulanz nach ihren Gewalterfahrungen gefragt werden sollten, unabhängig von der Art ihrer Krankheit.

Das Berliner S.I.G.N.A.L.-Projekt macht Schule. „Wir haben inzwischen in vielen Krankenhäusern Vorträge gehalten und Initiativgruppen unterstützt, die an ihrer Klinik ein eigenes Projekt gründen wollen“, freut sich Karin Wieners. Und noch etwas ist in Bewegung gekommen: Längst ist klar, dass nicht nur die Krankenhäuser, sondern auch die niedergelassenen ÄrztInnen eine zentrale Rolle dabei spielen, Häusliche Gewalt zu erkennen und ihre Patientinnen dabei zu unterstützen, den Schritt aus der Gewaltbeziehung zu gehen.

Deshalb haben die Berliner S.I.G.N.A.L.-Frauen jetzt gemeinsam mit dem Enneper Gesundheits-Netzwerk „Gesine“ und den Rechtsmedizinischen Instituten der Unikliniken Düsseldorf, Kiel und München ein weiteres Modellprojekt ins Leben gerufen: ­„Medizinische Intervention gegen Gewalt an Frauen“, kurz: MIGG. In jeder Stadt haben die Projektleiterinnen seit März 2008 rund 20 Haus- und FrauenärztInnen zum Mitmachen gewonnen und geschult. Ein wichtiges Ziel: Vernetzung. „Es reicht nicht, den ÄrztInnen nur die Flyer von Frauenberatungsstellen in die Hand zu drücken“, weiß die Düsseldorfer Rechtsmedizinerin Dr. Hildegard Graß. „Um Frauen dorthin zu vermitteln, müssen sie Köpfe und Gesichter kennen.“ Deshalb lädt Graß einmal pro Quartal zum gemeinsamen Treffen ein. Dort können MedizinerInnen und Beraterinnen aktuelle Fälle und Probleme besprechen. „Die ÄrztInnen hatten große Sorge, dass sie eine Patientin, die sie auf ihren Verdacht angesprochen haben, dann gar nicht auffangen können. Durch unsere gemeinsamen Netzwerk-Treffen wissen sie jetzt: ‚Ich kann das zwar nicht alles für diese Frau leisten, aber ich kenne ­jemanden, der weiterhelfen kann.‘“

Und so sind ihre KollegInnen inzwischen mutiger geworden. „Sie trauen sich jetzt, mehr Fragen zu stellen. Und sie hören besser hin, was die Patientin ihnen sagen will.“ Dabei kommt nicht immer ein prügelnder Ehemann ans Licht. So manche Patientin spricht auch über das zermürbende Mobbing am Arbeitsplatz, das ihr Kopfschmerzen bereitet; eine ­andere über ein Kriegstrauma, das ihr bis heute an die Nieren geht. Das Modellprojekt, das vom Bundesfrauenministerium finanziert wird und Teil des „Aktionsplans II zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“ ist, fördert mit seinem ­Ansatz grundsätzlich die Idee, dass Körper und Seele eine Einheit sind – und ein guter Arzt nach beidem fragt.

„Das Problem dabei ist allerdings, dass diese sogenannte sprechende Medizin in unserem System nicht honoriert wird“, klagt Ärztin Hildegard Graß. Dabei ist es äußerst kurz gedacht, an dieser Stelle zu sparen. Denn die Kosten, die durch womöglich jahrelange Häusliche Gewalt entstehen, sind immens. Auf 255 Millionen Dollar pro Jahr schätzt man in den USA die Ausgaben für die Behandlung von ­Gewaltopfern, davon allein 1,5 Millionen Dollar für den Ersatz ausgeschlagener Zähne. Eine Schweizer Studie kommt gar auf 400 Millionen Franken, und eine ­Erhebung aus Kanada, die auch langfristige Folgen wie Fehlzeiten am Arbeitsplatz einrechnet, beziffert die jährlichen Folgekosten auf 1,5 Milliarden Dollar. Fazit: „Geld, das für die Prävention und schnelle Intervention ausgegeben wird, könnte langfristig enorme Kosten einsparen.“ 

Gänzlich kostenlos wäre es übrigens, das Thema Häusliche Gewalt in der Ärzteausbildung verpflichtend zu machen. „Dann“, so Hildegard Graß, „würde eine Ärztegeneration heranwachsen, die von vornherein ganz anders sensibilisiert und informiert ist.“

www.signal-intervention.de
www.migg-frauen.de
www.gesine-net.de

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Dossier Männergewalt (1/10)
Gewalt macht krank (5/2003)

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