Ensaf Haidar: Befreit Raif Badawi!
Manchmal verschanzen sich Rebellinnen an den unscheinbarsten Orten. Zum Beispiel in Sherbrooke, einer eher unspektakulären kanadischen Universitätsstadt, etwa zweieinhalb Stunden von Montreal entfernt. Hier, in einer hellen Wohnung mit Balkon und Blick auf bewaldete Hügel am Rande der Stadt, hat Ensaf Haidar ein Zuhause gefunden.
Ensaf Haidar ist eine Heldin, wie man sie heute nur noch selten findet. Seit fünf Jahren kämpft die zierliche Frau im kanadischen Exil wie eine Löwin gegen einen übermächtigen Gegner: den Gottesstaat Saudi-Arabien.
Menschen geraten schnell in Vergessenheit. Ensaf kämpft gegen das Vergessen und für Raif.
Am 17. Juni 2012 haben die saudischen Sittenwächter am anderen Ende der Welt ihren Ehemann ins Gefängnis geworfen. Ensaf und ihre Kinder haben nur ganz knapp davor das Land verlassen können, erst Richtung Libanon, dann nach Kanada. Das Verbrechen, das man Raif anlastet, ist in Kanada ganz wie in Deutschland ein selbstverständliches Recht: Er hat seine Meinung ins Internet geschrieben. In ein von ihm selbst gegründetes Online-Forum mit dem Namen Freie saudische Liberale. Dort haben Menschen über einen liberalen Islam und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen diskutiert.
Der Name von Ensafs Ehemann ist inzwischen weltbekannt: Raif Badawi. Das erschütternde Urteil gegen ihn auch: 1.000 Peitschenhiebe, jeden Freitag nach dem Mittagsgebet 50. Dazu zehn Jahre Gefängnis. Plus eine Geldstrafe über eine Million Saudi-Riyal, das sind umgerechnet 250.000 Euro. Wenn er nicht bald zahlt, droht ihm Haftverlängerung.
Drei Jahre ist es her, dass ein heimlich gefilmtes Video von Raifs erster öffentlicher Auspeitschung vor der großen Moschee in Dschidda die Welt wachgerüttelt hat – nur wenige Tage nach dem Attentat auf die Satirezeitung Charlie Hebdo in Paris am 7. Januar 2015.
Menschen weltweit machten den Slogan #FreeRaif zu ihrer Sache und setzten sich beim saudischen Königshaus für dessen Begnadigung ein, darunter der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Eine Petition von Amnesty International zählt über eine Million Unterschriften. Seither sind die Auspeitschungen ausgesetzt. Es ist nicht sicher, ob Raif eine weitere Tortur überleben würde.
Aber wie das so ist mit Menschen, die in fernen Kerkern verenden: Sie geraten schnell in Vergessenheit. Abgesehen von einigen tapferen MenschenrechtsaktivistInnen (wie zum Beispiel in Tübingen) ist es stiller geworden um Raif Badawi. Während das islamistische Saudi-Arabien, das ihn gefangen hält und foltert, im Gespräch ist und gleich mehrere Beförderungen in der internationalen Gemeinschaft durchlaufen hat: vom potenten Wirtschaftspartner hin zum wichtigen Verbündeten im Kampf gegen den Islamischen Staat und schließlich sogar zum Mitglied der „Frauenrechtskommission der Vereinten Nationen“ (kein Witz). Gefolterte Oppositionelle stören da nur.
Ensaf Haidar in Sherbrooke ist nicht bereit, das hinzunehmen. Sie kämpft, jetzt erst recht. „Cinque ans, c’est trop!“, sagt sie mit ihrer hellen, aber entschiedenen Stimme und schlägt bei jedem einzelnen Wort einmal mit der Handfläche auf den Esstisch in ihrem Wohnzimmer. Fünf Jahre sind genug! Fünf Jahre sind auch an der 42-jährigen Saudi-Araberin nicht spurlos vorbeigegangen. Ensaf sieht erschöpft aus. Wie es ihr geht, das könne sie gar nicht mehr so richtig in Worte fassen. Und Raif? „Sein Zustand ist kritisch, sehr kritisch! Er spricht kaum noch.“ Und auch die Beziehung leidet nach fünf Jahren. „Die Ungewissheit und die immer gleichen Gespräche“, sagt Ensaf. Und das so dramatisch unterschiedliche Leben.
Ensaf ist Raifs einziger Kontakt zur Außenwelt. Sie darf er gelegentlich anrufen. Gestern hat Ensaf noch mit Raif gesprochen. „Das Einzige, was ihn am Leben hält, ist das Wissen, dass er das Richtige getan hat“, sagt sie. Und fügt hinzu: „Und ich bin eine Kämpferin! Ich muss meinen Kindern Kraft geben und ich muss die Erinnerung an Raif am Leben erhalten!“
Ensaf Haidar weiß, dass das Vergessen ein mindestens so mächtiger Widersacher ist wie der öl-vergoldete Gottesstaat Saudi-Arabien. Raif muss weiterleben, auch in den Köpfen.
In Jeans und T-Shirt und den hohen Schuhen sieht Ensaf zerbrechlicher aus, als sie ist. Sie hat Snacks aufgetischt, Käse, Cracker und Oliven. Ihre drei freundlichen Kinder, die Töchter Nedschua (14) und Miriam (10) und der Sohn Tirad (13), bzw. Dodi (wie Ensaf ihn nennt), streifen durch die Wohnung. Sie sind ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.
Die kleine Miriam trägt einen riesigen bunten Rucksack, in dem sie ihre Malsachen verstaut hat. Ihr Lieblingsfach in der Schule ist Englisch, „weil ich so besser Serien im Netz gucken kann“, sagt sie und grinst. Ihre Schwester Nedschua stimmt zu. Und Tirad mag vor allem Sportunterricht, er möchte später mal Profisportler werden – oder Schauspieler. Sein großes Vorbild ist Jaden Smith, der Sohn von Will Smith, in dem Film „Karate Kid“.
Als seine Mutter ihm ins Ohr flüstert, dass er doch bitte etwas Wassermelone schneiden soll, mault er erst mal widerwillig – und geht dann artig in die Küche. Das hier könnte eine ganz normale Einwandererfamilie sein, wie es sie in Kanada zu tausenden gibt.
Aber so ist es nicht. Denn einer fehlt: Raif. Er ist in dem neuen Zuhause im kanadischen Sherbrooke nur auf den vielen Fotos gegenwärtig, die schon die Wand im Flur bedecken und die von Ensafs und Raifs Leben vor dem Horror erzählen. Ensaf und Raif in den Flitterwochen im damals noch friedlichen Syrien – ein attraktives, modernes Paar, das die Zukunft noch vor sich hat. Raif, wie er seine drei Kinder fest im Arm hält. Im Wohnzimmer hängt ein gemaltes Bild von Raif in bunten Pop-Art-Farben. Dasselbe Motiv, das auch bei den weltweit immer wieder stattfindenden Protesten auf Plakaten zusehen ist: Ein junger Mann mit einer wilden, dunklen Mähne und wachen, warmen Augen, die direkt in die Kamera blicken.
Wie viel mag von diesem Menschen noch übrig sein nach fünf Jahren Haft in einem Land, das in jedem Menschenrechts-Ranking auf den hintersten Plätzen steht?
Neben dem Esstisch steht eine Kommode mit all den Auszeichnungen, die Ensaf inzwischen im Namen ihres Ehemanns entgegen genommen hat: der Sacharow-Preis für geistige Freiheit zum Beispiel, den das Europäische Parlament vergibt; oder den Freedom of Speech Award der Deutschen Welle. In diesem Jahr wurde Raif sogar als Kandidat für den Friedensnobelpreis gehandelt. Es ist paradox, aber Ensaf lebt heute ein Leben, von dem sie in Saudi-Arabien nur hatte träumen können: Sie reist um die Welt. Sie ist eine gefragte Rednerin. Sie trifft die AktivistInnen, die auch im tiefsten Winter Mahnwachen für Raif halten. Sie hat die „Raif Badawi Foundation for Freedom“ gegründet, die Nichtregierungsorganisationen in der arabischen Welt unterstützt. Und sie hat zusammen mit der deutschen Journalistin Andrea C. Hoffmann das Buch „Freiheit für Raif Badawi“ über „die Liebe ihres Lebens“ geschrieben. „Bei jeder einzelnen Aktion denke ich: Diesmal ist es soweit! Diesmal müssen sie ihn freilassen“, sagt Ensaf. Aber es passiert nicht.
Die Araberin schätzt die Unterstützung, die sie von Menschen auf der ganzen Welt bekommt. Aber den Glauben in die westlichen PolitikerInnen hat sie inzwischen verloren. „Das Problem ist ja nicht nur die saudische Regierung. Sondern zum Beispiel auch die kanadische. Theoretisch verteidigen sie Raif, aber in der Praxis tun sie zu wenig, um ihn zu befreien“, klagt Ensaf. Sie erinnert sich noch daran, wie enthusiastisch Justin Trudeaus Versprechen klangen. Vor dem Wahlsieg. Aber seit Trudeau an der Macht ist, sei das Engagement spürbar abgekühlt.
Das letzte Mal habe sie im vergangenen Januar von ihm gehört, als er Sherbrooke besucht hat, erzählt Ensaf. Von solchen Treffen gibt es dann meistens ein Handyfoto. Ein lächelnder Trudeau mit Ensaf und den Kindern. Vor einigen Wochen haben sich Nedschua, Tirad und Miriam in einer Videobotschaft direkt an den Premierminister gewendet: „Monsieur Trudeau, bitte benutzen sie ihr Handy doch auch, um den Saudischen König anzurufen. Damit unser Vater zu uns zurückkommt.“ Schweigen.
Als im Mai dann der Besuch von Kanzlerin Merkel am Golf bevorstand, appellierte Ensaf direkt an die Kanzlerin: „Bitte beenden Sie diesen Alptraum und setzen sie sich für die Freilassung meines Mannes ein!“ Schweigen.
Im September fuhr Ensaf nach Genf, um vor dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen zu sprechen, in dem auch Saudi-Arabien mit einem Sitz vertreten ist (kein Witz!). Sie wendete sich direkt an den „Sehr geehrten Botschafter Abdulaziz Al-Wasil“, der den Golfstaat repräsentiert. Und sagte: „Ich habe mir meine Rolle nicht ausgesucht. Sie wurde mir auferlegt, nachdem ihr meinen Mann eingesperrt habt. Aber er hat kein Verbrechen begangen – er hat nur für eine bessere Zukunft seiner Heimat gekämpft.“ Und sie klagt: „Wann werden unsere drei kleinen Kinder ihren Vater endlich wiedersehen?“ Schweigen.
Das erste Mal hat Ensaf die Doppelmoral der PolitikerInnen im Januar 2015 erlebt, nach Raifs erster Auspeitschung. Während jenseits des Roten Meers das saudische Regime ihren Mann wegen „Beleidigung des Islams über elektronische Kanäle“ öffentlich folterte, inszenierten im Zuge des Attentats auf die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo 40 Staatschefs, darunter auch Kanzlerin Merkel, einen gemeinsamen Trauermarsch für die Opfer – im Namen der Meinungsfreiheit. Zusammen mit Riads Botschafter in Frankreich, dem Vertreter der Folterer. Auch Raifs Anwalt, der Menschenrechtsaktivist Waleed Abulkhair wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt.
Hat sich das saudische Königshaus eigentlich je bei ihr gemeldet? Nein, natürlich nicht! „Der saudische König steht hier“, sagt Ensaf und hebt ihre Hand hoch über ihren Kopf. „Und saudische Frauen wie ich, wir stehen da!“ Ensaf berührt mit ihrer Hand den Fußboden.
In diesem Moment klingelt ihr Handy. Auf dem Display blinkt Raifs Name. Ensaf greift hastig nach dem Telefon, nimmt ab, sagt leise „Hallo!“ und verschwindet dann sofort ins Nebenzimmer. Als sie nach nur wenigen Minuten wieder an den Tisch zurückkehrt, wird deutlich, wie stark die letzten fünf Jahre diese Frau aus Saudi-Arabien wirklich gemacht haben: Ensaf Haidar setzt sich hin und blickt still auf einen festen Punkt auf der Tischplatte. Dann holt sie Luft. Und macht weiter.
Ensaf schätzt die Unterstützung der Menschen. Aber den Glauben an die Politik hat sie verloren.
„Als ich Raif getroffen habe, war ich keine Intellektuelle. Aber ich habe mir mein ganzes Leben lang Fragen gestellt. Zum Beispiel: Warum ist mein Leben so anders als das von den Männern? Warum darf ich kein Auto fahren? Warum muss ich mich verschleiern? Ich habe die Abaya immer gehasst! Nicht auf einer intellektuellen Ebene – ich habe es einfach gehasst, sie anzuziehen!“ Schon in der Schule, berichtet Ensaf stolz, habe sie ihren Schleier immer leicht verrutschen lassen. Dann zeigt sie auf ihrem Handy das Foto einer vollverschleierten Frau, das sie im Internet gefunden hat und lacht. „Das ist doch hässlich!“
Mit einem Anruf auf dem Handy hat vor fast 20 Jahren alles angefangen. Damals lebte Ensaf noch zusammen mit ihrem Vater, dessen beiden Frauen und 15 Geschwistern in ihrer Heimatstadt Jaisan im Süden Saudi-Arabiens. Sie hatte gerade ihr Studium der Koranwissenschaft abgeschlossen und spielte mit dem Gedanken, Lehrerin an einer solchen Schule zu werden – eine der raren Möglichkeiten für saudische Frauen wie sie, überhaupt einen Beruf zu ergreifen. Da rief ein unbekannter Mann mit einer sympathischen Stimme an: Raif Badawi.
"Ich bin eine Kämpferin, ich muss die Erinnerung an Raif am Leben erhalten!
Ensaf war klar, dass sie nicht nur sich, sondern die ganze Familie „entehrte“, wenn sie mit Raif telefonierte. Aber der damals noch 18-Jährige ließ sich ab diesem ersten, zufälligen Telefonat nicht mehr abwimmeln. Bald sprachen die beiden heimlich stundenlang und verliebten sich ineinander – um schließlich gegen den massiven Widerstand von Ensafs streng konservativer Familie zu heiraten.
Dank dieser Gespräche fanden Ensaf und Raif endlich Worte für etwas, was sie zwar lange empfunden haben – aber was sie in Saudi-Arabien beide niemals aussprechen durften. „Ein Begriff wie liberal, den kannte ich anfangs gar nicht“, sagt Ensaf. Aber sie kannte diese Wut auf die restriktiven gesellschaftlichen Regeln in dem Gottesstaat.
Raifs im Jahr 2005 gegründetes Online-Forum machte ihn bald im ganzen Land bekannt und in der Wohnung des jungen Paares gingen nach nur kurzer Zeit saudische Intellektuelle ein und aus, um die Politik in ihrem Land zu diskutieren. Die (unverschleierte) Ensaf war Teil dieser Runden, was einer Revolution gleichkam. „Ich habe einfach nur den richtigen Mann getroffen – und er hat die richtige Frau getroffen,“ sagt Ensaf. Ihre eigene Familie hat den Kontakt zu ihr abgebrochen, weil Ensaf sich nicht scheiden lassen will. Und Raifs Vater fordert, den Sohn noch härter zu bestrafen.
Inzwischen hat Ensaf Haidar eine CD mit arabischer Musik aufgelegt. Sie hat genug geredet für heute, schweigend raucht sie Shisha auf ihrem Balkon. „Cinque ans, c’est trop!“ sagt sie noch einmal. Fünf Jahre sind zu viel.
Alexandra Eul