Cooler Sexueller Missbrauch?
Waren Sie überrascht, als die EKD am Dienstag die Zusammenarbeit mit dem Betroffenenbeirat aufgekündigt hat?
Katharina Kracht Nein. Der Beauftragtenrat hatte sich diesen Schritt schon im März vom EKD-Rat absegnen lassen, ohne dass wir dazu befragt wurden. Es hat mich trotzdem erstaunt, mit welcher Kompromisslosigkeit die EKD in das Gespräch gegangen ist, denn wir hatten ja Vorschläge gemacht, wie wir diesen Konflikt lösen könnten. Wir haben eine externe Mediation vorgeschlagen. Darauf ist die EKD aber gar nicht eingegangen.
Worin besteht der Konflikt zwischen dem EKD-Beauftragtenrat und dem Betroffenenbeirat?
Für mich persönlich fängt es damit an, dass die EKD schon seit 2010 seine Strategie der Vermeidung fährt. Sie hofft einfach, dass der Kelch an ihnen vorübergeht und sich die Aufmerksamkeit weiterhin auf die katholische Kirche richtet. Und dass die evangelische Kirche mit ein paar kosmetischen Maßnahmen durchkommt.
Woran machen Sie das fest?
Zum Beispiel daran, dass schon die Vorbereitung der Konzeption des Betroffenenbeirates sehr unprofessionell und chaotisch lief. Es gab immer wieder Warnungen der Betroffenen, dass das so nicht funktionieren wird. Die wurden aber in den Wind geschlagen. Es liegt bis heute kein Konzept für die Partizipation der Betroffenen vor.
Woran ist die Zusammenarbeit konkret gescheitert?
Die Aufgabe des Betroffenenrates sollte es sein, den Beauftragtenrat zu beraten und zu begleiten. Dazu muss es aber Zielvereinbarungen geben. Man muss klären: Wer macht was bis wann? Das ist aber nicht passiert. Wir mussten um jegliche Information, die wir bekommen haben, zuerst bitten. Oft wurden uns Informationen aber auch verweigert. Wir wurden zum Beispiel zum Teil nicht einmal informiert, wenn der Beauftragtenrat getagt hat. Uns wurde nicht mitgeteilt, was die Tagesordnung ist, und an welchen Punkten man gern unseren Input hätte. Protokolle haben wir erst nach mehreren Nachfragen bekommen, und dann in einer sehr inhaltsleeren Form. Es ging auch um die Ausstattung des Betroffenenbeirats. Der Beauftragtenrat hat eine Pressestelle und eine Fachstelle mit Vollzeit-Stellen, die Betroffenen machen das alles nebenbei nach langen Arbeitstagen auf eigene Kosten. Als wir uns mit diesem Anliegen an den Beauftragtenrat gewandt haben, wurde uns nicht geantwortet beziehungsweise nur indirekt über die Fachstelle. Die Bischöfe reden ja immer ganz viel von Augenhöhe. Für mich ist das aber keine Augenhöhe, sondern Augenwischerei. Ich habe den Eindruck, wir Betroffenen sollen vor allem dankbar sein.
Zur Synode im Herbst 2020 waren Sie nicht eingeladen. Warum nicht?
Es hieß, man könne uns nicht zumuten, an einer Synode im digitalen Format teilzunehmen. Dabei hätten wir gern selbst eingeschätzt, was wir uns zumuten können und was nicht. Man hat uns aber gar nicht erst gefragt. Und ich hätte mir das durchaus zugemutet. Ich denke: Man wollte uns einfach nicht dabeihaben.
Gibt es denn so viel Grund zur Kritik an der Aufarbeitung, dass die EKD sie womöglich nicht hören wollte?
Wir sprechen hier von 20 Landeskirchen und unendlich vielen Kirchenkreisen. Es gibt gute Beispiele, wo Aufarbeitung gelingt. Aber auch viele, wo das nicht der Fall ist. Ich bekomme viel Post von Betroffenen, und deren Geschichten folgen in der Regel einem Muster: Die Betroffenen melden sich bei der Landeskirche und die Reaktion ist erstmal in Ordnung. Der oder dem Betroffenen wird erstmal einfühlsam begegnet. Wenn die oder der Betroffene aber mehr möchte als seelsorgerliche Begleitung, dann wird es schwierig.
Was heißt das?
Bei der Seelsorge fühlt sich die Kirche sicher, da bleibt man ja auch im Machtgefälle: „Du kommst als armes Opfer und ich sorge mich um deine verletzte Seele.“ Wenn man aber aus der Opferrolle rausgeht und fragt: „Der Pastor, der mich missbraucht hat, lebt noch. Wie gehen Sie dem nach?“ Oder: „Der Pastor lebt nicht mehr, aber ich glaube, es gibt weitere Betroffene. Können Sie bitte weitere Kirchengemeinden informieren?“ Dann begegnen einem oft Vertuschungsstrategien. Ich höre immer wieder von Aufarbeitungsprozessen, die bis zu zehn Jahre dauern. Ich höre immer wieder von Betroffenen, die sich gemeldet haben, und deren Daten irgendwo rumliegen, ohne dass damit etwas passiert. Deshalb fordere ich schon lange eine unabhängige Ombudstelle. Die Kirche muss an dieser Stelle das Heft aus der Hand geben.
Anders als in der katholischen Kirche, wo autoritäre Hierarchien und eine rigide Sexualmoral heimlichen sexuellen Missbrauch begünstigten, fanden sexuelle Übergriffe in der evangelischen Kirche oft ganz offen statt. Man gab sich liberal und progressiv. Warum sollte da der coole Pfarrer nicht mal mit der Konfirmandin…? Tut sich die EKD womöglich schwer, solche Taten als sexuelle Gewalt anzuerkennen?
Das fängt schon viel früher an, nämlich bei den Opfern selbst. Man tut sich viel schwerer damit sich einzugestehen, dass man missbraucht wurde. Wir sprechen ja hier oft von pubertierenden Mädchen, nicht von Kindern. Es gibt in der evangelischen Kirche und ihren Einrichtungen natürlich auch Kinder als Opfer, vor allem in den Kinderheimen. Da hat krasse körperliche Gewalt stattgefunden und es wurden auch Kinder vergewaltigt. Aber ab den 70er und 80er Jahren sind Übergriffe unter dem Deckmantel der Progressivität und der Befreiung sehr spezifisch evangelisch. Deshalb dauert es schon mal sehr lange, bis so ein Mädchen begreift: Das war keine tragische Liebesgeschichte, die ich mit dem verheirateten Pastor mit den fünf Kindern hatte – das war Missbrauch!
Sie selbst waren 13, als Sie den Pastor kennenlernten, der Sie missbraucht hat. Wann haben Sie begriffen, dass das keine „tragische Liebesgeschichte“ war?
Ich hatte mit Mitte zwanzig Symptome einer Traumafolgestörung: Schlaflosigkeit, Migräne, Depressionen. Aber ich konnte das nicht einordnen. Damals wusste man noch nicht so viel über Trauma wie heute. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich verstanden hatte, dass ich in einer Missbrauchs-Beziehung gewesen war.
Waren Sie das einzige Opfer dieses Pastors?
Nein. In meinem Fall wissen wir von Betroffenen aus drei Kirchengemeinden ab 1972 bis ins Jahr 2000. Es war aber bekannt, dass er übergriffig war. Mädchen haben sich verabredet, nicht mehr allein mit ihm zu sein. In seiner ersten Gemeinde haben sich Mädchen hilfesuchend an eine Kirchenvorsteherin gewandt. Die hat das damals aber abgewiegelt. Der Pfarrer war ja auch sehr charismatisch und hat tolle Angebote in der Jugendarbeit gemacht.
Erkennt denn die Kirche solche Übergriffe heute als sexuelle Gewalt an?
Das ist unterschiedlich. In meinem konkreten Fall: Ja. Der Kirchenvorstand meiner ehemaligen Gemeinde ist damit im letzten Jahr sogar an die Presse gegangen, weil er wollte, dass diese Gewalt aufgeklärt wird. Das war ein mutiger Schritt. Es gab aber auch ehemalige Kirchenvorsteherinnen, die gesagt haben: „Ich weiß nicht, was das alles soll. Die hätte ja Nein sagen können!“ Dazu kann ich nur sagen: Wenn ich hätte Nein sagen können, hätte ich Nein gesagt. Mir begegnet immer wieder die Haltung, das sei schon alles nicht so schlimm gewesen.
Wie geht es denn jetzt weiter mit dem Betroffenenrat?
Wir haben immer gesagt, dass wir weiterarbeiten wollen. Aber dafür muss es klare Rahmenbedingungen geben, die uns als Betroffene davor schützen, immer wieder abgespeist und instrumentalisiert zu werden. Ich bin nicht mehr bereit, mich ständig von oben herab behandeln zu lassen. Dazu braucht es meiner Ansicht nach eine dritte, unabhängige Instanz. Wir haben uns an den Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten Johannes-Wilhelm Rörig gewandt, der uns zu einem Gespräch eingeladen hat. Vielleicht kann er vermitteln.
In der aktuellen Mai/Juni EMMA: Das Dossier "Protestantinnen - alles erreicht?"