Die Islamisierung Tschetscheniens
Der jüngste Krieg in und um Afghanistan, bei dem es darum ging, die radikal-islamischen Taliban von der Macht zu vertreiben und den Weg für eine neue politische Ordnung zu ebnen, hat auch ein neues Licht auf die kriegerischen Ereignisse in Tschetschenien geworfen.
Im Zusammenhang mit den Kämpfen um Mazar-i Sharif und Kundus im Norden des Landes am Hindukusch wurde erstmals einer breiten Öffentlichkeit klar, dass neben den einheimischen oder aus Pakistan stammenden Taliban auch viele tausend Kämpfer islamistischer „Brigaden“ in Afghanistan die Bataillone der afghanischen „Gotteskrieger“ um Mullah Muhammad Omar und Osama bin Laden verstärkten. Darunter waren – neben Angehörigen arabischer Länder – auch nicht wenige Tschetschenen. Sie fielen, wie man hörte, durch besondere Härte und Grausamkeit auf.
Haben sie am Hindukusch ihre Heimat gegen die Russen verteidigt? Oder ging es nicht einfach darum, im Rahmen jener von den Islamisten eingeforderten „islamischen Solidarität“ sich am Aufbau des Taliban-Staates und daran anschließend an der Expansion von dessen radikal-islamistischer Ideologie nach Mittelasien hinein zu beteiligen – mit dem Fernziel Russland? Zu den Hintergründen des Afghanistan-Krieges gehört neben dem Kampf gegen die Organisation al-Qaida, die mit Mullah Omar und dem Taliban-Regime eng verschränkt war, auch die Beseitigung neuer Bedrohungspotentiale, wie sie sich für die zentralasiatischen Anrainerstaaten an Afghanistans Nordgrenze abzeichneten: in Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisistan. In diesen Staaten hatte man dem Treiben der Taliban, aber auch den Kämpfen in Kaukasien schon seit geraumer Zeit mit großer Sorge zugesehen. Diese Sorge wird nicht dadurch obsolet, dass auch diese Regime alles andere als lupenreine Demokratien sind, sondern postkommunistische Autokratien.
Zwar ist die Region Mittelasien durch das Kaspische Meer vom Kaukasus getrennt, doch was in früheren Zeiten ein geografisches Hindernis für die Ausbreitung militanter Bewegungen und deren Propaganda gewesen sein mag, ist es heute, im Informations- und Mobilitäts-Zeitalter, schon lange nicht mehr. Die Bedrohung der mittelasiatischen Länder, die allesamt Mitglieder der GUS sind, war etwas, das – unabhängig von den Ereignissen in Tschetschenien – auch den russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht unbeeindruckt lassen konnte. Dieser saugt denn auch aus der Afghanistan-Krise am meisten politischen Honig; im Kampf gegen den Terrorismus im eigenen Lande – sprich: gegen die Tschetschenen – bekam er endgültig „carte blanche“, wenn nicht ausdrücklich, dann wenigstens unausgesprochen. Unter seinen russischen Landsleuten ist die Religion des Islams heute weitgehend diskreditiert, dazu haben die Tschetschenen nicht wenig beigetragen. Die Anschläge vom 11. September in den Vereinigten Staaten verstärkten, wie überall, diese Aversionen.
Um eines vorwegzunehmen: Wie alle Völker, so haben auch die Tschetschenen das Recht auf politische und kulturelle Selbstbestimmung. Sie »gehören« seit nun annähernd 200 Jahren zu Russland, erst zum Russischen Reich der Zaren, dann zur Sowjetunion, jetzt zur Russischen Föderation, ohne dass man sie jemals gefragt hätte, ob sie das überhaupt wollen. Stalin ließ sie, zusammen mit den stammesverwandten Inguschen, unter pauschalen Vorwänden 1944 aus ihren Siedlungsgebieten vorübergehend nach Mittelasien deportieren. Nicht allein aus ihrer Sicht leisten sie seit dem Untergang der Sowjetunion Widerstand gegen ungeliebte Besatzer und gegen Fremdherrschaft. Auch das neue Russland hat sich seit 1991 zahlreicher Verbrechen in Tschetschenien schuldig gemacht, nicht nur im ersten Krieg, der von 1991 bis 1996 dauerte, sondern auch im zweiten, der 1999 begann und noch anhält.
Doch der tschetschenische Prozess einer religiösen und kulturellen Selbstbesinnung, der ein Anknüpfen an islamische Traditionen sein sollte, geriet mehr und mehr in die Hände von Fanatikern. Der Aufbau einer islamischen Gesellschaft in Tschetschenien entwickelte sich, um es gelinde auszudrücken, zu einem Desaster. Die zehnjährige Geschichte der „Republik Itschkeria“ – so der einheimische Name Tschetscheniens – wurde eine einzige militärische, menschliche und politische Katastrophe. Und längst nicht alle Tschetschenen, die im Prinzip die freiheitlichen Aspirationen ihres Volkes begrüßen, sind mit der terroristischen Art und Weise einverstanden, in der auch auf ihrer Seite der Krieg geführt worden ist, von dem radikal-islamischen, islamistischen Eifer der wichtigsten „Feldkommandeure“, wie Schamil Bassajew oder Salman Radujew, gar nicht zu reden.
Dieser mehr und mehr terroristische Charakter des tschetschenischen Kampfes hat es den Russen leicht gemacht, alle Tschetschenen pauschal als „Terroristen“ und „Banditen“ abzustempeln. Schon in sowjetischer Zeit hatten die Kaukasier keinen guten Ruf in Moskau oder Leningrad (heute St. Petersburg), hatte man doch mit ihnen und mit den Aserbaidschanern Begriff e wie „Rauschgift-Mafia“ oder „kaukasische Mafia“ assoziiert. Im letzten Jahrzehnt verstärkte sich das. Sehr bald wurde auch im gerade wiedervereinigten Berlin von der Tschetschenen-Mafia geraunt – nicht zu Unrecht.
Das tschetschenische Desaster begann im Winter des Jahres 1991. Das konnte damals freilich noch niemand ahnen. Die Sowjetunion zerfiel, ihre bis dahin gleichgeschalteten und unterdrückten Völker nutzten die Chance, die sich seit Gorbatschows Perestroika abgezeichnet hatte und nun Wirklichkeit wurde. Am 27. Oktober wählen die Tschetschenen bei allgemeinen Parlamentswahlen auch einen Präsidenten: Dschochar Dudajew, einen ehemaligen Fliegergeneral der Sowjetarmee; er erhält 85 Prozent der Wählerstimmen. Am 2. November erklärt Dudajew, der in der Folge immer wieder mafioser Machenschaften beschuldigt werden wird, einseitig die Unabhängigkeit Tschetscheniens. Davon werden auch all jene Kräfte ermutigt, die dem islamischen Tschetschenien eine islamische Ordnung geben wollen.
„Zurück zum Scheriat“ (Scharia) lautet die Devise. In den Auls, den Dörfern der Tschetschenen, tanzen die Männer wieder den Zikr, jenen Ritus, der an den alten kaukasischen Derwischorden der Muriden, einen Kampfbund mystischer Prägung, anknüpft. Aus seinen Traditionen und aus der islamischen Ordnung soll das unabhängige Tschetschenien entstehen. Doch die Entwicklung gerät aus den Fugen, je länger der Prozess der Abnabelung von Moskau, in Verbindung mit dem Krieg, andauert.
Doch im Unterschied etwa zu dem benachbarten Dagestan, das schon vor tausend Jahren anerkannte islamische Schriftgelehrte hervorbrachte, ist der Islam in Tschetschenien ein relativ junges Phänomen. Er ist ungelehrt, ohne bedeutende Traditionen der Theologie oder islamischen Rechtskunde (fiqh). Die letzten Dörfer der Tschetschenen und auch der Inguschen wurden erst im 19. Jahrhundert zum Islam bekehrt. Es war zudem ein Islam, der stark von der Bruderschaft der Muriden beeinflusst war. In ihm mischten sich Vorstellungen einer populären Mystik mit Elementen des religiösen Gesetzes (Scharia) und kaukasischem Gewohnheitsrecht der Stämme (adet).
Den größten Einfluss erlangten die Muriden zwischen 1829 und 1859 unter ihrem dritten Imam, dem berühmten Schamil, einem Fürsten des Volkes der Awaren, dessen Name heute wieder in aller Munde ist im Kaukasus. Schamil leitete 30 Jahre lang den Widerstand der Tschetschenen und anderer Kaukasier des Nordens gegen die herandrängenden russischen Truppen, bis er schließlich mit seinen Kämpfern, die alle dem Muriden-Orden angehörten, kapitulieren musste. Die Russen nahmen ihn gefangen und schickten ihn anschließend ins Exil. Dort starb er 1871 in der heiligen Stadt Medina. Tschetschenien wurde zaristisch, schließlich kommunistisch.
Unter Schamil, dessen Wort Gesetz gewesen war, bestand für etwa eine Generation eine Art Kryptostaat im Nordkaukasus, in dem sich eine islamische Ordnung etablierte, die ganz seiner persönlichen Autorität als Führer der Muriden unterworfen war und sich nur zum Teil am religiösen Recht orientierte. Bevor sich dieser Staat strukturell ausgestalten konnte, brach er unter dem russischen Druck auch schon wieder zusammen. Der Kampf zwischen Russen und Tschetschenen vor eineinhalb Jahrhunderten war ungeheuer blutig, doch fiel immer wieder ein Element der Ritterlichkeit auf, das beide Seiten bewegte.
Nicht so in den beiden letzten der kaukasischen Kriege. Beide Tschetschenien-Kriege zeichnen sich durch ein seltenes Ausmaß von Brutalität aus. Die Russen, die am 11. Dezember 1994 nach jahrelangen Scharmützeln mit großer Heeresmacht einmarschierten, um dem Separatismus endlich ein Ende zu machen, unterschätzten die militärische Kampfkraft der Tschetschenen sträflich und waren auf deren Taktik kaum vorbereitet. Nicht vorbereitet waren sie außerdem darauf, dass sie unter den Kämpfern der Kaukasier auch auf Leute trafen, die aus aller Herren Länder der islamischen Hemisphäre kamen: aus Jordanien, Algerien, Ägypten, zunehmend auch aus Afghanistan.
Sie trugen um die Stirne das grüne, mit dem Glaubensbekenntnis geschmückte Band der Mujaheddin (Grün gilt traditionell als die „Farbe des Propheten“), jener zum „Martyrium“ bereiten „Gotteskrieger“, die man etliche Jahre zuvor schon auf den Straßen und Plätzen Teherans, ja auch im iranisch-irakischen Krieg gesehen hatte. Alarmiert waren davon nur wenige; besonders die professionellen Beobachter der Szene, die Journalisten, übersahen augenscheinlich die Gefahren, die von diesen Glaubenseiferern und ihrem Netzwerk ausgingen: Ihre Motivation war der „kompromisslose Djihad“ mit allen, auch terroristischen Mitteln. Der jordanische Feldkommandeur Chattab, ein Schützling Osama bin Ladens, war der bekannteste dieser „Gotteskrieger“ panislamischer, islamistischer Färbung. Er war bald ebenso berüchtigt wie die tschetschenischen Kommandeure Bassajew und Radujew.
Die russischen Quellen sprachen und sprechen immer von „Wahabiten“, wenn sie jene terroristischen panislamischen Elemente im Kaukasus meinen – ein Begriff, der freilich zweideutig war und ist. Die Russen meinen damit oft genug alle Muslime in ihrem Land, die sich für ihre Religion einsetzen; so wird der Begriff auch pejorativ gebraucht. Eigentlich ist der Wahabismus in Saudi-Arabien zu Hause, wo er die herrschende Lehre stellt. Doch mit Hilfe des saudischen Geldes, das auch an die Tschetschenen floss, wurde der Einfluss dieser strengen islamischen Auslegung in Tschetschenien in einer Weise spürbar, die dort früher unbekannt gewesen war.
Als es dann darum ging, die – theoretisch schon 1993 eingeführte – Scharia auszugestalten, war der Einfluss Saudi-Arabiens über die Kämpfer der internationalistischen „islamischen Brigade“ und über die Finanzmittel schon nicht mehr einzudämmen. Und die religiösen Kenntnisse im Lande waren gering, zumal nach Jahrzehnten der Fremdherrschaft, in denen Kundgebungen der Religion niedergehalten worden waren. Der Islam ist, nach einem berühmten Wort von Ernest Gellner, der Entwurf einer Gesellschaftsordnung. Die Scharia ist ihre Form. Große Teile dieses religiösen „Gesetzes“, etwa all jene, die nur das Glaubensbekenntnis und den Ritus betreffen, sind unproblematisch. Als schwierig und mit modernen Rechtsvorstellungen gänzlich unvereinbar erweisen sich hingegen alle Teile, die – neben der auf dem Vergeltungs-Prinzip beruhenden islamischen Strafjustiz – den Konzeptionen moderner Freiheitsrechte zuwiderlaufen, etwa dem Prinzip des religiösen Pluralismus, der Glaubens- und Gedankenfreiheit, der Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Die in Kaukasien weit verbreitete Blutrache (kanly) konnte zwar durch das islamische Recht ein wenig eingedämmt werden, da die „Rache“ etwa für einen Mord, der Vergeltung erheischt, durch den Staat vollzogen wurde, doch ändert dies nichts daran, dass die schweren Körperstrafen der Scharia und auch das Vergeltungsprinzip in der Strafjustiz als Rückfälle in vormoderne Zeiten zu bewerten sind. Dies gilt ja selbst für den Fall, dass sie nicht vollstreckt werden.
Vollstreckt wurden jedoch Todesurteile an Frauen, denen man „Ehebruch“ vorgeworfen hatte – Urteile einer Terrorjustiz mit oft mehr als fragwürdigen „Beweismethoden“ und juristischen „Verfahren“, wie man sie zur selben Zeit meistens aus jenen Ländern mit islamistischer Staatsform, wie Iran, Sudan oder Saudi-Arabien, auch Pakistan, beobachten konnte und kann. Auch dieses Treiben gab nur wenigen im Westen zu denken, war es hier und da doch sogar Mode geworden, Kritiker solcher Entwicklungen pauschal als „Feinde des Islams“ oder Fabrikanten eines „Feindbildes Islam“ zu denunzieren. Berichte, unter dem Druck tschetschenischer Mujaheddin komme es zu Enthauptungen von „Verrätern“ oder „Abtrünnigen“, wurden als russische Gräuel-Propaganda bezeichnet. In der Sowjetzeit mochten die Tschetschenen religiös und kulturell unterdrückt worden sein, doch die Frauen hatten einen großen Teil ihres traditionellen Gehorsams und des Sich-Fügens in die alten Sitten mit dem Schleier abgelegt.
Wenn der Kommunismus unter den Kaukasiern bei aller Entfremdung von den eigenen Wurzeln überhaupt etwas Positives bewirkt hatte, dann waren es deutlich sichtbare Zeichen einer Emanzipation der Frauen gegen die alten patriarchalischen, unter anderem durch die Scharia sanktionierten Praktiken. Dies alles kam nun wieder. Wieder kam auch, obschon nicht als durchgängige Regel, der Baschmet, der traditionelle Gesichtsschleier, und – was den Einfluss radikalislamischer Eiferer am deutlichsten zeigte – der Versuch, eine Verhüllung des gesamten Körpers der Frau durchzusetzen, wie sie in Iran unter den Mullahs (als Tschador oder Hedschab) und in Afghanistan unter den Taliban (als Burka) unter Strafandrohung angeordnet wurde.
Doch berechtigt uns dies, von einer „Talibanisierung“ Tschetscheniens zu sprechen? Der amerikanische Reporter Peter Arnett, bekannt geworden durch seine exklusiven Berichte während des Golfkrieges aus dem Raschid-Hotel in Bagdad, erfuhr schon im Jahre 1998 in einem Gespräch mit dem aus Saudi-Arabien stammenden „Erzterroristen“ Osama bin Laden, dass nicht allein Mujaheddin aus etlichen Ländern, sondern speziell Kämpfer der Terrororganisation al-Qaida an der Seite der Tschetschenen in den Krieg eingegriffen hätten, eine Nachricht, die damals kein großes Aufsehen in der westlichen Öffentlichkeit erregte, auch nicht in der amerikanischen.
Beide Regime erkannten sich auch wechselseitig diplomatisch an, obwohl vor allem die Taliban um eine Anerkennung durch die übrigen Glaubensbrüder schwer zu ringen hatten. Nur Pakistan, das die Taliban geschaffen hatte, Saudi-Arabien, das sie finanzierte, und die Vereinigten Arabischen Emirate tauschten Botschaft er mit ihnen aus.
In Tschetschenien selbst endete der erste Krieg 1996 mit dem Abkommen zwischen dem als gemäßigt geltenden Aslan Maschadow und Alexander Lebed. Es regelte den Abzug der russischen Truppen und gewährte Tschetschenien eine faktische Autonomie bei Verbleib in der Russländischen Föderation. Der endgültige völkerrechtliche Status blieb jedoch ungeklärt.
Manches spricht dafür, dass am Ausbruch des zweiten Tschetschenien-Krieges der Einfluss der Taliban wie der al-Qaida-Kämpfer im Kaukasus nicht unbeteiligt war. Hatten tschetschenische Kommandos schon im ersten Krieg vor terroristischen Übergriff en wie Geiselnahmen schon nicht zurückgeschreckt, so verstärkte sich diese Taktik in der folgenden Zeit radikal. Besonders das Eindringen tschetschenischer (und anderer) Kämpfer in Dagestan am 10. August 1999, das als Auslöser des zweiten Krieges angesehen werden kann, trägt die Handschrift des islamischen Internationalismus im Stile von al-Qaida. Solche bewaffneten Vorstöße kleiner Guerillagruppen mit dem Ziel, das angegriffene Gebiet oder den betreffenden Staat zu verunsichern, ihn in Schwierigkeiten zu bringen, gehören zur Taktik islamistischer Banden auch in Zentralasien, etwa in Usbekistan, Tadschikistan oder Kirgisistan. Deren Bezug zu den Taliban war deutlich.
Auffällig ist auch, wie sehr die Auseinandersetzung Ende der 90er Jahre mit Sprengstoff geführt wurde, gerade zu einer Zeit, da die al-Qaida nachweislich schwere Anschläge in anderen Teilen der Welt unternahm. Im Sommer 1998 waren die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam in die Luft geflogen, am 31. August
1999 beginnt nach der Explosion einer Bombe im Zentrum von Moskau eine Serie von Anschlägen in verschiedenen russischen Städten, bei denen fast 300 Menschen getötet werden. Die russischen Behörden beschuldigen tschetschenische Terroristen, die Bomben gelegt zu haben.
Bis heute herrscht Unklarheit über die Hintergründe dieser grauenhaft en Terrorwelle. Bisweilen schrieb man sie auch russischen „Agents Provocateurs“ zu. Ausgeschlossen ist das nicht. Indessen machen der Zeitpunkt und unsere gründlicher gewordene Kenntnis der al-Qaida immer wahrscheinlicher, dass tschetschenische „Hardliner“, denen der nach dem ersten Krieg errungene Status ihrer Republik nicht ausreichte, die Anschläge ausgeführt haben, um die Russen zu Gegenreaktionen zu veranlassen.
Diese kamen. Am 23. September 1999 begannen die Russen mit einer Serie von Bombenangriff en auf Ziele in Tschetschenien, eine Woche später marschierten russische Bodentruppen ein und stießen auf erbitterten Widerstand tschetschenischer Krieger. Heute ist die Hauptstadt Grosnyj ein einziges Trümmerfeld, 30.000 Menschen haben ihr Leben verloren und der Krieg dauert fort.
Das tschetschenische Desaster hat einen Scheinsieger hervorgebracht und viele Verlierer. Die Russen haben zwar, oberflächlich betrachtet, militärisch gesiegt, doch können sie die Tschetschenen in den südlichen Bergen niemals in die Knie zwingen. Die Städte des Landes sind zerstört, viele seiner Menschen auf der Flucht. Die Wirtschaft ist zerrüttet, die Erdölfelder im Norden, im Terek-Gebiet, wurden von den Tschetschenen selbst unbrauchbar gemacht. Eine funktionierende islamische Gesellschaft wurde nicht aufgebaut, sondern ist nicht zuletzt durch den Fanatismus und Terrorismus der „Hardliner“ gescheitert. Junge Tschetschenen, die zwar den Widerstand gegen die Russen unterstützen, beklagen den Despotismus islamistischer Eiferer, welcher der Unterdrückung durch die Russen nicht nachstehe.
Umgekehrt kann auch Russland seines so genannten Sieges in Grosnyj nicht recht froh werden. Die Gefahr des Terrorismus ist nicht gebannt, der Krieg nicht wirklich beendet. Präsident Putin fasst den internationalen, von den Amerikanern angeführten Kampf gegen islamistische Terroristen als eine Art Freibrief auf, der ihn zum Gebrauch aller Mittel gegen die Kaukasier berechtige.
So bleiben nicht nur auf der Seite islamistischer Eiferer, sondern auch bei den Russen die Menschenrechte auf der Strecke. Russland muss, gerade wenn es mit seinen Millionen Muslimen auf Dauer in Frieden leben will, einen Weg finden, um den politischen und kulturellen Pluralismus seiner Minderheiten zu garantieren. Das ist nicht einfach, und bis heute kennt niemand den Weg.
Die russischen Muslime, die Tschetschenen eingeschlossen, haben nur eine Zukunft, wenn sie sich auf eine Modernisierung und Demokratisierung einlassen, die auch dem übermächtigen Russland noch bevorsteht. Allerdings muss Russland sie daran auch teilhaben lassen. So ist heute – trotz des Endes der Taliban – ein Ende des tschetschenischen Desasters noch nicht abzusehen.
Wolfgang Günter Lerch
Der Text ist ein Auszug aus dem Buch von Alice Schwarzer (Hrsg.): "Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz" (KiWi, 2002, vergriffen - im FrauenMediaTurm)