Judith Godrèche bricht die Omertà
Der César ist der französische Oscar. Erwartungsgemäß und verdient wurde „Anatomie eines Falles“ von Regisseurin Justine Triet mit Sandra Hüller in der Hauptrolle mit den goldenen Statuetten überschüttet. Sowohl der Film gesamt wie seine Hauptdarstellerin erhielten den vergoldeten César. Die Sensation des Abends aber war eine andere.
Es war die überraschende Rede von Judith Godrèche, 51, Tochter von zwei Pariser PsychoanalytikerInnen und beim Film seit Kindesbeinen. Sie hielt eine Fünf-Minuten-Rede, die, so die französischen Medien, das französische Kino verändern wird. Es war eine Rede, die die Herzen stocken ließ.
„Ich bin Teil dieser Familie, dieser eigenartigen Familie. Die meisten von Ihnen kennen mich“, sagte sie. „Es ist nicht einfach für mich, hier zu reden. Sie sind viele. Aber ich bin auch viele. Ich bin all diese Mädchen, die selber keine Stimme haben.“
Mit Wissen ihrer Eltern hatte Judith ab 14 mit dem 25 Jahre älteren, in Frankreich bekannten Regisseur Benoit Jacquot zusammengewohnt. Sie bezichtigt ihn heute, sie geschlagen und vergewaltigt zu haben. Und von Zeit zu Zeit auch „verliehen“ zu haben an seinen Kollegen Jacques Doillon, ebenfalls ein bekannter Regisseur.
Hinzu kommt der Regisseur, der sie in sein Bett gezogen hat, um „zu erkennen, wer du wirklich bist“. Und „die vielen, vielen, vielen dreckigen Hände, die sich auf meine Brust gelegt haben“. Reaktion? Schweigen. Oder, noch schlimmer, Flüstern.
Der Auftritt von Godrèche an diesem wichtigsten Abend des französischen Cinemas, war überraschend. Sie war nicht angekündigt. Doch die Veranstalter hatten ihr den Auftritt eingeräumt.
„Wir sollten das Schicksal des französischen Films nicht länger Männern überlassen, die der Vergewaltigung angeklagt sind“, sagte sie. Und: „Um an sich selbst glauben zu können, muss einem geglaubt werden.“ Die Gäste an diesem Abend, tausende, glaubten Judith Godrèche. Endlich. Sie erhoben sich nach ihrer Rede für Standing Ovations.
Judith Godrèche ist nicht die erste in der französischen Filmbranche, die gegen die Kultur des Missbrauchs und der Vergewaltigung – vor allem sehr junger Frauen – anrennt. Im Jahr 2020 war es Adèle Haenel, ebenfalls selber missbraucht, die mit Eklat die Zeremonie der Verleihung des César verließ. Grund: der Ehren-César für Roman Polanski. Der franco-polnische Regisseur war vor Jahrzehnten in Amerika für die Vergewaltigung eines jungen Mädchens verurteilt worden und floh deshalb nach Frankreich. Bis heute ist sein weiter praktiziertes Faible für Mädchen und sehr junge Frauen bekannt. Es scheint niemanden zu stören.
Adèle Haenel hat sich mit ihrem Protest die Nase blutig gestoßen. Sie wurde so brutal gemobbt, dass die für ihr singuläres Spiel hochgeschätzte Schauspielerin angewidert und entmutigt dem Film den Rücken kehrte.
Judith Godrèche wird wohl nicht die letzte sein, die gegen dieses „Bollwerk des Mädchenhandels“ im französischen Film anrennt; nicht nur im französischen Film, aber in dem besonders. Sie konfrontiert die Elite des Cinemas mit ihrer „Vergangenheit, die nicht vergeht“. Innerhalb von nur vier Tagen, sagte sie, habe sie rund 2.000 Schreiben der Zustimmung erhalten, oft auch von Betroffenen. Eines ist klar nach diesem Auftritt: Es wird nicht so weitergehen wie bisher in der „eigenartigen Familie“.
"Ayons le courage de dire tout haut ce que tout le monde pense tout bas..."
Le discours engagé de Judith Godrèche sur la scène des #César2024. pic.twitter.com/8EryHo0hGl— CANAL+ (@canalplus) February 23, 2024
Und in Deutschland? Gibt es da keine sexuellen Erniedrigungen und Gewalt in der Filmbranche? Diese Branche, die so besonders verführt zu Übergriffen von Männern auf Frauen. Doch. Aber wir hören nichts. Die Omertà scheint hierzulande noch größer zu sein als in Frankreich.
Sexismus? Kein Thema für die Berlinale zum Beispiel. Da erhielt ein mittelmäßiger Dokumentarfilm den Goldenen Bären, nur weil es darin politisch korrekt um die Rückführung von 24 Statuen (von tausenden in Frankreich) nach Benin ging.
Und ansonsten überstrahlte der Protest gegen Israel mit demonstrativen Palästinensertüchern auf der Bühne das Festival. Von den 1.139 Opfern der Hamas, darunter viele vergewaltigte Frauen, und den Geiseln war auf dieser Bühne nicht die Rede. Von den auch im deutschen Film von sexueller Gewalt betroffenen Mädchen und Frauen schon gar nicht.
Judith Godrèche sprach auf der Bühne in Paris auch von ihrer Angst. Der berechtigten Angst, Rollen und Arbeit zu verlieren. Diese Angst herrscht verständlicherweise auch in Berlin. Adèle Haenel ist ein Opfer ihres Mutes geworden. Judith Godrèche scheint ihre Courage zu überleben. Und vielen Ihresgleichen den Horror zu ersparen. Dank mutiger Frauen wie ihr wird vielleicht den heutigen jungen Frauen diese frühe Brechung erspart bleiben. Sie erhalten die Chance, einen aufrechten Gang zu gehen.
ALICE SCHWARZER