Das Kabinett hat gerade das Reformpaket von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) verabschiedet. Mit neuen Gesetzen soll sexueller Missbrauch besser bekämpft werden können. Nach den Skandalen von Lügde, Bergisch Gladbach und Münster passiert endlich etwas. Aber ist es genug? EMMA hat darüber mit Julia von Weiler von der Initiative "Innocence in Danger" gesprochen. Sie erklärt, was an den neuen Gesetzen gut ist - und was fehlt.
2. September 2020 / aktualisiert: 22. Oktober 2020
von
Chantal Louis
Julia von Weiler von der Initiative "Innocence in Danger".
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Frau von Weiler, die Justizministerin fand es zunächst überflüssig, sexuellen Missbrauch vom „Vergehen“ zum „Verbrechen“ zu machen. Ihre Begründung: Die Gerichte sollten den schon jetzt vorhandenen Strafrahmen ausschöpfen. Die Ministerin hat Recht und Unrecht zugleich. Bisher gilt nur der „schwere“ Missbrauch als Verbrechen, also sexuelle Handlungen an einem Kind, die mit Eindringen in den Körper verbunden sind. Es ist aber absolut wichtig, auch den sogenannten „einfachen“ Missbrauch zum Verbrechen zu machen, also zum Beispiel, ein Kind „nur“ zu berühren. Erstens, um deutlich zu zeigen: Sexualisierte Gewalt an Kindern ist ein Verbrechen. Punkt. Zweitens wird die Mindeststrafe dann künftig bei einem Jahr liegen. Das bedeutet, dass kein Strafbefehl mehr möglich ist und auf jeden Fall ein Gerichtsverfahren stattfindet. Gleichzeitig hat die Ministerin aber Recht, wenn sie sagt, dass Gerichte sehr oft den schon jetzt möglichen Strafrahmen nicht ausschöpfen und wirklich häufig Bewährungsstrafen verhängen.
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Laut Rechtspflegestatistik wurden 2018 ganze 505 Missbrauchs-Täter zu Freiheitsstrafen verurteilt, davon 411 zur Bewährung. Warum? Ein Grund ist: Wenn der Täter ein Geständnis ablegt und Reue zeigt, gilt das ja schon als strafmindernd. Aber wir müssen davon ausgehen, dass Reuebekundungen von Tätern oft strategisch eingesetzt werden, um mit einer milderen Strafe davonzukommen. Ein zweiter Grund ist, dass die Richter und Richterinnen an den jeweiligen Strafgerichten oft zu wenig vom Thema sexueller Missbrauch verstehen. Sie müssten in diesem Thema dringend besser aus- und fortgebildet sein.
In den Fällen Staufen und Münster haben Familiengerichte kein Problem darin gesehen, dass Täter, die bereits wegen Missbrauch bzw. dem Besitz extrem brutaler Kinderpornografie verurteilt worden waren, mit den Kindern ihrer Lebensgefährtinnen zusammenlebten. Im Fall Münster wies das Gericht das Jugendamt sogar an, sich aus der Familie zurückzuziehen. Jemand, der Missbrauchsdarstellungen konsumiert, ist ja schon Täter. Und es ist mir schwer begreiflich, dass die Richter und Richterinnen offenbar nicht verstanden haben, welcher Gefahr sie das Kind mit ihrer Entscheidung ausgesetzt haben. Am Familiengericht müsste man das eigentlich wissen, aber diese Themen sind eben nicht Bestandteil der Ausbildung von Juristinnen und Juristen. Sexueller Missbrauch ist ja noch nicht mal Bestandteil der Ausbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern. Wir haben schon vor über zehn Jahren gefordert, dass alle, die beruflich mit dem Thema Missbrauch zu tun haben, dafür sehr gut geschult sein müssen. Ich erinnere mich an einen Fall, da hat ein Richter, der fünf Kinder wieder zurück in die Missbrauchs-Familie geschickt hat, in sein Urteil geschrieben: „Kinder werden schicksalhaft in ihre Familie geboren und es ist nicht Sache der Behörden, dies zu ändern.“ Solange so etwas möglich ist, läuft im System etwas komplett schief.
Nun will die Justizministerin ja die Richterinnen und Richter verpflichten, sich fortzubilden. Ja, und das ist gut. Aber solche Fortbildungen sind Ländersache. Deshalb kann sie eine Fortbildungspflicht den Ländern nur vorschlagen, aber nicht vorschreiben. Hoffen wir, dass die Länderhoheit dieses wichtige Vorhaben nicht verhindern wird.
Es fällt auf, dass Hinweise auf Kinderpornografie oft aus dem Ausland kommen. Auch im Fall Bergisch-Gladbach war es ein Hinweis aus den USA, der das erste Puzzlestück zu dem Pädosexuellen-Netzwerk geliefert hat. Zur Zeit gibt das amerikanische „National Center for Missing and Exploited Children“ täglich zwischen 100 und 200 Meldungen über Bilder von Kindesmissbrauch ans deutsche BKA. Denn in den USA und übrigens auch in Kanada existiert schon seit 2008 eine Meldepflicht für Provider, inclusive der IP-Adressen der Täter. Mit dem sogenannten Netzwerkdurchsetzungsgesetz kommt diese Meldepflicht jetzt auch in Deutschland. Allerdings sind die Provider nicht von sich aus verpflichtet, aktiv nach Missbrauchs-Bildern zu suchen. Sie geben also nur die Bilder weiter, die ihnen von Usern gemeldet werden.
Hat die Polizei in Deutschland zu wenig Befugnisse, Stichwort: Vorratsdatenspeicherung? Die Tatsache, dass die Daten nicht lange genug vorgehalten werden, damit die Ermittler darüber die Täter finden können, ist in der Tat ein Riesenproblem. Ich verstehe, dass man um Dinge wie den Datenschutz ringen muss, aber ich finde, wir ringen jetzt schon sehr lange und ich werde langsam ungeduldig. Ich möchte mal folgenden Vergleich bringen: Ich fahre sehr viel Auto und werde immer wieder mal geblitzt. Diese Blitzer ermöglichen eine kontinuierliche Überwachung des Verkehrs. De facto schlagen sie ja aber nur dann zu, wenn ich die Geschwindigkeit tatsächlich überschreite. Mit den Vorratsdaten ist es das gleiche: Sie werden auch nur dann an die Polizei weitergegeben, wenn ein Verdacht besteht und dazu braucht es einen richterlichen Beschluss. Die Hürden sind in Deutschland sehr hoch. Und wir müssen unsere Polizei in die Lage versetzen, Verbrechen im digitalen Raum genauso bekämpfen zu können wie analog.
Wie das funktionieren kann, sieht man gerade am Beispiel NRW. Genau. Und dort werden jetzt massenhaft die Fälle und Netzwerke entdeckt, von denen wir schon lange sagen, dass es sie gibt. Aber vor zehn Jahren hat man uns noch einen Vogel gezeigt. Leider haben wir Recht behalten. NRW hat sich jetzt wirklich auf den Weg gemacht. Aber das alleine reicht nicht. Jetzt müssen die anderen 15 Bundesländer folgen.
Sie fordern: Personen, die sexuellen Missbrauch entdecken, zum Beispiel Ärzte oder Therapeutinnen, müssen rechtlich geschützt werden. Warum? Nehmen wir an, ich habe als niedergelassene Psychologin ein Kind in Therapie und erfahre, dass das Kind zu Hause sexuelle Gewalt erlebt. In den USA oder Großbritannien wäre ich dann verpflichtet, das zur Anzeige zu bringen. In Deutschland bin ich das nicht. Wenn ich es aber trotzdem zur Anzeige bringe, kann das schlimme Konsequenzen haben. Es gibt ja seit den 1990er Jahren die „Missbrauch-mit-dem-Missbrauch“Bewegung, die alle, die sich auf die Seite der Opfer stellten, als feministische Hysterikerinnen und Männerhasserinnen diffamierte. Diese Netzwerke gibt es immer noch. Und die formieren sich, wenn eine Anschuldigung im Raum steht. Deshalb fordern wir, dass die Berufsgruppen, die Kinder unterstützen, nicht allein auf weiter Flur stehen dürfen. Es darf zum Beispiel nicht passieren, dass sie darüber pleite gehen, weil sie mit Verleumdungsklagen überzogen werden.
Sie haben gerade eine Kampagne gestartet: An ganz alltäglichen Orten, wie Häuserwänden oder Wohnwagen, strahlen Leuchtreklamen: „Sexueller Missbrauch hier!“ Der Claim lautet: „Es passiert überall – wir müssen nur hinsehen.“ Was sollen Menschen tun, wenn sie einen Verdacht haben – aber keine Beweise? Sie sollen ihre Sorge ernst nehmen. Und dann sollen sie bitte, bitte den ersten Schritt tun und zum Beispiel das Hilfetelefon Missbrauch anrufen. Dort sitzen Profis, mit denen sie überlegen können, wie es jetzt weitergehen kann. Außerdem können sie direkt in eine Fachberatungsstelle vor Ort gehen, in Köln also zum Beispiel zu „Zartbitter“. Von da an allerdings muss das staatliche Hilfesystem funktionieren. Das bedeutet: Es muss genügend Fachberatungsstellen geben und es müssen natürlich auch in den Familienberatungsstellen, in der Schulsozialarbeit und in den Jugendämtern genügend gut ausgebildete Menschen sitzen, die sich mit diesem Thema auskennen und professionell handeln.
Das ist aber oft nicht der Fall. Das ist leider richtig. Viele Stellen in den Jugendämtern sind unbesetzt oder dort sitzen junge, unerfahrene Menschen, die mit dem Thema überfordert sind. Das Jugendamt hat in der Tat ein riesiges Problem. Es wägt immer ab zwischen Kindeswohl und Elternrecht. Und oft werden dort Entscheidungen getroffen, ohne dass jemals mit den Kindern gesprochen wurde. Wie es ja jetzt auch in Münster wieder der Fall war.
Bisher mussten Kinder unter 14 Jahren in solchen Verfahren nicht angehört werden. Jetzt will die Justizministerin festlegen, dass das Kind nur in begründeten Ausnahmefällen nicht angehört werden darf. Das ist ein sehr wichtiger Punkt! Deshalb wäre es auch hilfreich, Kinderrechte im Grundgesetz festzuschreiben. Ich habe das lange für reine Symbolpolitik gehalten. Aber inzwischen finde ich: Wenn wir diese Symbolik brauchen, damit sich etwas bewegt, dann her damit! Wenn wir es anders nicht verstehen, dass Kinder Menschen sind, die Rechte und eine eigene und sogar besonders schützenswerte Würde haben, dann sollten wir das ins Grundgesetz schreiben. INFO „Innocence in Danger“ kämpft mit Kampagnen und Aufklärungsarbeit gegen sexuelle Gewalt an Kindern, speziell durch Täter im Internet.
Im Januar 2019 erfährt die Öffentlichkeit von dem Grauen, das sich auf dem nur scheinbar idyllischen Campingplatz in Lügde zugetragen hat. Andreas V. hat nicht nur seine Pflegetochter missbraucht, sondern insgesamt 32 Kinder. Die Taten hat er, oft in Anwesenheit von Mittätern, gefilmt. Im September wird V. zu 13 Jahren Haft verurteilt, sein Mittäter Mario S. zu zwölf Jahren, beide bekommen Sicherungsverwahrung. Jetzt rollt die vierteilige ZDF-Dokumentation "Die Kinder von Lügde" (18.11., ZDFinfo, 20.15-23.15 und in der ZDF-Mediathek) den Skandal noch einmal auf: Vom desaströsen Versagen von Jugendämtern und Polizei bis hin zur schleppenden Hilfe für die Opfer. Und es ist nicht vorbei: Weder für die Opfer, das jüngste vier Jahre alt, noch für den Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags. Der hat gerade seine Ermittlungen wieder aufgenommen. Er vermutet weitere Täter, die bisher nicht ermittelt wurden... EMMA-Redakteurin Chantal war im Sommer 2019 in Lügde und hat mit Menschen gesprochen, die wirklich etwas verändern wollen.
26. Juni 2019 / aktualisiert: 18. November 2022
von
Chantal Louis
„Für die Würde der Kinder“ - diese Installation aus Schuhen erinnert an die Opfer.
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Das kleinste Paar Schuhe ist himmelblau und hat Schuhgröße 22. Die Schühchen würden einer Dreijährigen passen. Das kleinste Kind, an dem sich Andreas V. in seiner Bruchbude auf dem Campingplatz von Lügde verging, ist gerade mal ein Jahr älter. Ein vierjähriges Mädchen war das jüngste Opfer des Serientäters und seiner Komplizen, das älteste 13.
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Man kann und mag sich kaum vorstellen, was auf diesem Campingplatz passiert ist. Aber wenn man auf diese 50 Paar Schuhe schaut, die mitten in der Hamelner Fußgängerzone vor der Marktkirche St. Nikolai aufgestellt sind, rückt das Grauen beklemmend nah. Blaue Gummistiefel mit Dinosauriern drauf, kleine rosa Crocs, noch kleinere weiße Ballerinas, lila Schläppchen mit schielenden Stoffaugen. Und in jedem dieser Schuhpaare steckt ein Kind. Das zu begreifen, ganz konkret, darum geht es hier bei dieser Aktion.
Als die Kirchenglocke fünf schlägt, ergreift eine kleine, zarte Frau um die fünfzig das Wort. „Wenn von sexuellem Missbrauch die Rede ist, geht es häufig um die Täter“, sagt sie, so laut sie kann, in Richtung der vorbeieilenden Passanten. „Uns geht es um die Kinder.“ Und dann schweigen die rund 30 Frauen und Männer, die sich um die Schuhe herum aufgestellt haben. Ihre Transparente bilden die Außenwände dieser ungewöhnlichen Installation. „Entsetzen, Trauer, Scham“ steht darauf, „Für die Würde der Kinder“ und „Schweigen für die Kinder von Lügde“.
An jedem ersten Mittwoch im Monat stehen sie hier und schweigen eine halbe Stunde lang. Warum Schweigen? Haben die Kinder, die Opfer von Andreas V. geworden sind, nicht viel zu lange geschwiegen? Und erst recht die Leute auf dem Campingplatz, die vom Treiben des Täters doch etwas mitbekommen haben müssen? Ist es nicht gerade das Schweigen, sei es aus Angst oder aus Gleichgültigkeit, das Aufklärung verhindert? Ja, eigentlich.
Aber nachdem der Fall Lügde im Januar 2019 bekannt wurde, wurde pausenlos geredet. Eine Schlagzeile jagte die nächste, eine Pressekonferenz folgte der anderen, NRW-Innenminister Reul gab hastig Statement nach Statement ab. Es war ja auch schockierend, was da alles ans Tageslicht kam. Das Hamelner Jugendamt, das diesem verwahrlosten Mann ohne eigenes Einkommen allen Ernstes ein Pflegekind anvertraut und anschließend die Akten frisiert hatte; zig Hinweise auf sexuellen Missbrauch, die alle zwischen Jugendamt und Polizei versandet waren; der Koffer mit 155 CDs, der aus dem Polizeirevier verschwunden war; weitere CDs, die Bauarbeiter erst bei den Abbrucharbeiten entdeckten. Über all das wurde geredet. Nur über eins nicht: die Kinder.
„Die Kinder sind aus dem Fokus gerutscht“, sagt Ina Tolksdorf, eine der InitiatorInnen der Schuh-Aktion. Wie geht es den Kindern jetzt? Bekommen sie Unterstützung, zum Beispiel eine Therapie? Werden sie von der Polizei einfühlsam und kindgerecht befragt? Müssen sie im Prozess, der jetzt beginnen soll, noch einmal aussagen?
Es wurde über alles geredet: das Jugendamt, die Polizei, die CDs. Nur nicht über die Kinder.
An einem Samstagabend im März saßen Ina Tolksdorf, ihr Mann Andreas und FreundInnen zusammen. Sie fragten sich: Was wäre eigentlich, wenn das unseren Kindern passieren würde? Die würden doch was sagen. Ganz sicher. Oder? Sie redeten darüber, was sie über die Eltern vom Campingplatz gehört hatten. Dass sich eine Mutter von vier Kindern, die alle Opfer geworden waren, vor lauter Scham nicht mehr aus dem Haus traut, weil sie es nicht verhindert hat. Dass es den Kindern immer schlechter geht. Und sie überlegten sich, was sie tun könnten.
Am nächsten Mittwoch, dem 27. März, standen sie zum ersten Mal mit den Kinderschuhen in der Hamelner Fußgängerzone und schwiegen. Zuerst an jedem Mittwoch, zehn Wochen lang, seit Juni dann an jedem ersten des Monats. Ihr Schweigen sollte Raum schaffen, um über etwas anderes zu sprechen als über Suspendierungen und Rücktrittsforderungen. Sie nannten ihre Initiative „Die Kinder von Lügde“.
Eine, die sich zu ihnen stellte und endlich sprach, ist Michaela Vandieken. Auch sie ist ein Opfer von Andreas V.. Sie war elf, als er sie zum ersten Mal betatschte und 16, als er sie zum ersten Mal vergewaltigte. Im Jahr 1991 war das, und es zeigt, wie lange der heute 56-Jährige schon Kinder missbraucht. Michaela ist heute 39, und wenn das jüngste der 46 aktuell bekannten Opfer von Andreas V. heute 18 ist, stellt sich eine weitere Frage: Wie viele gibt es eigentlich noch, aus der Zeit dazwischen?
Michaela ist heute 39. Sie war 16, als Andreas V. sie im Jahr 1991 zum ersten Mal vergewaltigte.
Michaela Vandieken, geschiedene Mutter von vier Kindern, hat gehört, dass die Polizei die Kinder teilweise mehrfach vernommen hat, weil die Aussagen nicht per Video aufgenommen wurden. „Wie kann das sein?“ fragt sie. Sie selbst hat fünf Stunden lang ausgesagt. „Dreimal bin ich in der Zeit abgekippt“, erzählt sie. Sie weiß, wie das ist, wenn man alles wieder hochholen muss, „was ich die ganze Zeit verdrängt hatte“.
Ihr Vater war ein Freund von Andreas V. gewesen, der Missbrauch und später die Vergewaltigungen passierten in ihrem Elternhaus. Freund Andreas, genannt Addi, übernachtete dort des öfteren, am liebsten im Zimmer der Tochter. „Er hat immer gesagt, mir würde sowieso keiner glauben.“ Da hatte Addi recht.
Als die Tochter erzählte, der Addi würde sie anfassen und dass sie nicht mehr wolle, dass er in ihrem Zimmer schläft, tat der Vater das ab. Alles Quatsch. In Wahrheit wusste er, was los war. 28 Jahre später gibt er es zu, vor den laufenden Kameras von Stern-TV. Ein lallender, offensichtlich betrunkener Mann im Unterhemd mit Bierbauch, der kaum einen geraden Satz auf die Reihe bekommt.
"Mir hat es mein Leben kaputtgemacht. Beziehungen halten einfach nicht."
Michaela Vandieken ist heute klar, dass sie das, was nach ihr kam, theoretisch hätte verhindern können. Doch sie weiß auch, dass sie praktisch keine Chance gehabt hätte. Eine 16-Jährige gegen den 28-jährigen Kumpel ihres Vaters, die beide alles abgestritten hätten. Aussage gegen Aussagen. Mitte der 1990er, auf dem Höhepunkt des „Missbrauch des Missbrauchs“-Backlash, bei dem „fortschrittliche“ PädagogInnen gemeinsam mit einschlägigen GutachterInnen und JournalistInnen Missbrauchs-Opfer und ihre UnterstützerInnen als hysterisch diffamierten und fehlgeleiteten „feministischen Aufklärungseifer“ beklagten. „Das wäre doch im Winde verweht“, sagt Michaela Vandieken, und höchstwahrscheinlich hat sie recht.
Auch drei Jahrzehnte später erklärt die Polizei, die die Ermittlungen gegen Michaelas Vater gerade eingestellt hat: „Anhaltspunkte dafür, dass der Hauptbeschuldigte bei den von der Zeugin geschilderten sexuellen Handlungen Gewalt oder Drohungen anwandte, haben die Ermittlungen nicht ergeben.“ Anno 2019 hat so mancher Staatsanwalt offenbar immer noch nicht verstanden, was „Gewalt“ ist und was Gewalt mit Macht zu tun hat.
„Mir hat es mein Leben kaputtgemacht“, erzählt Michaela Vandieken. „Beziehungen halten einfach nicht. Da kommen die Bilder wieder hoch. Man sieht immer den Täter, nicht den Menschen, den man eigentlich liebt.“
Was sie jetzt noch tun kann und will, ist, die Tortur der Aussage vor Gericht noch einmal über sich ergehen zu lassen. Damit klar wird, „wie lange das System Andreas V. schon angelegt ist“, wie Vandiekens Rechtsanwalt Roman von Alvensleben erklärt.
Manche Kinder wurden viermal vernommen, weil die Polizei keine Videoausrüstung hatte.
Michaela hat gehört, dass die Polizei den Eltern der Kinder davon abrät, schon jetzt mit einer Therapie anzufangen, weil das angeblich die Aussage verfälschen könne. Sie hat auch gehört, dass einige Kinder schon in die Psychiatrie eingewiesen wurden. „Wo kriegen die Kinder Hilfe?“, fragt Michaela.
Diese Frage stellt sich auch Rechtsanwalt Roman von Alvensleben. Er vertritt das Mädchen, dessen Mutter mit ihrer Anzeige den Fall Lügde im Oktober 2018 endlich ins Rollen brachte. „Meine Mandantin“, sagt der Hamelner Rechtsanwalt und meint damit ein zehnjähriges Mädchen. Daran, wie mit seiner Mandantin verfahren wurde, hat der Anwalt einiges zu kritisieren. Eigentlich, sagt er, müsse die Vernehmung eines Kindes in Fachkommissariaten erfolgen, durch geschulte PolizistInnen, in speziellen Zimmern mit Spielzeug, Puppen und Malsachen, damit sich das Kind kindgerecht ausdrücken kann. Die Vernehmung müsse per Video aufgenommen werden, um dem Kind weitere Aussagen zu ersparen. Doch all das sei bei den ersten Vernehmungen nicht passiert. „Die in Detmold und Bad Pyrmont haben mir auf meine Nachfrage nach so einem Zimmer gesagt: Haben wir nicht!“ Erst als die Ermittlungen an die Polizei Bielefeld abgegeben wurden, stand ein entsprechender Raum zur Verfügung. Bis dahin war aber so manches Kind bis zu viermal vernommen worden.
Und dann ist da noch die Sache mit der Therapie. Zwar hat die NRW-Opferschutzbeauftragte Elisabeth Auchter-Mainz, die 2017 erstmalig eingesetzt wurde, ab Februar 2019 sukzessive alle Eltern von Lügde-Opfern angeschrieben und sie informiert: Wer ist zuständig für einen Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz? Wo kann die Familie eine psychosoziale Prozessbegleitung bekommen, also jemanden, der Eltern und Kind erklärt, was laut Strafprozessordnung bei einer Gerichtsverhandlung auf sie zukommt und sie im Gerichtssaal begleitet? Wie lautet die Anschrift und Durchwahl der Trauma-Ambulanz des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe?
Die Polizei riet von einer Therapie für die missbrauchten Kinder vor Prozessende ab.
Das alles ist neu und mehr, als noch vor ein paar Jahren in Sachen Opferschutz passiert wäre. Aber reicht es? Funktioniert das für Familien, die eine, auf Soziologendeutsch formuliert, „niedrigschwelligere Ansprache“ bräuchten? „Ich hätte erwartet, dass die Landkreise, in deren Verantwortung das alles passiert ist, zwei Psychologen direkt zu den Familien nach Hause schicken“, sagt Rechtsanwalt von Alvensleben. „Anstatt ihnen zu sagen: ‚Hier haben wir ein paar Broschüren!’“
Tatsächlich rückte die NRW-Opferschutzbeauftragte am 2. und 3. Mai in Lügde an, um die Familien noch einmal persönlich zu beraten. Es ist wohl nicht allzu verwegen zu vermuten, dass dieser Besuch zu diesem Zeitpunkt kein Zufall war: Fünf Wochen zuvor hatte die Schuh-Aktion in der Hamelner Fußgängerzone begonnen. Die Lokalpresse stieg ein und zwei Wochen später auch der WDR, der sein donnerstägliches „Stadtgespräch“ nach Lügde holte.
Dort meldete sich auch Ina Tolksdorf zu Wort und erinnerte die TeilnehmerInnen, darunter auch die NRW-Opferschutzbeauftragte, an die vergessenen Opfer.
Doch auch die Bielefelder Polizei hätte es erklärtermaßen am liebsten, wenn die Missbrauchsopfer mit ihrer Therapie warten würden, bis der Prozess vorbei ist. „Ein Therapieeinstieg ist aus ermittlungstaktischen Gründen vor dem letzten Gerichtstermin eher ungünstig, da die Glaubwürdigkeit der Aussage angezweifelt werden könnte“, heißt es aus dem Polizeipräsidium. Und das ist kein Bielefelder Hirngespinst. Tatsächlich haben es sich Verteidiger in Missbrauchs-Prozessen längst zur Strategie gemacht, die Aussage der Opfer zu zerpflücken, indem sie so genannte Suggestionen unterstellen. Eine Frau, die als Mädchen missbraucht wurde, spricht in einer Selbsthilfegruppe über ihre Erlebnisse und erfährt von denen der anderen Frauen? Suggestion! Eine andere Frau liest Fachliteratur über sexuellen Missbrauch inklusive Fallbeispiele? Suggestion! Ein Mädchen vertraut eine orale Vergewaltigung durch einen Mitschüler ihren Schulfreundinnen an und tauscht sich darüber aus, ob sie Anzeige erstatten soll? Suggestion!
Offenbar sind die Strategien skrupelloser Strafverteidiger im System angekommen.
EMMA berichtete über solche Fälle erstmals im Jahr 2011, und offenbar sind diese Strategien skrupelloser Verteidiger inzwischen so weit ins System gedrungen, dass selbst in einem Fall wie dem von Lügde dringend zur Vorsicht in Sachen Therapie geraten wird. In einem Fall mit 46 potenziellen ZeugInnen plus Videoaufnahmen, die die Taten dokumentieren.
Anwalt von Alvensleben hat für seine zehnjährige Mandantin einen Therapieplatz plus Kostenübernahme durch den Landkreis erkämpft. Er hat einschlägige Erfahrung: Er hat Kader K. vertreten, jene kurdische Frau, die von ihrem Mann mit seinem Auto an einem Seil durch Hameln geschleift wurde und die nur durch ein Wunder überlebt hatte. Er weiß, wen er anrufen muss. Andere Eltern in Lügde, die einen weniger erfahrenen und resoluten Beistand haben, sind hingegen ratlos. „Meine Kinder schlafen nur noch mit Licht. Sie fangen an, sich selber zu verletzen, schlagen auf sich ein“, erzählt eine Mutter anonym im Fernsehen. Anstelle einer Therapie hat sie ihnen „ein Tagebuch gekauft, da sollen sie reinschreiben. Die schlechten Tage oder die schlechten Gedanken, die sie haben.“
Ab und zu, das haben Ina Tolksdorf und ihre MitstreiterInnen erreicht, wird jetzt eben doch über die Kinder gesprochen. Auch an diesem Mittwochmittag. Ina Tolksdorf und ihre MitstreiterInnen sind heute zunächst in die Landeshauptstadt Hannover gefahren, um ihre Schuh-Installation direkt vor dem niedersächsischen Landtag aufzubauen. Am Fuße der imposanten Treppe zum ehrwürdigen Landtag auf dem Hannah-Arendt-Platz. Die „Banalität des Bösen“ wütete auch auf dem Campingplatz von Lügde. Was Addi V. getan hat, mag monströs erscheinen. Aber es ist entsetzlich normal.
„Lügde ist überall“, sagt auch Markus Diegmann, der heute mit seinem Wohnmobil vor dem Landtag Halt gemacht hat. Seit drei Jahren fährt Diegmann auf seiner „Tour 41“ durch Deutschland, stellt sich auf Plätze und sammelt Unterschriften für die Abschaffung der Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch. 41, das ist die Zahl der Missbrauchsfälle, die Tag für Tag in Deutschland angezeigt werden, rund 14.000 pro Jahr. Von der viel, viel höheren Dunkelziffer ganz zu schweigen. Markus Diegmann ist auch so ein Dunkelziffer-Fall. Drei Täter, vom Schießbudenmann auf der Kirmes bis zum Untermieter der Eltern, und keine einzige Anzeige, weil er es entweder nicht erzählt hat oder ihm keiner glaubte. Als er endlich soweit war, waren die Taten verjährt. Jetzt kämpft er um Zahlungen nach dem Opferentschädigungsgesetz. Aber weil es nie einen Gerichtsprozess gegeben hat, hat er so gut wie keine Chance.
Ein Verdacht in einem Aktenordner in Stadt A kann in Stadt B nicht abgerufen werden
Auch der Missbrauch von Michaela Vandieken sei verjährt, erklärt die Staatsanwaltschaft. Ihrem Anwalt stellen sich da allerdings gewisse Fragen, denn seit 2015 beginnt die Verjährung bei „schweren Sexualstraftaten“ erst mit dem 30. Lebensjahr. Bewertet die Staatsanwaltschaft das, was Michaela angetan wurde, womöglich nicht als „schwer“? Anwalt von Alvensleben, der bei Redaktionsschluss noch keine Akteneinsicht hatte, will dem nachgehen. Vorsorglich hat er Beschwerde eingelegt.
Weil Lügde überall ist, sind die Tolksdorfs und ihre Initiative heute Mittag hier auf dem Hannah-Arendt-Platz vor dem Landtag. Sie wollen, dass die PolitikerInnen ihnen Rede und Antwort stehen. Dass sie sagen, welche Lehren sie aus der Katastrophe ziehen und was sie ändern wollen. Und die Abgeordneten kommen, von den Grünen bis zur AfD. Es sind zu viele Kameras hier, um sich wegzuducken.
„Es hat uns alle sehr bewegt, dass das in diesem Ausmaß möglich war“, sagt Landtagspräsidentin Gabriele Andretta, die als erste den Weg zu der Initiative findet. „Es muss jetzt konkrete Maßnahmen geben, guter Wille allein reicht nicht.“
Uwe Schwarz, sozial- und gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, wird konkreter. „Die Jugendämter sind personell unterbesetzt und gnadenlos überfordert“, sagt er. Die Grüne Anja Piel stimmt ihm zu. „Wir müssen etwas an den Fallzahlen tun“, sagt sie. „Kein Mitarbeiter eines Jugendamts dürfte mehr als 80 Fälle bearbeiten.“ Hinzu kommt: Die Jugendämter sind untereinander nicht vernetzt. Ein Verdacht, der in einem Aktenordner in Stadt A landet, kann in der Nachbarstadt B nicht abgerufen werden. Wenn dann noch zwei verschiedene Bundesländer im Spiel sind wie im Fall Lügde – der Campingplatz liegt in NRW, das Jugendamt in Niedersachsen – dann geht gar nichts mehr.
Kein Mitarbeiter eines Jugendamts dürfte eigentlich mehr als 80 Fälle bearbeiten.
Eine weitere Baustelle: die Schulen. Die Kinder von Lügde, zumindest die, die schon alt genug waren, haben in Schulklassen gesessen. Doch offensichtlich hat keine Lehrerin, kein Schulsozialarbeiter etwas bemerkt. Und falls doch, nichts unternommen. „Jede Schule muss einen 10-Punkte-Plan haben, wie sie im Fall eines Missbrauchs zu reagieren hat“, sagt die Grüne Piel.
Theoretisch gibt es einen solchen Plan schon längst. Der Missbrauchs-Beauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hat im September 2016 im Rahmen seiner Kampagne „Schule gegen sexuelle Gewalt“ begonnen, alle Schulen mit einem Präventions-Paket auszustatten. Nur muss das Wissen darüber, wie PädagogInnen sexuellen Missbrauch erkennen, und was genau sie dann tun können, den LehrerInnen auch vermittelt werden. Aber da hakt es, und zwar nicht nur am Geld, das die Schule für Schulungen durch Fachleute ausgeben müsste, aber in der Regel gar nicht hat.
„Sexueller Missbrauch war vor Lügde gar kein Thema für mich“, gibt Ulrike Lüthgen-Frieß zu. Es ist die kleine zarte Frau, die ein paar Stunden später, um Punkt 17 Uhr, in Hameln die Schweigeaktion mit ihrer Ansprache eröffnen wird. Ulrike Lüthgen-Frieß ist Lehrerin und kann verstehen, warum ihre KollegInnen sich nicht auch noch mit diesem harten Thema belasten wollen. „Wir haben inzwischen 30 bis 50 Prozent verhaltensauffällige Kinder in den Klassen“, erzählt sie. Die zu schlichtenden Konflikte würden immer härter, die Elternarbeit immer schwieriger, der Verwaltungskram immer aufwändiger. „Die Bereitschaft der Kollegen sich fortzubilden, tendiert gegen Null.“
Die Bereitsschaft der Lehrer, sich in Sachen Missbrauch fortzubilden, ist gering
Das will Ulrike Lüthgen-Frieß jetzt ändern. Sie wird im Präventionsrat sitzen, der im Landkreis Hameln-Pyrmont als Folge des Skandals gegründet wurde. LehrerInnen, ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen, PolizistInnen und auch Opfer werden gemeinsam ein Konzept erarbeiten. Ziel: „Jedes Kind muss im Kindergarten und in der Schule immer wieder altersangemessen und in vertrauensvoller Atmosphäre über sexuellen Missbrauch aufgeklärt werden: Was ist normal – und wo werde ich gegen meinen Willen angefasst?“, sagt Lüthgen-Frieß.
Als die Lehrerin später, zusammen mit den anderen Frauen und Männern der Initiative, vor der Hamelner St. Nicolai-Kirche steht und schweigt, stellen sich zwei ältere Frauen dazu. Die Schweigeaktion hat dafür gesorgt, dass sie jetzt sprechen können. Sabine war elf, als sie vergewaltigt wurde. Es war ein fremder Mann, aber vorher war schon der Vater übergriffig geworden, hatte sie betascht und ihr seine Zunge in den Mund geschoben. Später, in ihrer Lehrzeit, „gab es viele sexuelle Übergriffe und ich dachte: Hört das denn nie auf?“
Sabine, heute 61, hat von der Schuh-Aktion in der Zeitung gelesen, zum dritten Mal ist sie heute dabei. Hier hat sie Lisa kennengelernt. Bei Lisa war es ein Cousin, sie war sechs, er 16. Damals hat sie noch in Kirgisistan gelebt, in einer streng katholischen Familie. Sie war 33, als sie es ihren Eltern erzählte. Reaktion des Vaters: Man solle die Sache ruhen lassen, es sei schließlich Familie.
Heute spricht Lisa, auch über 60, mit Sabine darüber, warum es einen nie in Ruhe lässt. Das kaputte Urvertrauen, das kaputte Selbstwertgefühl, die kaputten Beziehungen. Der Chef, gegen den man sich nicht wehren kann, wie man sich damals als Kind nicht wehren konnte.
„Ich kann mich in die Kinder reinversetzen“, sagt Sabine. „Ich will die Leute und die Politik darauf aufmerksam machen, dass diese Kinder Hilfe brauchen,“ sagt Lisa. Dann stellen sie sich wieder zu den anderen und schweigen sehr laut.