Weltstar Marie Curie

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Im Dezember 1903 geht die Nachricht um die Welt, daß zum ersten Mal eine Frau den Nobelpreis bekommen soll: die französische Physikerin Marie Curie. Die gebürtige Polin, Entdeckerin des Radiums und Erforscherin der radioaktiven Strahlen, ist zu diesem Zeitpunkt gerade 36 Jahre alt.

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Die Fachwelt ahnt bereits Großes. Doch noch niemand kann voraussehen, was aus ihren Forschungen noch alles entstehen wird: Neue Vorstellungen über das Atom und seinen Kern, die bald nicht mehr als unteilbar gelten werden. Die Erkenntnis, daß Masse und Energie verwandt sind. Die künstliche Umwandlung chemischer Elemente in andere chemische Elemente - moderne Alchimie. Die Kernspaltung. Die Atombombe. Kernkraftwerke. Das Wissen um die zwiespältigen biologischen Wirkungen der neuen Strahlen: die Strahlenkrankheit, aber auch die Krebstherapie. Das Atomzeitalter beginnt. Den Anfang macht Marie Curie. In einem baufälligen Schuppen auf dem Hof einer Fachhochschule in Paris, wo die Polin zusammen mit ihrem französischen Ehemann (und Mit-Nobelpreisträger) Pierre ihren Forschungen nachgeht. In diesem Schuppen und in ihrer Vorstadt-Wohnung rennen nun Journalisten aus aller Welt Marie Curie die Türen ein.

Sie gehen so weit, die Gespräche ihrer 6jährigen Tochter Irene mit der Kinderfrau zu belauschen; sie fotografieren den am Kamin zusammengerollten Hauskater "Didi". Die Fotos gehen um die Welt. Verehrer schreiben Gedichte, Kabarettisten witzeln über das Ehepaar und ihr geheimnisvoll strahlendes Radium. Aus einer vielversprechenden jungen Wissenschaftlerin ist über Nacht ein Medien-Star geworden. "Gestern hat mich ein Amerikaner schriftlich um die Erlaubnis gebeten, ein Rennpferd nach mir zu benennen", schreibt Marie Curie 1904 in einem Brief an ihren Bruder Josef.

Doch schon sieben Jahre später, im Jahre 1911, wird der Glanz der Nobelpreisträgerin verblaßt scheinen. Die mittlerweile verwitwete Marie Curie wird für die Aufnahme in die berühmte französische "Academie des Sciences" kandidieren - und verlieren. Erst Generationen später, im Jahre 1979, wird eine Frau diese Männerbastion stürmen, die Physikerin Yvonne Choquet-Bru. Für Marie Curie ist es noch zu früh.

Und noch eine Bewährungsprobe wird Marie Curie in diesem "schrecklichen Jahr" 1911 zu bestehen haben: Ihre Beziehung zu dem fünf Jahre jüngeren, verheirateten Kollegen Paul Langevin gibt den ihr feindlich gesonnenen Journalisten neues Futter. Ein Klatschblatt veröffentlicht private Briefe der beiden. Die "unmoralische Polin", entrüstet sich der Chefredakteur, habe einer "ehrbaren Französin" den Familienvater abspenstig gemacht. Langevin ist Vater von vier Kindern. Gipfelpunkt des Skandals: Der Journalist und der angebliche Liebhaber richten an einem kalten Novembermorgen in einem Fahrradstadion die Pistolen aufeinander. Zum Glück wird das Duell vor dem ersten Schuß abgebrochen.

Viel Demütigung für die stolze Marie Curie. Dennoch: die internationale Gemeinschaft der Wissenschaftler weiß genau, was sie an dieser Frau hat. Ihre Leistungen sind nach wie vor unübersehbar. Im November 1911 wird ihr zum zweiten Mal der Nobelpreis zugesprochen - diesmal für ihre Erfolge auf dem Gebiet der Chemie. Das hatte es zu vor noch nie gegeben!

Sicher, die Geschichte der Naturwissenschaften ist voll von den Leistungen bedeutender Frauen. In allen Epochen, allen Disziplinen haben sie existiert: Mathematikerinnen, Astronominnen, Chemikerinnen, Biologinnen, Ärztinnen, Erfinderinnen. Die meisten wurden vergessen. Erst seit den 70er Jahren graben feministische Wissenschaftlerinnen ihre Namen wieder aus. Nur ein weiblicher Name muß nicht wiederentdeckt werden, denn er hat nie aufgehört zu existieren: der Name Marie Curie.

Ihr Ruhm überstrahlt den ihrer Kolleginnen aller Zeiten so stark, daß eine amerikanische Wissenschaftshistorikerin, Margaret Rossiter, bereits kritisch vom "Marie-Curie-Effekt" gesprochen hat. Sie meint damit die Erwartung, daß jede Frau, die sich in die Männerwelt Wissenschaft hineinwagt, eine Marie Curie zu sein hat - eine Superwissenschaftlerin, eine Ausnahmefrau.

War Marie Curie das wirklich? Ihre Lebensgeschichte wurde schon zu ihren Lebzeiten zur Legende. An dieser Legende hat auch ihre Tochter Eve Curie weitergestrickt. Sie schreibt in ihrer Biographie über die Mutter: "Sie ist eine Frau, sie gehört einer unterdrückten Nation an, sie ist arm, sie ist schön. Eine innere Berufung läßt sie Polen, ihre Heimat, verlassen, um in Paris zu studieren, wo sie Jahre der Einsamkeit, der Schwierigkeiten durchlebt. Sie begegnet einem Mann, der ein Genie ist wie sie selbst. Sie heiratet ihn. Ihr Glück ist einzigartig. In dem Augenblick, in dem der Ruhm der beiden Gelehrten sich in der Welt verbreitet, fällt ein Schatten auf Marie. Der wunderbare Gefährte wird ihr mit einem Schlag durch den Tod entrissen. (...) Der Rest ihres Lebens ist immerwährende Hingabe."

Aber war Marie Curies Ruhm wirklich nur der Lohn für ein asketisches Leben, das ganz einer einzigen Aufgabe, der Wissenschaft, gewidmet war? Der Lohn für Fleiß und Hingabe, die klassischen weiblichen Tugenden? Fragen wir etwas genauer nach den Voraussetzungen von Marie Curies wissenschaftlichem Erfolg. Die waren bestens. Denn: Welches Mädchen hat schon das Glück, in einer Schule aufzuwachsen? Noch dazu in einer Schule, die von der eigenen Mutter geleitet wird?

Im Mädchenpensionat der Bronislawa Sklodowska in der Fretastraße 16 in Warschau kommt Maria Salomee am 7. November 1867 zur Welt. Auch der Vater, Wladislaw Sklodowksi, ist Lehrer; seine Fächer sind Physik und Mathematik. Außerdem gibt es noch vier ältere Geschwister - also reichlich Gelegenheit zum Lernen für die kleine "Maria". Mit vier Jahren kann sie lesen und schreiben.

Im unterdrückten Polen wird sie schon früh mit der Politik konfrontiert. Ihr Biograph Robert Reid erklärt: "Im Ausgang des 18. Jahrhunderts war Polen eine Nation, die stückweise unter ihren Nachbarn Österreich, Preußen und Rußland aufgeteilt war. Was als Zentralpolen unter dem Namen Kongreß-Königreich übrig war, wurde von einem sogenannten König von Polen regiert, der in Wirklichkeit der Zar von Rußland selbst war." Als Gymnasiastin ist es Maria gewohnt, die polnischen Schulbücher in Windeseile zu verstecken, wenn der Russische Inspektor kommt. Unter diesen Umständen kann aus dem aufgeweckten Mädchen gar nichts anderes als eine glühende polnische Patriotin werden.

Doch im Gegensatz zu der drei Jahre jungen Rosa Luxemburg, die unter recht ähnlichen Verhältnissen in Warschau aufwächst, findet Maria Sklodowska ihre politische Heimat nicht bei den Sozialisten. Sie schließt sich als junge Frau einer Gruppe Warschauer Intellektueller an, die sich "Positivisten" nennen. Die Vorstellung des Klassenkampfes ist diesen idealistischen jungen Leuten eher fremd. Sie setzen auf Volksbildung, Frauenemanzipation und den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt. In der von den Positivisten im Untergrund betriebenen "fliegenden Universität" macht Maria Sklodowska ihre ersten physikalischen und chemischen Experimente. Doch an ein Studium in Polen ist überhaupt nicht zu denken. Wir schreiben das Jahr 1885. Erst Zürich, wo Rosa Luxemburg studiert, und Paris haben die Tore der Universität für Frauen geöffnet.

Marias ältere Schwester Bronia träumt schon länger von einem Medizinstudium an der Sorbonne. Doch sie muß dem verwitweten Vater und den jüngeren Geschwistern den Haushalt führen. Da hat Maria eine Idee: Sie wird sich für einige Jahre als Gouvernante verdingen und der älteren Schwester das Studium finanzieren helfen. Später, wenn sie als Ärztin gut verdient, wird Bronia sie, die Jüngere, unterstützen. Gesagt, getan. Die Schwestern schließen einen Pakt. Und dieser Pakt hält. Im September 1891, mit fast 24 Jahren, folgt Maria der Schwester nach Paris, um Mathematik und Physik zu studieren. Ab jetzt wird sie sich Marie nennen.

Über die Studienjahre der jungen Marie Sklodowska ist viel geschrieben worden. Sie gehören zur Marie-Curie-Legende, all die Geschichten über die "arme, fleißige, polnische Studentin in Paris". So soll sie manchmal vor Hunger in Ohnmacht gefallen sein, weil sie versuchte, sich von einem halben Pfund Kirschen am Tag zu ernähren. Sie selbst beschreibt, wie sie nachts all ihre Kleider (und einen Stuhl!) auf die Bettdecke türmte, um nicht so sehr zu frieren. Aber in all dem war sie keine Ausnahme, viele Studentinnen lebten damals so.

Mit 26 begibt sich die frisch examinierte Physikerin und Mathematikerin auf die Suche nach ihrem ersten Arbeitsplatz. Der Zufall will es, daß sie dabei auch gleich ihren zukünftigen Ehemann kennenlernt. Sie erinnert sich: "Als ich eintrat, stand Pierre Curie in der Nische der Balkontür. Er sah sehr jung aus, obwohl er damals 35 Jahre alt war. Was mir an ihm auffiel, war der Blick seiner hellen Augen und eine Spur von Lässigkeit in der Haltung seines hochgewachsenen Körpers. Es entwickelte sich ein Gespräch zwischen uns, das bald freundschaftlichen Charakter annahm: wir sprachen über wissenschaftliche Fragen, und ich war glücklich, mich mit ihm beraten zu können."

Wissenschaftler-Ehen mögen oft so angefangen haben, mit einem freundschaftlichen, sachbezogenen Gespräch "unter Gleichen". Leider ging es oftmals nicht so partnerschaftlich weiter, wie wir aus der Geschichte wissen. Denken wir nur an Mileva Einstein, geborene Maric (Emma 10/90), die um ihren Anteil an der Entwicklung der Relativitätstheorie betrogen wurde. Die Curie-Ehe aber steht als Beispiel dafür, daß eine gleichberechtigte wissenschaftliche Kooperation auch zwischen Frau und Mann, ja sogar zwischen Eheleuten möglich scheint. Was bewahrte Pierre und Marie davor, in die alte Rollenteilung abzurutschen, in der der Mann der Macher, die Frau die Gehilfin ist?

Eine Erklärung ist sicher, daß hier eine relativ starke weibliche auf eine relativ schwache männliche Persönlichkeit stieß. Erster Eindruck von Pierres Bruder Jacques von Marie: "Sie macht einen entschlossenen Eindruck, geradezu eigensinnig." Erster Eindruck des englischen Physikers J.J. Thomsen von Pierre Curie: "Ein äußerst bescheidener Mensch, der alles seiner Frau zuschreibt." - Vielleicht ja sogar zu Recht? Pierre Curie ist ein Mann fast ohne Ehrgeiz. Es ist ihm egal, ob er oder ein anderer eine wissenschaftliche Entdeckung macht - solange die Sache stimmt. Bewerbungen um Posten oder Ehrenämter sind ihm ein Greuel. Die Frage, was wohl aus Pierre Curie geworden wäre, wenn er seine Frau nicht getroffen hätte, ist von Wissenschaftshistorikern nie gestellt worden. Wir dürfen getrost vermuten: kein Nobelpreisträger.

Denn sie gibt die Richtung an in dieser Beziehung. 1897 beschließt Marie Curie zu promovieren - als erste Frau in Europa in einem naturwissenschaftlichen Fach. Als Thema für ihre Dissertation wählt sie bewußt das noch relativ neue, spannende Gebiet der Radioaktivität. Gerade anderthalb Jahre zuvor, im März 1896, hat Henri Becquerel die Strahlen entdeckt, die die Salze des Schwermetalls Uran ausstrahlen. Marie Curie untersucht eine ganze Reihe weiterer Metalle, ob sie nicht auch strahlen. Gleich in den ersten Tagen wird sie fündig: Thorium ist ebenfalls "radioaktiv". Und noch etwas fällt ihr auf: Pechblende und Chalkolith, zwei Uranverbindungen, sind noch wesentlich radioaktiver als Uran selbst. Sie müssen also in kleinen Mengen einen unbekannten radioaktiven Stoff enthalten - ein neues, noch nie beobachtetes Element?

In diesem aufregenden Moment legt Pierre Curie seine eigenen Arbeiten über Kristalle beiseite und steigt in die Experimente seiner Frau mit ein. Im Juli 1898 entdecken sie zusammen das Element Polonium, im Dezember desselben Jahres das Radium.
Besteht nicht spätestens jetzt, wo Mann und Frau auf dem gleichen Gebiet forschen, die Gefahr, daß ihre Leistungen ihm zugeschrieben werden? Die Curies sind sich dieser Gefahr bewußt. Sie steuern dagegen. Vor allem Marie. Ihr Biograph Robert Reid: "Bei jeder Gelegenheit, mündlich oder gedruckt, sprach sie unzweideutig aus, für welche Ergebnisse sie und nur sie allein verantwortlich war. Das erste Wort ihrer ersten Veröffentlichung über die Strahlung war 'ich'."

Eine Frau der Wissenschaft, die selbstbewußt "ich" sagte - das hatte es seit Hypatias Zeiten nur selten gegeben, das sollte es nach Marie Curie lange nicht mehr geben. Dieses Selbstbewußtsein, gepaart mit der feministischen Einsicht, daß einer Frau nichts geschenkt wird, das ist sicherlich einer der wichtigsten Gründe für Marie Curies Ruhm.

Auch die zweite Falle im Leben einer Frau weiß Marie Curie zu umgehen - die Mutterschaft. Sie weicht ihr nicht aus, ebenso wenig wie der Ehe. Aber sie läßt sich von ihr nicht das Leben beherrschen. Im Gegenteil. Robert Reid: "Marie Curie gelang die Bewältigung der schwierigsten Perioden ihres Lebens - die zugleich die weitaus kreativsten waren - immer dann, wenn sie schwanger war oder einen Säugling hatte." Gerade dann arbeitet sie doppelt - als arbeite sie gegen eine Gefahr an.

Während ihrer Schwangerschaften schont die Wissenschaftlerin sich kaum, verrichtet bis kurz vor der Geburt schwere körperliche Arbeit im Labor. Tonnen von Erz müssen nach und nach in Säuren aufgelöst, erhitzt und destilliert werden, um winzige Mengen radioaktiver Salze daraus zu isolieren. Marie Curie: "Ich habe manches Mal bis zu 20 Kilo Materie auf einmal behandelt. (...) Es war eine erschöpfende Arbeit, die Behälter zu transportieren, die Flüssigkeiten umzugießen und die siedende Materie stundenlang in einem eisernen Zuber umzurühren." Die Eisenstange, die sie dafür benutzt, ist fast so groß wie sie selbst. Sie wählt bewußt die schwere "Männerarbeit", die leichteren Messungen überläßt sie Pierre.

Die beiden Töchter, Irene und Eve, 1898 und 1904 geboren, kommen gesund zur Welt und wachsen unkonventionell auf. Marie, die selbst ihre Mutter früh verloren hatte (sie starb, als Marie zehn Jahre alt war, an Tuberkulose) und vom Vater erzogen wurde, hat keine Bedenken, auch die Erziehung ihrer Töchter Männern zu überlassen. Ersatzmutter spielt der Großvater: Pierres Vater Eugene Curie, der sozialistisch engagierte Arzt. Als er 1910 stirbt, übernehmen polnische Gouvernanten die Erziehung der Mädchen.

Am 19. April 1906 gerät Pierre Curie auf regennasser Straße zwischen die Räder eines Pferdefuhrwerks und wird tödlich verletzt. Marie ist außer sich vor Schmerz über den Verlust des Arbeits- und Lebenspartners; sie schreibt erschütternde Briefe an den Toten in ein Tagebuch, aber sie arbeitet weiter.

Im Jahre 1904, ein Jahr nach dem Nobelpreis, hatte Pierre an der Sorbonne einen Lehrstuhl der Physik bekommen, Marie wurde seine Laborleiterin. Nun, zwei Jahre später, ist der Lehrstuhl des Nobelpreisträgers verwaist und kein Nachfolger in Sicht, außer der Nobelpreisträgerin. Die trauernde Witwe zögert keinen Tag, die Chance zu ergreifen. Zwei Wochen nur bleibt Pierres Lehrstuhl unbesetzt.

Am 5. November 1906 hält Marie Curie dann vor großem Publikum ihre offizielle Antrittsvorlesung als erste Professorin Frankreichs. Die fortschrittlichen Zeitungen jubeln: "Der heutige Tag hat eine Siegesfeier des Feminismus gesehen. Ich sage Ihnen, es naht die Zeit, da Frauen zu menschlichen Wesen werden." Die unscheinbare Frau mit dem ergrauenden Haar ist jetzt immer öfter auf internationalen Kongressen zu sehen. Und zu hören. So im September 1911, als eine Konferenz in Brüssel nach langen Diskussionen den von ihr hergestellten sogenannten "Radiumstandard", die Eichmenge für Radium, anerkennt und das von ihr definierte Maß für Radioaktivität ("die Menge an Emanation im Verhältniszu einem Gramm Radium") nach ihr benennt: das Curie. Die Einheit Curie ist gültig geblieben, bis sie vor einigen Jahren durch das mittlerweile einfacher zu bestimmende "Becquerel" ersetzt wurde.

Aber Marie Curie -"Madame Curie", wie sie jetzt überall ehrfurchtsvoll genannt wird - will mehr. Sie will das Erreichte sichern und ausbauen. Das Radium-Labor an der Sorbonne, Nachfolger des einstigen Hinterhof-Schuppens, wächst und wird zu einer "Schule der Radioaktivität". Studenten und Studentinnen aus allen Ländern strömen herbei. Vor allem die jungen Frauen verehren die "patronne". Reid: "Manche von ihnen schauten später auf diese Zeit als auf die glücklichste und produktivste ihres Lebens zurück."
Auch die Ausbildung ihrer Töchter nimmt Marie Curie jetzt in die eigenen Hände. In den Jahren 1907 bis 1909 gründet sie gemeinsam mit Professorenkollegen (darunter dem Freund Langevin) eine Art experimenteller Privatschule: acht oder neun Kinder werden zu einer freien "Klasse" zusammengelegt und umschichtig von den Eltern in verschiedenen Fächern unterrichtet. Auch Marie Curie unterrichtet die Kleinen.

Ebenso managt die Curie die nächste Aufgabe, die sich ihr stellt: den Neubau ihres Labors. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sieht man eine schwarz gekleidete, schmale Gestalt über die Baustelle an der neu benannten Rue Pierre Curie stapfen: die "patronne", die persönlich jeden Spatenstich überwacht. Kaum ist das Gebäude bezugsfertig, bricht der Krieg aus.

Da hält es die einstige polnische Patriotin nicht länger. Sie will dem neuen Vaterland dienen. Sie, die zwar nichts von Medizin, aber doch von Strahlen versteht, organisiert aus eigener Kraft einen mobilen Röntgen-Dienst für die Lazarette an der Front. Allein in den letzten beiden Kriegsjahren werden hier mehr als eine Million verwundeter Soldaten in rund 200 mobilen Röntgenstationen nach Kugeln und Granatsplittern durchleuchtet. Ist Not am Mann, legt Madame selbst Hand an. Nebenbei bildet sie ihre Tochter, die gerade erst 17 Jahre alte Irene, zu ihrer Assistentin aus. Diese Rolle setzt Irene nach dem Krieg im Curie-Laboratorium fort. Längst ist Marie Curie aus der Begrenzung der "reinen Wissenschaft" herausgetreten, hat sich in den Rollen der Professoren, der Laborleiterin, der Standespolitikerin, des Oberbefehlshabers im Krieg und des Medienstars wider Willen geübt. Wenige Jahre nach Kriegsende sehen wir Marie in einer neuen Funktion agieren, einer ebenfalls noch nie da gewesenen: als PR-Frau für die Wissenschaft.

Ihr Problem sind die leeren Kassen. Die Radiumpreise sind während des Krieges ins Unermeßliche gestiegen. Radium hat mittlerweile nicht nur die Forschungslabors der Welt, sondern auch die Kliniken erobert; es ist als Heilmittel gegen Krebs entdeckt worden, denn seine Strahlen zerstören kranke Zellen. Das Verfahren ist unter dem Namen "Curie-Therapie" bekannt. Die Entdeckerin des Radiums aber hat einst voll Stolz auf jegliche Patentrechte verzichtet und steht jetzt ohne das so notwendige Rohprodukt da. Jedoch: prompt naht die Lösung - in Gestalt einer Frau.

Marie Mattingley Meloney, genannt Missy, ist Amerikanerin und Journalistin. Die 40jährige Chefredakteurin einer bekannten Frauenzeitschrift kann sich in puncto Energie mit Marie Curie durchaus messen. Als sie bei einem Interview von der finanziellen Not der von ihr bewunderten Wissenschaftlerin erfährt, handelt Missy sofort. Sie organisiert eine Spendenkampagne und eine Vortragsreise für Marie Curie durch die USA. Der Ruhm des Radiums und seiner Entdeckerin wird in klingende Münze umgewandelt. Der Lohn der PR-Tour, die die 54jährige Marie Curie im Jahre 1921 zusammen mit ihren beiden Töchtern antritt, ist ein Gramm kostbares Radium aus der Hand des amerikanischen Präsidenten.

Noch Steigerungen möglich? Für Marie Curie schon. Anfang der 30er Jahre läßt der Pariser Polizeipräfekt im Gebiet um das Pantheon den Verkehr umleiten. Die Forscherin hatte sich beschwert, der Autoverkehr beeinträchtige die feinen Meßgeräte ihrer Mitarbeiterinnen...

Die "patronne" selbst ist nur noch gelegentlich im Labor. Sie leidet am grauen Star, erblindet allmählich. Forschen kann sie nicht mehr. Bleibt die Politik. Mit Albert Einstein und anderen großen Geistern sitzt Marie Curie im "Internationalen Ausschuß für Intellektuelle Zusammenarbeit" des Völkerbundes. Man (und eine Frau) diskutiert dort über die Rechte und Pflichten der Wissenschaftler im Industriezeitalter.

Im Sommer 1934, am 4. Juli endet das außergewöhnliche Leben von Marie Curie. In einem Schweizer Sanatorium erliegt ihr von den Strahlen geschwächter Körper einer "perniziösen Anämie" (Blutarmut). Albert Einstein, der seine eigene Frau, die Physikerin Mileva Marie, so schmählich um ihre Leistung betrog, nennt Marie Curie seine "trotzige Schwester" und würdigt sie: "Sie war von einer Stärke und Lauterkeit des Willens, von einer Härte gegen sich selbst, von einer Objektivität und Unbestechlichkeit des Urteils, die selten in einem Menschen vereinigt sind."

Wohl wahr. Das Recht der Frauen auf gleiche Bildung und auf "eine Tätigkeit, die ihnen Freude macht" waren ihr Selbstverständlichkeiten. Eine ihrer engsten Freundinnen war die britische Frauenrechtlerin und Chemikerin Hertha Ayrton. Auf ihre Bitte hin unterschrieb Marie Curie 1911, mitten im Trubel der Langevin-Affäre, eine Petition zur Freilassung hungerstreikender englischer Suffragetten aus dem Gefängnis.

Frauen waren immer wichtig im Leben von Marie Curie. Ihr Leben lang stützte sie sich auf den Rat und die Hilfe ihrer älteren Schwester Bronia, der Ärztin, die in Warschau ein Radium-Institut aufbaute. Die Folies-Bergeres-Tänzerin Lote Füller gehörte ebenso zu Marie Curies engen Freundinnen wie die Gefährtin ihrer späten Jahre, Marie Meloney.

"Sie ist in stärkerem Maße eine Freundin, als ich es je beschreiben kann", schwärmte Marie Curie über die dynamische Journalistin, die ihr in Amerika alle Wege ebnete. Missy besucht Marie immer wieder, wenn sie sich in Europa aufhält, dazwischen wechseln die beiden Briefe "fast mit jeder Schiffspost" (Robert Reid). Sie überschütten einander mit Geschenken weltmännischer Art: Meloney verschafft Curie einen Ford samt Chauffeur, Curie Meloney das Kreuz der französischen Ehrenlegion.

Vor allem Männer wundern sich denn auch über die Kraft dieser Frauenbeziehung. Der Schriftsteller Henri-Pierre Roch ("Jules und Jim"), der das erste Zusammentreffen der beiden vermittelt hat, erinnert sich noch genau, wie überflüssig seine Übersetzungskünste waren, weil sofort eine überraschende "Sympathie und Anziehung" zwischen den Frauen war. Und Reid vermerkt anläßlich dieser Begegnung etwas säuerlich: "Nach der Langevin-Affäre faßte Marie Curie nur noch zu Frauen ein tieferes Vertrauen."

Mehr als eine Freundschaft? Marie Curie ließ alle intimeren Zeugnisse ihres Lebens vernichten. Auch Marie Meloney bat sie, die von ihr geschriebenen Briefe zu verbrennen. "Sie sind ein Teil von mir", erklärte sie der Freundin, "und Sie wissen, wie zurückhaltend ich mit meinen Gefühlen bin." Missy verbrannte einige, doch nicht alle Briefe. Nur die Briefe an und von Pierre überließ Marie Curie der Nachwelt.

Auch die Beziehung zu ihren Töchtern scheint gelungen. Sie setzten den Weg der Mutter fort. Eve Curie wurde Musikerin und Journalistin; sie schrieb die erste Biographie ihrer Mutter: "Madame Curie". Irene wurde Atomphysikerin und Marie Curies Nachfolgerin in jeder Beziehung. Sie heiratete einen Kollegen, den Physiker Frederic Joliot, forschte mit ihm gemeinsam wie einst das Ehepaar Curie. Joliot hängte sogar den Namen Curie an seinen eigenen an. 1935, ein Jahr nach Marie Curies Tod, bekamen die Joliot-Curies den Nobelpreis für die "Entdeckung der künstlichen Radioaktivität".

Selbst die Enkelinnen, die Kinder von Irene, setzen Maries Weg fort: Pierre ist Biophysiker geworden. Und seine ältere Schwester Helene, verheiratete Langevin, arbeitet heute noch wie Mutter und Großmutter als Kernphysikerin in Paris. - Ob sich das die kleine Maria hat träumen lassen, als sie damals in der Warschauer Pensionatswohnung auf dem Schöße ihrer Schwester die ersten Buchstaben entziffern lernte?

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