Wehe, wenn sie losgelassen
Auf jeden Wirtz und jeden Lewendel kommt eine unbekannte Zahl potentieller Täter mit einer mehr oder weniger großen Bereitschaft, Kinder sexuell zu missbrauchen und zu foltern.
Brechend voll ist der Schwurgerichtssaal des Landgerichts Aachen, wenn dort gegen die Mörder von Tom und Sonja verhandelt wird. Markus Wirtz (28) und Markus Lewendel (33) sind die Art von Verbrechern, die von Boulevard-Zeitungen Bestien genannt werden. Der Neonazi in Springerstiefeln und der Friedensaktivist mit dem lila Halstuch, der Puffbesitzer und der Pfarrer, hier sind sie sich ausnahmsweise einmal alle einig: Mit solchen Schweinen haben wir nichts zu tun.
Die Bezeichnung „Bestie“ spiegelt nicht nur den Abscheu wieder, wenn wir uns auf die Vorstellung einlassen, wie Herr Wirtz die Nacht im Bett neben dem gefesselten und völlig verängstigten neunjährigen Mädchen verbrachte, die Hand an ihren Genitalien, oder wie Herr Lewendel die Paketschnur um den Hals des Kindes absichtlich langsam zuzog. Wenn wir „Bestie“ sagen, wollen wir gleichzeitig den Abgrund deutlich machen, der zwischen diesen Sexualverbrechern und uns, dem normalen Rest der Menschheit, besteht.
Wir gehen nämlich wie selbstverständlich davon aus, dass Markus Wirtz und Markus Lewendel zu einer verschwindend kleinen Minderheit charakterlich Deformierter gehören, deren Seelenzustände von denen fast aller anderen Menschen himmelweit verschieden sind.
Das ist ein Irrtum. KriminalpsychologInnen wissen: Auf jeden Wirtz und jeden Lewendel kommt eine unbekannte Zahl potentieller Täter, mit einer mehr oder weniger großen Bereitschaft, Kinder sexuell zu missbrauchen, zu foltern, zu demütigen oder zu töten, die aus den unterschiedlichsten Gründen die Schwelle zur Tat nicht überschreiten. Sei es, dass sie die Strafandrohung des Gesetzes und die Ächtung der Gesellschaft fürchten; sei es, dass sie noch Skrupel haben; sei es, dass ein gütiges Geschick ihnen bisher keinen gleichgesinnten Freund beschert hat; oder sei es, dass sie immer noch keinen Internet-Anschluss haben.
Hinzu kommen jene Kinderfreunde, die zwar zum Täter werden, aber nicht ins Rampenlicht geraten, weil sie nicht entdeckt werden. Und die, die zwar entdeckt, aber nicht angezeigt werden. Man muss Kinder nicht erst entführen, bevor man sie missbrauchen und foltern kann. Wenn es sich um die eigenen Kinder, Nichten oder Neffen handelt, hat man es auch nicht nötig, sie umzubringen, um das Verbrechen zu vertuschen. Kriminalstatistiken sprechen von Zehntausenden Missbrauchsfällen im Jahr, Beratungsbüros von Hunderttausenden. Es sind mehr, als wir wahrhaben wollen.
Wirtz behauptet, er habe nie damit gerechnet, dass seine Phantasien Wirklichkeit werden könnten. Er folgt damit der verbreiteten Ansicht, es bestehe ein grundlegender Unterschied zwischen der psychischen Verfassung eines Menschen, der sich lustvoll Vorstellungen von sexueller Grausamkeit überlässt, und der psychischen Verfassung eines Menschen, der solche Sexualverbrechen tatsächlich begeht.
Auch das ist ein Irrtum. Das Verbrechen war nur das letzte Glied in einer Reihe unsozialer Handlungen. Möglicherweise wäre es nicht zum Mord gekommen, wenn der Porno-Konsument Wirtz nicht erst über die Ungeheuerlichkeit des eigenen Tuns, sondern bereits über die Ungeheuerlichkeit der eigenen Phantasien entsetzt gewesen wäre.
Neun Jahre vergingen von dem Moment, in dem ihm klar wurde, dass er sich für kleine Mädchen interessiert, bis zu dem Mord an den Geschwistern. Währenddessen wurde der Gedanke, wie schön es wäre, mit einem Kind Sex zu haben, für ihn immer bestimmender. Durch Gespräche mit seinem Freund Lewendel und Internetbilder, auf denen männlicher Spaß problemlos mit Demütigung, Folter und dem Benutzen von Schwächeren einherging, entdeckte er, dass es noch schöner wäre, so ein Mädchen auch zu quälen. Er konnte sein Gemüt allmählich an das Verbrecherische gewöhnen und er konnte sich vergewissern, dass er mit seinen Vorstellungen nicht allein auf der Welt war. Gegen Lewendel, der kleine Mädchen mit siedendem Öl übergießen wollte, musste Wirtz, der bloß vom Auspeitschen mit der Gürtelschnalle phantasierte, sich geradezu harmlos vorkommen.
Und die ganze Zeit über hätte niemand den beiden das Anrecht streitig machen können, auch nur den Finger zu heben und laut „Bestie“ zu schreien, wann immer in Zeitungen und im Fernsehen über einen Kindermörder berichtet wurde.
Als Wirtz und Lewendel sich nicht mehr mit dem Ausmalen ihrer Folterphantasien begnügten, sondern ihren Fiat Punto mit dem Equipment zur Kindesentführung – Elektroschocker, Kabelbinder, Klebeband und einer bei ebay ersteigerten Polizeijacke – ausrüsteten, befanden sie sich bereits in einem an das Verbrecherische angrenzenden Gemütszustand. Das Herumfahren auf der Suche nach „Frischfleisch“ war dann der fließende Übergang zur Tat, die nicht mehr beschlossen werden musste, sondern sich irgendwann durch einen Zufall ergeben konnte. Wobei immer noch offen war, ob man so einen Zufall tatsächlich nutzen oder im letzten Moment davor zurückschrecken würde. Man nutzte ihn.
Dabei waren die Morde an den Kindern noch nicht einmal eingeplant. Tom musste sterben, weil er im Weg war. Sonja wollten die Männer loswerden, als ihnen die Sache über den Kopf wuchs. Eigentlich hatte Lewendel einen Kinderpornoring aufmachen wollen. Wirtz hatte davon geträumt, ein Mädchen als Sexsklavin über Monate gefangen zu halten.
Man braucht nicht weit zu fahren und nicht lange in der Zeit zurück zu gehen, um Wirtz Phantasien hundertfach als Realität anzutreffen. Zum Beispiel 1992 in der bosnischen Stadt Foca. Nachdem diese von den Serben besetzt und in Srbnje (Die Serbische) umbenannt worden war, wurden die Frauen und Mädchen des Ortes in Schulen und Turnhallen zusammen gepfercht. Die serbischen Soldaten kamen jede Nacht. Und sie kamen nicht unbedingt von weit her. So manches Mal waren es die lieben Nachbarn, die bisher immer so nett gegrüßt hatten, und die sich nun in etwas ganz anderes verwandelten. Sie wählten vor allem Mädchen aus, verschleppten sie, vergewaltigten und quälten sie, brachten sie zurück, holten sie erneut. Besonders junge Mädchen wurden monatelang als Privatbesitz in Wohnungen gefangen gehalten, einige am Ende wie Vieh verkauft, andere umgebracht.
Spätestens im Krieg offenbart sich das ganze Ausmaß menschlicher Bestialität. Die normalerweise schlummernde sexuelle Kriminalität einer Gesellschaft erwacht, und tausende Männer tun plötzlich Dinge, von denen Wirtz und Lewendel noch nicht mal zu träumen wagten.
Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sondern auch Bestien. Lewendel und das Internet waren die Gelegenheit für Wirtz. Wirtz und sein Fiat Punto die Gelegenheit für Lewendel. Krieg ist die Gelegenheit für alle.
Von der Schriftstellerin Duve erschien zuletzt „Dies ist kein Liebeslied“, Sittig ist Leitender Redakteur bei der Welt am Sonntag.