Prostitution: Willst du verstehen?

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"Wenn du wirklich verstehen willst“, hatte Anna zu Aline gesagt, „musst du Zeit hier verbringen.“ Anna ist 63 und das, was man als Puffmutter bezeichnet. Sie hat mit 47 angefangen, sich zu prostituieren, seit zehn Jahren betreibt sie ein Bordell. Sie hat dort Tausende Frauen kommen und gehen sehen, zum Geburtstag und zu Weihnachten bekommen „ihre Mädchen“ ein Geschenk von ihr.

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Aline ist 34 und Reporterin beim Schweizer SonntagsBlick. Vor fünf Jahren bereiste sie die Welt und traf in Kolumbien oder Äthiopien immer wieder auf Frauen, die sich prostituierten. Schon da wollte sie verstehen. 2018 schrieb sie zum ersten Mal für den SonntagsBlick über Prostitution in der Schweiz. Ein Resultat ihrer Recherche: „Die meisten Frauen wollen aussteigen.“ Das rief die Pro-Prostitutionslobby auf den Plan. Sechs Initiativen und sogenannte „Fachstellen“ warfen Aline Wüst in einem Offenen Brief vor, ein falsches Bild gezeichnet und die „selbstbestimmte Sexarbeiterin“ ignoriert zu haben. Jetzt wollte Aline Wüst erst recht verstehen.

Wüst war zwei Jahre unterwegs: im Bordell, auf dem Straßenstrich, in Hotelbars

Also nahm sie Annas Rat an und verbrachte Zeit mit Elena, Sara, Zora und rund hundert weiteren Frauen, die sich in der Schweiz prostituieren: in Annas Bordell, auf dem Straßenstrich oder in Hotelbars. An vielen Abenden war Aline Wüst dabei, zwei Jahre lang.

Am Anfang bekam sie Platitüden zu hören. Dann fassten die Frauen Vertrauen. Sie berichteten ihr von den „Kunden, die mich benutzen wie einen Gegenstand. Sie behandeln mich wie Abfall“, erzählt Emma, 23, aus Rumänien. „Sie sagen zu mir: ‚Shut up und tu, was ich dir sage!‘. Sie denken dann, sie sind in einem Pornofilm. Sie benutzen schmutzige Wörter, reißen mich an den Haaren, packen mich ganz fest, spucken mich an, stecken ihren Finger in mich rein, spritzen in mein Gesicht. Du brauchst schon einen starken Charakter, um diesen Job zu bewältigen.“ Die Schweizerin Zora, 57, sagt: „Das kannst du gar nicht machen ohne Drogen.“ Und Roxy, 30, wie Emma aus Rumänien, erklärt: „Manche Männer denken, nur weil sie bezahlt haben, gehört ihnen mein Körper und sie können mit mir machen, was sie wollen. Mittlerweile bin ich das gewohnt.“

Die Frauen erzählten von Männern mit Windeln, die geschlagen werden wollen, bis sie sich vollkoten. Sie erzählten von Mordversuchen. Einmal schlug ein Stammfreier von Elena plötzlich ihren Kopf gegen die Wand, würgte sie und brüllte: „Ich will sehen, wie du stirbst!“ Elena wehrte sich und kam knapp mit dem Leben davon.

Und sie erzählten von ihren „Freunden“, für die sie arbeiten. „Entweder gehst du für mich anschaffen oder ich suche mir eine andere Freundin“, hatte Emmas Freund gedroht. Die Rumänin aus einer „Stadt voller Zuhälter“ findet dennoch, dass ihr Freund nicht ihr Zuhälter ist. „Er respektiert mich“, sagt Emma. „Er hat mich nicht gezwungen. Nun leben wir beide von dem Geld, das ich in der Schweiz verdiene.“

Die Frauen berichteten von Gewalt -
bis hin zu Mordversuchen

„Hinter fast jeder Frau steht heute ein Mann, der profitiert. Sei es ein Freund, ein Zuhälter oder ein Clan.“ Das sagt Puffmutter Anna.

Und das sagt auch Alexander Ott, Chef der „Fremdenpolizei“ in Bern. Wer in der Hauptstadt arbeiten will, und in der Schweiz gilt Prostitution als Beruf wie jeder andere, muss in seiner Behörde vorsprechen. Deshalb verfügt die Berner Fremdenpolizei als eine der wenigen Schweizer Behörden über statistisches Material zu Frauen (und Männern), die sich in ihrer Stadt prostituieren. Der Polizeichef weiß: 95 Prozent der Frauen in der Prostitution sind Migrantinnen, die Hälfte kommt aus Osteuropa.

„50 bis 70 Prozent der Frauen arbeiten aus unserer Sicht nicht unter offensichtlichem Zwang“, erklärt er. Aber es sei „schwierig, den Zwang im Hintergrund zu sehen, wenn die Frauen sagen, sie tun es freiwillig.“ Diese Frauen seien oft nur drei Jahre zur Schule gegangen und „treffen dann einen Mann, der sagt, er liebe sie. Bei diesem Phänomen sind wir ziemlich machtlos“, bedauert Polizeichef Ott. Und er fügt hinzu: „Ich habe noch nie eine Frau getroffen, die diesen Beruf über längere Zeit ausübte und dabei gesund geblieben ist.“

Aline Wüst hat auch mit ÄrztInnen gesprochen. In der gynäkologischen Sprechstunde des „Ambulatoriums Kanonengasse“ in Zürich branden die Frauen an, die keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben. Es sind überwiegend Prostituierte, rund tausend pro Jahr. Einige sind schwanger. „Das Team hier weiß, dass in manchen Kulturen die erste Schwangerschaft nicht abgetrieben wird – egal, von wem das Kind ist. Und auch, dass Frauen aus gewissen Ländern extrem auf ihre Mutterrolle programmiert sind“, schreibt Wüst. Deshalb verhüten sie entweder gar nicht oder unsicher.

Die Frauen stehen unter großem Druck, Geld zu verdienen. Alles andere blenden sie aus

Die Frauen kommen wegen Infektionen und Schmerzen im Unterleib. Gewalt sei eher selten Thema, ziehe sich aber „wie ein roter Faden durch die Sprechstunden“, erklärt Milena Stoffel, Teamleiterin der Ambulanz. „Die Frauen sind oft unter starkem Druck, Geld zu verdienen, alles andere blenden sie so lange wie möglich aus.“

„Es ist ja nicht so, dass eine Frau aufzeigt und sagt: ‚Ich bin ein Opfer von Menschenhandel!‘“, erklärt Simon Steger, Chef der „Fachgruppe Sexualdelikte“ der Luzerner Kripo. „Opfer zu identifizieren und Beweise zu finden, ist mit sehr großem Aufwand verbunden und mit viel Ermittlungsarbeit.“ Auch mit ihm hat Aline Wüst gesprochen. Und mit Freiern, die Sätze sagen wie: „Ich bin gern dominant im Bett. Mit Prostituierten bin ich noch ein bisschen dominanter – an den Haaren packen, bisschen würgen.“

Wüst hörte sich auch an, was der Milieu-Anwalt, der in vielen Schweizer Talkshows sitzt, zu sagen hatte. Nämlich: „Sexarbeit ist normale Arbeit.“ Sein Duz-Freund ist der Stuttgarter Bordellier Jürgen Rudloff, der ebenfalls in vielen Talkshows saß, bis er im Februar 2019 wegen Beihilfe zum Menschenhandel zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

Nach zwei Jahren Recherche sitzt Aline Wüst im Februar 2020 im Zürcher Kulturlokal „Kosmos“, das zur Talkrunde lädt, Titel: „Sexarbeit – unsere Arbeit“. Auf dem Podium: eine „Erotik-Artistin“, eine „Sexualbegleiterin“ und eine Bordellchefin. Sie vermietet 20 Zimmer für 600 bis 900 Franken pro Woche. Macht rund 60.000 Franken im Monat.

Eine ehemalige Prostitutierte: Es war nie Arbeit. Es war bezahlte Vergewaltigung

Als für Fragen aus dem Publikum geöffnet wird, meldet sich eine ehemalige Prostituierte zu Wort. Sie sagt: „Ich habe meine Tätigkeit nie als Arbeit empfunden. Es war immer, ausnahmslos, eine bezahlte Vergewaltigung, bezahlter Missbrauch. Und jetzt zu meiner Frage: Können Sie sich eine Welt vorstellen, in der man Sex hat, weil man Lust aufeinander hat, weil man sich gegenseitig begehrt, nicht, weil man gerade Geld braucht?“ Bordellchefin Clementine antwortet: „Also Entschuldigung, ich höre hier eine Fragestellung aus einer akuten Opferhaltung. Sie sind nicht repräsentativ. Opfer sehen überall nur Täter.“

Bei Aline Wüst haben sich nach Veröffentlichung ihres Buches „ehemalige Prostituierte gemeldet und sich bedankt“, sagt Wüst. Frauen wie Sandra aus Kamerun, die sagt: „Prostitution ist keine Arbeit. Ich will, dass die Leute das verstehen. Und ich frage mich, warum die Schweizer Regierung so etwas erlaubt. Das zerstört so viele Frauen und Mädchen.”

Das ist eine sehr gute Frage, die sich in der Schweiz dank dieses realistischen Einblicks in die Welt der Prostitution jetzt mehr und mehr Menschen stellen. Zum Beispiel SonntagsBlick-Chefredakteur Gieri Cavelty, der konstatiert: „Der Staat möchte gar nicht wissen, was passiert. Es hat sich ja bisher niemand beklagt. Und es ist ja so praktisch mit diesen namenlosen Frauen aus Osteuropa, aus Asien, aus Afrika, die gleich verschwinden, sobald sie nicht mehr gebraucht werden.“

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Aline Wüst: Piff, Paff, Puff. Prostitution in der Schweiz. (Echtzeit)

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