Es begann mit Barbie...

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... doch wo endet es? fragt sich Barbara Sichtermann. In einer wirklichen sexuellen Freiheit? Oder in dem verstärkten Zwang zum Konsum und einer eingeschränkten Persönlichkeit?
Es begann mit der Barbiepuppe. Die war, als sie vor nun bald fünfzig Jahren auf dem internationalen Spielzeugmarkt erschien, unter all den Mini-Nachbildungen von Babys ein provokantes Novum. Sie war erwachsen. Sie war sexy. Sie lud ihre Besitzerin nicht dazu ein, sie zu bemuttern, sondern - ja, wozu eigentlich? Vielleicht, sich mit ihr zu identifizieren?
Die Puppenmama war sechs oder neun Jahre alt, und die Puppen waren ihre Kinder. Im Spiel durfte das kleine Mädchen die Autorität einer ausgewachsenen Familienmutter beanspruchen und an den Puppenkindern all die erzieherischen und pflegerischen Handlungen vollziehen, die sie aus dem Alltag mit der eigenen Mutter kannte. Diese Nachahmung war ein probater Modus, um Bewunderung und Zärtlichkeit, aber auch Frust und Wut zum Ausdruck zu bringen. Mit Barbie ging das nicht mehr.
Diese schicke junge Dame verwandelte die Puppenbesitzerin in eine Art kleine Schwester, die in Barbie das Ideal erkennen sollte, in das sie selbst einmal hineinwachsen würde. Wenn jetzt das spielende Mädchen seine Mutter kopierte, dann nicht mehr in der Rolle der Versorgerin, sondern der Liebhaberin. Plötzlich war die erwachsene Weiblichkeit mit ihren Lockattributen, ihren Brüsten, Frisuren, Negligés und Stöckelschuhen in die Kinderstube eingebrochen - getarnt als Puppe.
In dem seither vergangenen halben Jahrhundert hat die Industrie in den Branchen Spielzeug, Kleidung, Sport, Unterhaltungselektronik, Popmusik etc. begriffen, dass der Slogan ‚Sex sells' nicht bloß in der Erwachsenenwelt funktioniert. Und wenn es bei Kindern klappt, dann doch wohl erst recht bei Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 17, die sich anschicken, erwachsen zu werden. Jegliche Zurückhaltung wurde aufgegeben.
Fünfjährige Mädchen hüpfen am Strand in Bikinis herum, deren Oberteile auf der glatten Brust seltsam sinnlos aussehen. Elfjährige tragen Dekolleté und jede Menge Maskara. Zehnjährige Jungs markieren in wattierten Jacken den Macker und stecken sich in Ermangelung einschüchternder Bartstoppeln Kippen in den Kindermund. Ein ganzes Genre von so genannten Teenager-Movies versammelt die Kids in den Kinos, wo sie dem hässlichen Entlein bei der Entpuppung zur Dancing Queen beiwohnen. Und die kostspieligen Accessoires vom Handy bis zum MP3-Player werden längst von Kindern im Grundschulalter auf den Wunschzettel gesetzt.
Dieser ausgepichte Konsumzirkus wird von der Popindustrie mit passenden Geräuschen und vom Zeitschriftenmarkt mit kommentierenden Magazinen wie Bravo begleitet. Die ja ihrerseits selbst wieder Waren und für einen möglichst hohen Umsatz geschaffen sind.
‚Sex sells' bezog sich eigentlich auf die Werbeindustrie und sollte beweisen, dass das Foto eines schönen Mädchens, das sich an ein Auto schmiegt, diesem Auto ein Plus an Käufern beschert. Das Auto bleibt eine Maschine, nur die Reklame operiert mit erotischen Motiven. Die Jugendkultur belässt es nicht bei sexy Inseraten, sondern sie sexualisiert ihre Produkte selbst. Die gesamte einschlägige Industrie ist in die Fußstapfen der Barbiepuppe getreten.
Die (weibliche) Kindermode ist auf Sexappeal aus, die Texte von Popsongs für Teenies sind es gleichfalls, und so auch die Teen-Soaps im Fernsehen, die Jugendzeitschriften, die Unterhaltungsliteratur. Die Message ist klar: Girls, es gilt keine Zeit zu verlieren, übt schon heute das Frausein! Jungs, werdet Männer - nein, seid Männer!
Und hier stoßen wir auf einen wichtigen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Während das Mann-Werden der Buben sich mit allerlei Haltungen und Zielen verträgt, die nichts oder wenig mit Sex zu tun haben wie - Sport, Selbstbehauptung, Politik und Technik - ist das Frau-Werden der Mädchen direkt und zentral auf ihre Sexualität und damit auf den Mann bezogen. Es gibt in Bravo Girl auch ein paar neutrale Texte über Medizin, Mystery oder Tierschutz, aber diese Themen sind derart randständig, dass man sie fast übersieht.
Im Mittelpunkt steht der weibliche Narzissmus, der mit einer endlosen Parade von Mode, Kosmetik, Klatsch und Beratung im Stil von "Wie lange soll ein Mädchen warten, bis es Ja sagt?" über "Wer ist der Richtige für dich?" bis zu "Welcher Sex-Typ bist du?" bedient wird. Der traurige Witz dabei ist, dass die gleichaltrigen Jungs sich (noch) kaum um Mädchen scheren und dass der enorme Aufwand an Styling und zitternder Vorbereitung auf das ‚erste Mal' letztlich ins Leere geht: in die Träume, in die Phantasien und in Bravo Girl-Käufe. Voll werden die Kassen der Jugendkulturindustrien. Barbie hat auf der ganzen Linie gesiegt.
Ihr Erfolg, der auch der Erfolg von Bravo Girl ist, wirft die Frage auf, ob frühere Zurückhaltung in Sachen Sex Kindern gegenüber richtig war. Wenn die Resonanz so riesig ist, muss doch ein Bedürfnis da sein, oder? War es also ein Fehler vergangener Zeiten, Puppen mit einem Kleinkindantlitz zu versehen statt mit der erotischen Schnute der Barbie?
Dr. Sommer, Alt-Briefkastenonkel von Bravo und auf erotische Detailfragen spezialisiert, äußert sich dazu im Oktober 2005 in einem Interview mit der FAZ. Die Schlüsselfrage: "Wann ist Sex jugendgefährdend?" beantwortet er so pfiffig wie radikal: "Überhaupt nie. Gefährdend ist, Jugendliche vor sexuellen Erfahrungen zu warnen und ihnen das Recht abzusprechen, Sexualität zu praktizieren."
Über Kinder spricht Dr. Sommer vorsichtshalber nicht. Die Frage, wann die Kindheit endet und das Jugendlichenalter beginnt, ist ja auch schwer zu klären. Eine allgemeinverbindliche Grenze zu ziehen, ist problematisch, weil die individuellen Abweichungen zu groß sind. Man kann sich darauf einigen, dass ein Kind kein Kind mehr ist, wenn es in die Pubertät kommt und sich für Sex zu interessieren beginnt, aber auch hier gibt es Übergänge, die Jahre dauern können. Kurz: Ob es wirklich immer förderlich ist, jungen Menschen dazu zu raten, "Sexualität zu praktizieren", muss bezweifelt werden.
Wenn die Frage so steht, ob es pädagogisch klüger und besser ist, die Babypuppe oder die Barbiepuppe anzubieten, muss jedenfalls zugestanden werden, dass sie offen ist. Und dass Barbie zwar den kommerziellen, aber nicht auch noch den moralischen Sieg davontragen kann.
Es ist ja leider so, dass Sexualisierung funktioniert, das heißt, dass einem Teenie, der eigentlich von Sex noch gar nichts wissen will, die erotische Sicht auf die Dinge des Lebens aufgenötigt werden kann. Denn die ist immerhin seine Zukunft und regt sich ja auch schon in ihm. Sexualität ist als Spannung, Geheimnis, Lebenszweck und Glücksversprechen so mächtig, dass sie fast immer einer gewissen Aufmerksamkeit sicher sein kann, wenn ihr Thema angeschlagen wird, auch bei sehr jungen (oder alten) Menschen, denen die Praxis fern liegt. Mit einem Wort: Man kann Kinder durch entsprechende Angebote zu einer verfrühten Entpuppung ihrer erotischen Persönlichkeit drängen. Man kann es aber auch lassen.

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Unsere Kultur hat sich für den ersten Weg entschieden. Die Kinder sind wehrlos. Was da passiert, ist von Erwachsenen zu verantworten. Sie sind es auch, die ihren Übergriff auf die junge Generation mit der Ideologie der Freiheit verbrämen, siehe Dr. Sommer. Das Freiheitsverlangen, das er ins Feld führt (jeder und jede soll Sex haben können, wann immer er/sie es wünscht, egal, wie jung er/sie ist), hatte seinen guten Sinn, als die Sexualität noch von Tabus umstellt war. Heute ist das Pendel umgeschlagen: Sex ist Pflicht. Und so sei die Frage erlaubt, ob das auch für Kinder gelten muss. Die Vorteile für Anbieter von bauchfreien Tops Größe 34 und Bravo Girl liegen auf der Hand. Was aber bedeutet das Sex-Theater für die Mädchen und Jungen selbst?
Die FAZ-Frage an Dr. Sommer, wann Sex jugendgefährdend sei, ist wahrscheinlich von dem Frager nicht ganz ernst gemeint gewesen. Sie hat es aber in sich. Und zwar, weil sie sich so erweitern lässt: Wann ist Sex erwachsenengefährdend? Oder schlicht: Wann ist Sex gefährlich? Nur wenn man diese Frage wie Dr. Sommer beherzt mit einem "Nie!" beantwortet, kann man Sex guten Gewissens auch auf die Jüngsten loslassen. Bloß: Dann hat man so gut wie nichts davon verstanden.
Wir haben ja nun auch den Gegendiskurs zu dem weichgespülten, rosaroten, klebrigen Sex-Gelaber von Bravo Girl, und das ist die Missbrauchsdebatte mit ihren harten, finsteren, pessimistischen Aussagen über die menschliche Spezies und ihre Fähigkeit, als sexuelle Wesen zugleich menschen- und kinderfreundlich zu sein.
Nicht dass die kleinen Mädchen (und Jungen) sich verführen lassen, weil sie durch die Lektüre von Bravo verdorben worden wären, so einfach ist es nicht. Es ist vielmehr so, dass die Sexualisierung der Kinderwelt mit einer Verharmlosung der Sexualität einhergeht, die selbst nicht harmlos ist. Da, wo die Kindesmissbrauchsdebatte in eine Dämonisierung der Sexualität umschlägt, ergänzen sich diese beiden Diskurse, sie ergeben ein fürchterliches Ganzes, aber immerhin ein Ganzes.
Dr. Sommer erzählt den Kids, dass Sex einen Riesenspaß macht und dass sie gar nicht früh genug anfangen können, sich auf diesen quietschlustigen Sport vorzubereiten. Die Missbrauchsdebatte spricht laut davon, wie zerstörerisch es für Kinder ist, wenn Sex verfrüht, gewaltsam und unerwünscht in ihr Leben dringt.
Und die Jugendlichen selbst? Sie nehmen beide Botschaften wahr. Und dann haben sie ja auch noch sich selbst. Sie fühlen wohl zuweilen, dass die Sexualität, die sie für sich noch entdecken müssen, tiefere Rätsel birgt, als das Dr. Sommer-Format zulässt. Wenn sie Glück haben, kommen sie auf die beste Idee, die sie in ihrer Lage haben können: sich Zeit zu lassen.
Eine andere gute Idee, die in unserer Epoche fast nie laut ausgesprochen wird, wagt es, Sexualität nicht nur als Quelle von Lust, sondern auch mal als Quelle von Angst, Pein und Überforderung zu sehen und die Frage zu stellen, ob die relative Sex-Ferne von Kindern nicht einen Sinn habe. Es ließe sich auch die These verteidigen, dass die - im Vergleich zur Tierwelt - extrem lange Kindheit des homo sapiens dazu dienen soll, dem Nachwuchs vor der Geschlechtsreife den Kopf frei zu halten, damit er ein reiches Leben seines Geistes entfalten kann, das von den Anfechtungen, Sehnsüchten und Ekstasen der Triebe unbelästigt ist.
Zu Beginn der Pubertät ergreift die Sexualität mit ihren Strategien der Selbstinszenierung und der Partnerfindung sehr weitgehend Besitz von den Menschen, von ihren geistigen Ansprüchen, seelischen Kräften und vitalen Strebungen. Und sie hört erst im höheren Alter wieder damit auf. So wäre es doch plausibel, wenn das biologische Programm eine Phase im Menschenleben vorgesehen hätte, in der Sexualität keine Chance hat, das Leben zu lenken und in der den Lernbedürfnissen der jungen Jahre breiter Raum gewährt wird. Die reife Kindheit zwischen fünf und vierzehn Jahren könnte ein von der Evolution für diesen Zweck freigegebener Zeitraum sein.
Viele größere Kinder nehmen sich diesen Raum. Sie spielen als Mädchen Fußball, als Jungen mit Puppen, wickeln sich um ihre Leiber, was sie gerade finden, ohne sich im mindesten um ihr Outfit und ihre Wirkung zu kümmern, kurz: Sie widerstehen den Sexualisierungstendenzen oder nehmen sie gar nicht wahr. Barbiepuppen-Besitzerinnen behandeln das Sexy Girl in ihrem Puppenhaus nicht anders als Teddy und Baby, füttern es und decken es zum Nachtschlaf zu.
Manche Jungs von zehn Jahren haben mit Macho-Posen gar nichts im Sinn, basteln mit den Schwestern und schreiben Gedichte. Es gibt sogar manchmal dreizehnjährige Mädchen, die sich weigern, supersexy und Jungs, die keinen Bock haben, supercool zu sein. Diese charakterstarken Kinder sind womöglich die glücklicheren und obendrein mit einer besseren Prognose gesegnet, was ihre späteren Schulleistungen betrifft. Denn es lässt sich mutmaßen, dass eine sexfreie Zone in Kindheit und früher Jugend für die Entwicklung der geistigen Aufnahmebereitschaft günstig ist.
Zu solchen Vermutungen gibt es keine Zahlen. Dennoch können sie zutreffen. Und wenn es so ist, arbeiten Barbie, Bravo und alle Konsumgüterindustrien, die mit Blick auf das Taschengeld die Grenze, die die Kindheit vom Erwachsenenalter trennt, immer näher an die Wiege rücken wollen, an einem gewaltigen Verblödungsprogramm.
Genauer gesagt: Sie arbeiten daran, ein geistiges Potenzial, das ab dem Schuleintrittsalter bereitliegt, um das Kind mit Kulturtechniken und intellektuellem Vermögen für seine Weltbegegnung auszurüsten, lahm zu legen bzw. umzulenken: auf das sexuelle Interesse, das latent immer da ist, das aber nicht zufällig in der "Latenzphase" auf Tauchstation geht. Wird es verfrüht stimuliert, so ist auch die innere Ruhe hin, die die intellektuelle Neugier begleitet und den Kindern Lebensbereiche erschließt, die sie gerade nicht auf die Geschlechtsrolle vorbereiten.
Die kommt noch früh genug und ergreift dann ohnehin Besitz von der gesamten Persönlichkeit. Wenn es etwas zu schützen gibt an den zarten, unsicheren Wesen, die pubertierende Mädchen und Jungen meistens sind, dann ist es das Kind in ihnen, das die Welt kennen lernen möchte und sich dabei noch nicht für ein Geschlecht entschieden hat.

Die Autorin hat eine 22-jährige Tochter. Sie veröffentlichte u. a. den Eltern-Ratgeber ‚Frühlingserwachen' (rororo) und ‚Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs (mit Ingo Rose, Edition Ebersbach).

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