3. Preis für Fiona Ehlers: Und ewig
Es begann vor zwanzig Jahren im Sauerland, mit der Liebe zwischen einer Deutschen und einem Libanesen. Seitdem haben sich die Mitglieder dieser Familie gegenseitig immer wieder gekidnappt, verletzt, ins Unglück gestürzt - ein ganz privater Kampf der Kulturen.
Jasmin A. verschwand am 14. April bei Sonnenuntergang. Das Letzte, was ihre libanesische Familie von ihr sah, waren das Kopftuch, tief ins Gesicht gebunden, und die Abaja, ihr schwarzer Umhang, ohne den sie niemals das Haus verließ. Sie trug ihre kleine Tochter auf dem Arm und zog einen Koffer durch die Straßen von Tripoli. Der Muezzin rief zum Abendgebet, ein warmer Wind wehte vom Mittelmeer her, bald würde es kühler werden.
Ins Flugzeug stieg sie mit erhobenem Kopf, sie wusste, es würde ein Abschied für immer sein. Sie wollte in ein neues Leben fliegen, das auch ihr altes war. Sie fand sich mutig.
Sechs Stunden später, 3000 Kilometer weiter westlich, warteten fünf Menschen am Düsseldorfer Flughafen, sie winkten und lachten, sie riefen Worte, die rauh und polternd klangen. Ein Mann, der sich später als Cousin vorstellte, schaute durch eine Videokamera, "da ist sie, ich hab sie", rief er und drückte auf "Record".
Am Ende der Rolltreppe trat eine Frau auf Jasmin zu, zögerlich erst, dann strich sie ihr durchs Gesicht und weinte. Das war sie also, ihre Mutter. Jasmin war drei Jahre alt, als sie ihre Mutter zum letzten Mal gesehen hatte. Sie konnte sich nicht erinnern. Auch nicht an die Entführung, damals, als sie noch zu jung war, selbst zu entscheiden, wie sie leben sollte. Damals, als ihr Vater sie mitnahm in seine Heimat.
Ein halbes Jahr nach der Ankunft in ihrem neuen Leben steht Jasmin A., ein hübsches, ernst blickendes Mädchen, 22 Jahre alt, am Fenster eines Fachwerkhauses in Frankenberg und starrt hinaus in den Regen. Andere Geschichten über Kindesentführungen enden hier, normalerweise, nach einer geglückten Flucht, nach dem Wiedersehen mit der Mutter und dem Triumph über den bösen Vater. Aber für Jasmin hat nur ein neues Kapitel begonnen.
Auf dem Couchtisch in Jasmins Wohnung steht ein Wecker, geformt wie ein arabischer Torbogen, durch den man die Kaaba von Mekka sieht. Pünktlich zum Nachmittagsgebet ertönt die Stimme eines Muezzin. Jasmin trägt enge Jeans und ein Top, das ihren Bauchnabel frei lässt, sie geht ins Badezimmer, wäscht Hände, Füße, benetzt das geschminkte Gesicht und schlüpft in den Gebetskittel, dessen Kapuze ihr Haar verdeckt. Auf einem handtuchgroßen Teppich verneigt sie sich gen Osten. Im Krankenhaus von Frankenberg wurde sie geboren, in der katholischen St.-Heribertus-Kirche getauft, doch Jasmin ist Muslimin, seit sie denken kann. Sie sagt, Allah sei ihr Beschützer, der einzige, den sie habe.
Jasmin lebt jetzt wie eine der Frauen, vor denen sie ihr Vater immer gewarnt hatte, eine deutsche junge Frau - und sie fühlt sich schuldig dabei. Als Verräterin an ihrem Vater, von dem sie sagt, dass sie ihn trotz allem liebe. Als Sünderin vor Allah. Sie weiß nicht, wo sie hingehört.
Sie steht am Fenster und erzählt vom Drama ihrer Familie, einer Familie aus Deutschen und Arabern, die sich gegenseitig verschleppten, verletzten, ins Unglück stürzten; von ihrem Vater, der sie vor bald 20 Jahren entführte, um sie vor ihrer deutschen Mutter und den Zumutungen eines westlichen Lebens zu schützen. Und Jasmin erzählt von ihrer Tochter Rawan, keine zwei Jahre alt, die sie vor ein paar Monaten, bald 20 Jahre nach ihrer eigenen Entführung, aus der Heimat im Libanon mitnahm, um sie vor dem arabischen Vater und den Zumutungen eines orientalischen Lebens zu schützen.
Ein Besuch bei Jasmin und ihrer Familie im Sauerland und im Libanon ist wie ein Crashkurs im Kampf der Kulturen. Sie alle beharren auf ihren Vorurteilen oder ihrem Gott, es ist ein Kampf ohne Wahrheit und ohne Versöhnung. Jeder hat recht, jeder tut Falsches.
Draußen dunkelt es jetzt, es ist der erste Tag des Fastenmonats Ramadan, Jasmin sitzt vor der neuen Mikrowelle, einem Geschenk ihrer deutschen Familie, und bricht ihr Fasten mit drei Datteln. Es klingelt. Jasmin erschrickt, das tut sie jetzt öfter, seit der Vater und der Ehemann wüten und manchmal nachts das Telefon schrillt und keiner antwortet. Sie drückt den Knopf der Gegensprechanlage. Es ist die Fremde vom Flughafen, Michaela S., Jasmins Mutter. Fast 20 Jahre waren sie voneinander getrennt, kein Brief, kein Telefonat, kein Foto. Sie setzen sich auf Jasmins neues Sofa und starren hinaus in den Regen. Sie streiten.
"Nach deiner Ankunft hast du nie gebetet, jetzt fünfmal am Tag, warum?", fragt die Mutter, die nicht weiß, wie Fasten geht und wozu es gut sein könnte. Das einzige arabische Wort, das sie kennt, ist habibi, Liebling.
"Ich weiß selbst, was richtig für mich ist", sagt Jasmin, nach einem halben Jahr in Frankenberg ist ihr Deutsch fast perfekt.
"Du bist so starrsinnig wie dein Vater."
"Ich kann es nicht leiden, wenn du so über Papa sprichst! Er hat etwas Schlimmes getan, aber er hat es für mich getan! Dass er mich als Muslimin erziehen ließ, war das größte Geschenk, das er mir machen konnte. Und du? Du zeigst mir nicht einmal jetzt deine Liebe!"
Es sind die trotzigen Worte einer Tochter, die ihrer Mutter nicht verzeihen kann, dass diese nicht um sie kämpfte. Die enttäuscht ist, seit sie weiß, wer ihre Mutter ist. Kein Engel, wie sie dachte. Eine einfache Frau, sie geht putzen in einer Schule, ist wieder verheiratet, ihr neuer Mann arbeitslos. Wenn Jasmin sauer ist, sagt sie, dass sie nun verstehe, warum ihr Vater sie damals entführt habe. Sie droht, zurück in den Libanon zu gehen, diesmal freiwillig.
Dann krabbelt Jasmins Tochter Rawan ins Zimmer. "Na, mein Mädchen", sagt Michaela S. und wirbelt ihre Enkelin durch die Luft. Sie kommt jetzt jeden Tag zu Besuch, um die verlorenen Jahre wiedergutzumachen. Um wenigstens dabei zu sein, wenn ihre Enkelin aufwächst. Es sind die hilflosen Gesten einer Frau, die als Mutter versagt hat.
Im Gegensatz zu ihrer Tochter hat Michaela S. viele Erinnerungen an damals. Sie sieht älter aus, als sie ist: 42 Jahre. Sie trägt einen Schlabberpulli über der rundlichen Figur und fühlt sich betrogen um ihr Leben und die Liebe ihrer Tochter. Sie sagt, die Geschichte mit Jasmins Vater habe begonnen wie viele Geschichten dieser Art: Zwei Menschen aus zwei Kulturen begegnen sich am Bierstand auf dem Schützenfest, ein Muslim mit dunklen Locken und eine blonde Fabrikarbeiterin, sie 17, er 18. Das Fremde sei halt exotisch, sagt sie, erst ziehe es die Menschen magisch an, dann gingen sie wie wild aufeinander los.
"Am Anfang war es Liebe", sagt Michaela S., "Abdel war zärtlich und tolerant, manchmal trank er Altbier mit uns und aß Schweinefleisch, das war billiger." Schlag ihn dir aus dem Kopf, sagte ihre Familie, acht Geschwister und die Eltern. Drei Wochen vor Ablauf seiner Aufenthaltsgenehmigung heirateten sie.
Nach Jasmins Geburt war die Ehe am Ende. "Er war jetzt Egoist", sagt Michaela S., "nörgelte an mir herum. Ich durfte nicht mehr ausgehen - und er kam heim mit Lippenstift am Kragen." Im Sommer 1985 trennen sie sich.
Jasmin wuchs bei der Mutter auf, ein Kind, das "gell" sagte, ein Rabauke mit Kurzhaarschnitt und Flicken auf den Hosen. Nur jeden zweiten Sonntag, wenn der Vater es nach dem gemeinsamen Wochenende bei der Mutter ablieferte, war es ausstaffiert wie ein Püppchen, trug Kleider, war geschminkt. Der Vater hatte Jasmin herumgezeigt bei Freunden, die Mutter stellte sie unter die Dusche und schrubbte. Sie sagt: "Abdel wollte Arzt werden. Er schaffte es bis zum Helfer in der Bettenzentrale des Frankenberger Krankenhauses, nach der Scheidung bewohnte er dort ein Schwesternzimmer."
An einem Freitag im November 1986, zwei Monate nach der Scheidung, holte Abdel A. seine Tochter, damals dreieinhalb, zum letzten Mal ins Wochenende. Michaela S. wartete bis Sonntag, 19 Uhr, um 20 Uhr durchwühlte sie die Schubladen im Wohnzimmerschrank. Leer, Jasmins Kinderausweis war weg, der Babypass, der Impfpass und die Geburtsanzeige aus der Zeitung. Sie rief im Krankenhaus an. Der ist weg mit der Kleinen, sagte der Pförtner, im Flieger nach Beirut. Hätten Sie's vorher gewusst, sagte die Jugendrichterin, wir hätten den Flughafen gesperrt.
Tage später kam ein Anruf aus dem Libanon. Wir machen Urlaub, sagte Abdel A., in einer Woche hast du sie wieder.
Ein Jahr nach der Entführung bekam sie Post aus dem Libanon, drei Seiten, arabische Schriftzeichen und Stempel. Sie hatte "ein mulmiges Gefühl", gab den Brief ihrem Anwalt. Als die Übersetzung fertig war, sagte der, damit sei der Fall wohl erledigt.
Es war ein offizielles Schreiben, unterzeichnet von einem Arzt, Jasmins Todesurkunde. "Verstorben am 27. August 1987 in Tripoli", stand da, "Todesursache: Eingeweidefieber und akute Entzündung der Harnwege".
Michaela S. versteckte ihren Kummer unter der Bettdecke. Sie schluckte Schlaftabletten, stand wochenlang nicht auf. Das ist bloß ein Trick, sagte ihre Familie, Jasmin lebt. Lass uns in den Libanon fahren und nach ihr suchen. Michaela S. sagte: "Ich habe keine Telefonnummer und keine Adresse. Wenn Jasmin wirklich tot ist, kann ihr keiner mehr helfen."
Sie richtete sich in ihrem Leben als verwaiste Mutter ein. Irgendwann meldete sie sich bei der "Elterninitiative vermisste Kinder". Irgendwann rief ein Libanese an, Jasmin lebe bei ihren Großeltern, er habe Beweise. Sie traf ihn in Hamburg, dort sagte er, er werde bedroht und müsse schweigen.
Michaela S. muss es gespürt haben, Jasmin lebt, aber sie überprüfte es nicht. "Sie ging schon immer den Weg des geringsten Widerstands", sagt ihre Familie. Sie ließ das einzige Foto, das ihr von Jasmin geblieben war, vergrößern und rahmte es ein. Darauf legt die Tochter einen Arm um den Hals ihrer Mutter, beide lachen.
Im Hafenviertel von Tripoli, der zweitgrößten Stadt im Libanon, stehen Wohnsilos aus Beton, dazwischen Baracken, von denen der Putz blättert. Es gibt Barbiersalons und Teestuben, in denen Männer hocken und Karten spielen. Viele von ihnen sind palästinensische Flüchtlinge wie Jasmins Familie, die meisten strenggläubige Sunniten. Sie blicken auf, wenn Fremde kommen.
Jasmins libanesische Familie wohnt in der Straße der Märtyrer, in einer der Baracken zwischen Basar und Mittelmeer. Es ist noch sommerlich, zweite Ramadan-Woche, Oktober 2005. Jasmins Großeltern und ihr Onkel Schadi quetschen sich um den Couchtisch in der winzigen Wohnung. Sie feiern Iftar, das Mahl am Ende eines Fastentags, die Großmutter hat Jasmins Lieblingsspeisen zubereitet, rohes Rindfleisch und Zuckergebäck. Jasmins Großvater schaut Telenovelas im Fernsehen, die Falten in seinem Gesicht erzählen von der Flucht aus Palästina, von Kriegsjahren und den Sorgen um fünf Kinder. Die drei sprechen von Jasmin, wie immer. Die sitzt in Deutschland vor ihrer Mikrowelle, allein.
Sie sind gastfreundlich und erstaunlich offen, sie sagen, dass Jasmin ein Recht darauf habe, in Deutschland glücklich zu werden. Auch ohne Kopftuch, als junge Deutsche. "Wir vertrauen ihr", sagt Jasmins Großmutter. "Sie ist Muslimin, sie wird schon nicht über die Stränge schlagen." "Schauen Sie sich um", sagt Jasmins Onkel, "Jasmin floh vor der Armut und der Trostlosigkeit, hier war sie wie lebendig begraben. In Deutschland wird sie sich ihre Träume erfüllen, Ausbildung, Job, Geld. Aber sie wird dafür bezahlen: Einsamkeit ist der Preis der Freiheit."
Jasmins Großmutter öffnet die knarrende Holztür und tritt in den Hinterhof, Wäsche trocknet im Abendwind, Nachbarn stellen sich dazu. Damals spielte hier ihre Enkelin, jetzt haben sie einen Jasminstrauch gepflanzt, es duftet süß. "Sie kam in rosa Hosen und Winterjacke", sagt die Großmutter, "wie ein Kind vom anderen Stern. Sie war ein Geschenk des Himmels, wir wussten von nichts."
Nach ein paar Wochen flog Abdel A. damals zurück nach Deutschland, so unerwartet, wie er ihnen das Kind gebracht hatte. Er hinterließ eine Liste mit deutschen Worten. Wenn Jasmin quengelte, erinnert sich die Großmutter, sollte sie "Lutscher" sagen und ihr etwas Süßes geben. Wenn sie weinte: "Bald komme deine Papa."
Sie sprachen Arabisch mit Jasmin, die fragte "was?" und zeigte auf den Kühlschrank, wenn sie Hunger hatte. Die Nachbarn sagen, sie mochten Jasmin, weil sie einen lustigen Akzent hatte und frecher war als die anderen Kinder. "Nur nachts, da schrie sie 'Mama, Mama'", sagen sie, "so laut, dass wir nicht schlafen konnten."
"Das ist nicht wahr", sagt Jasmins Großmutter und wischt sich Tränen aus den Augen. "Es fehlte ihr an nichts. Eine Mutter ist doch die, die ein Kind aufzieht. Nicht die, die es zur Welt bringt." Offiziell war Jasmin jetzt Tochter ihrer Großmutter Kuteiba A., Jahrgang 1939, und ihres Großvaters Fuad A., 1930. Jasmins Vater hatte die Todesurkunde fälschen lassen. Damals war Krieg, mit Schmiergeld war vieles möglich. In die ebenfalls gefälschte Geburtsurkunde ließ er Tripoli als Geburtsort eintragen, als Jasmins Eltern: seine.
Jasmins Großeltern ließen es geschehen, sie glaubten ihrem Sohn, als der sagte: Jasmins Mutter trinkt, sie hat einen neuen Freund, sie ist nicht gut für meine Tochter. Auch sie versuchten, alles richtig zu machen. Was hätten sie tun sollen? Das Kind zurückschicken? Heimlich Jasmins Mutter kontaktieren? Heute bleiben ihnen Erinnerungen, die wöchentlichen Telefonate und die Fotos von Jasmin und ihrem Baby, sie kleben am Kleiderschrank.
Jeden Abend, wenn der Muezzin zum Nachtgebet rief und der Lärm aus dem Basar verklungen war, machte sich auch Jasmin ein Bild von ihrer Mutter. Sie lag in ihrem Bett im fensterlosen Flur, starrte an die Decke mit den Wasserflecken, bis ihr ein Engel erschien. Jahrelang stellte sie sich ihre Mutter wie eine Figur aus den Telenovelas vor: blond, gütig, vollkommen.
Jeden Morgen wurde sie von Onkel Schadi in die Mädchenschule gebracht. Er ist elf Jahre älter und wurde ihr engster Vertrauter, mit ihm sprach sie darüber, wie es ist, ohne Eltern aufzuwachsen, und warum sie oft so traurig war. Manchmal standen sie an der Uferpromenade, schauten gen Europa, sahen Touristen. Wer nicht kam, war Jasmins Mutter.
Ein-, zweimal im Jahr besuchte sie ihr Vater. Aus Deutschland brachte er Geschenke mit, eine Puppe mit gelben Zöpfen, sie liegt noch heute auf Jasmins Bett in Tripoli, neben einer Tüte mit Kopftüchern. Mitte der neunziger Jahre kam er mit seiner neuen Frau, einer Iranerin, und dem gemeinsamen Sohn. Dann wurden die Besuche seltener. Es war, als hielte er Jasmin für einen Ausrutscher, eine Erinnerung an ein früheres Leben, das er nun bereute. "Er hätte sie nicht allein lassen dürfen", sagt Jasmins Onkel.
Als Jasmin zehn war, fragte sie ihren Vater nach der Mutter. Sie hatte einen Autounfall, sagte er, denk nicht mehr an sie. Jasmin glaubte ihm nicht, aber sie fragte nie wieder.
Als sie 14 war, verließ sie die Schule und färbte den Frauen in der Straße der Märtyrer die Haare mit Henna. Und sie lernte Bassam kennen, Muslim wie sie, zehn Jahre älter. Seit dem Tag ihrer Verlobung trug sie Kopftuch. Die Großeltern sagten, warte, bis du einen Besseren findest. Jasmin wollte kein Kind mehr sein vom anderen Stern, sie war es leid zu warten.
Es war keine Zwangsehe, doch sie hielt nicht, was sich Jasmin von ihr versprach. Ihre Schwiegermutter kommandierte sie herum, ihrem Mann war sie zu aufmüpfig. Meist saß sie allein in seiner Wohnung im Betonsilo und heulte. Ihre Tochter kam mit einer schweren Gelbsucht zur Welt, Ärzte verlegten sie in ein Spezialkrankenhaus. "Plötzlich ahnte Jasmin", sagt die Großmutter, "wie es ist, wenn eine Mutter ihr Kind verliert. Sie bat um ihre Papiere. Wir dachten uns nichts dabei."
Mit ihrem Ehemann fuhr Jasmin zur deutschen Botschaft nach Beirut. Im Villenviertel hoch über dem Mittelmeer wartete sie am Schlagbaum, bis man sie herein- ließ und ihre Geschichte anhörte. Ein paarmal kam Jasmin hierher, dann bekam sie einen deutschen Pass. Ihre Großeltern wussten von nichts. Die Botschaftsangestellten forschten bei Einwohnermeldeämtern nach einer Michaela aus dem Sauerland. Kurz vor Weihnachten 2004 wurden sie fündig.
Im Januar 2005 bekam Michaela S. ein zweites Mal Post aus dem Libanon. Die Botschaft schrieb, es habe sich "eine Frau gemeldet und vorgetragen, dass sie Ihre Tochter" sei. Vorgelegt habe sie: einen deutschen Kinderausweis, Impfbuch, Geburtsanzeige sowie eine libanesische Sterbe- und eine Geburtsurkunde. "Es besteht eine erhebliche Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei der Frau um Jasmin handelt."
Jasmins Mutter las den Brief in ihrer Wohnung, unter dem Foto von Jasmin. Es war, als würde sie aus ihrer Lethargie erwachen, sie schrieb Faxe. "Geliebte, teure Mutter", faxte Jasmin in blumigem Arabisch zurück: "Ich habe jeden Tag an dich gedacht und dich im Traum gesehen, und ich wünschte, dass du bei mir wärst! Ich sehne mich danach, dein schönes Gesicht mit tausend Küssen zu bedecken. Sag, wann ich dich sehen und in deiner Nähe bleiben kann. Deine sehnsuchtsvolle Tochter."
Michaela S. schickte Geld für ein Flugticket. Weil das Visum für Jasmins Ehemann noch nicht ausgestellt war, ließ er sich von Jasmins Onkel überreden, Frau und Tochter vorausfliegen zu lassen. In ein paar Wochen solle er nachkommen, einen Job finden, Geld verdienen. Dass Jasmin längst entschieden hatte, für immer zu bleiben, ohne ihn, sagte sie niemandem.
Am Flughafen fielen sich Mutter und Tochter in die Arme und hielten sich fest, ein paar Minuten lang. An ihrem ersten Tag in Deutschland blätterte Jasmin in ihrem deutsch-arabischen Wörterbuch und suchte nach Wörtern. Ihre neue Familie saß um sie herum, es gab Fleisch in Béchamelsauce, sie bekam keinen Bissen herunter und rannte oft hinaus. "Es war, als würde ich ersticken", sagt Jasmin, "irgendwie hatte ich mehr erwartet, mehr Herzlichkeit, mehr Verbundenheit. Gefühle! Ich glaube, ich war enttäuscht."
Ihre Mutter versuchte, sich zu rechtfertigen an jenem ersten Tag und an vielen folgenden: "Was hätte ich denn machen sollen damals? Ich hatte doch Angst, Abdel könnte mir etwas antun." Im Kino hatte sie irgendwann "Nicht ohne meine Tochter" gesehen, die Geschichte der Betty Mahmoody und ihren Kampf um die Tochter in Iran. Jetzt wusste Michaela S.: Auch ihr Kampf hatte begonnen. Sie kämpft gegen eine erwachsene Tochter, die sie für ihre Abwesenheit büßen lässt, die sagt: "Mamas Kopf ist klein, vielleicht wird ihr Herz ja wachsen." Und sie kämpft gegen ihren Ex-Mann, nach fast 20 Jahren zeigte sie ihn an, weil er gedroht haben soll, Jasmin umzubringen, als er erfuhr, dass sie in Deutschland sei.
Als ihn Polizisten verhörten, sagte er, er habe niemanden bedroht, seine Ex-Frau wolle ihn "bei den Behörden schlechtmachen". Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein, die "mögliche Entziehung Minderjähriger" und die Urkundenfälschung seien verjährt.
In den ersten Monaten im Sauerland versuchte Jasmin ein Leben als Deutsche, ihre neue Familie richtete ihr eine Dreizimmerwohnung ein, sie bekam die Mikrowelle, ein Handy, ein Konto, sie ging zum Deutschkurs, in die Disco, zum Psychologen. Das Gefühl jedoch, hin- und hergerissen zu sein zwischen dem Orient und Europa, den Kulturen, den Eltern, dieses Gefühl wuchs. Sie ist einsam und überfordert mit zwei Identitäten, und sie hat ihrer Tochter genau das angetan, worunter sie selbst bis heute leidet. Sie hat ihr den Vater genommen, und sie ist sich keiner Schuld bewusst.
Um ihre Scheidung zu regeln, nahm sie sich einen Anwalt. Zu Besuch in den Libanon kann sie erst mal nicht, ihr Mann verlangt die Rückgabe seiner Tochter, sie bekäme Schwierigkeiten, das Land wieder zu verlassen.
Ihrem Vater schickte sie eine SMS, er schrieb ein paarmal zurück, dann war er wieder verschollen. Jasmin will, dass er versteht, warum sie floh. Sie hat ihm verziehen. "Ich wollte sehen", sagt sie, "ob Papa recht hatte mit dem, was er über Michaela sagte. Jetzt verstehe ich ihn." Sie befürchtet, dass ihr Vater sie auch in Zukunft nicht in sein Leben lässt, vor allem dann, wenn ihre Geschichte publik wird.
Seine Geschichte erzählt er nicht.
Er sei sehr gläubig jetzt, sagt Jasmin. Vor ein paar Jahren war er auf Pilgerfahrt in Mekka, "vielleicht, um für seine Sünden zu büßen". Er betet häufig in der Nur-Moschee, einem ehemaligen Parkhaus am Hamburger Hauptbahnhof. Es ist voll dort an Feiertagen, so voll, dass die Gläubigen bis auf der Straße knien, zwischen Strichmädchen, Junkies und Sexshops. Er kenne die Schwierigkeiten von Muslimen in Deutschland, sagt der Imam; mit dem Dialog zwischen den Kulturen, mit der Erziehung der Kinder. "Schauen Sie raus", sagt er, "zu viel Verlockung, zu wenig Halt." Ja, sagt er, er kenne auch Abdel A., er helfe bei Übersetzungen, sein Deutsch sei einwandfrei. Über sein Leben könne er nichts sagen.
Jasmins Vater nennt sich heute Daniel A., ist 43 und wohnt in einer Hochhaussiedlung am Rand von Hamburg. Er steht an der Tür in Socken und Jeans, hat ein freundliches Gesicht und kurzes, graues Haar, eine Frau huscht durch den Flur mit einem Kind. "Woher wissen Sie von der Geschichte?", fragt er, seine Stimme klingt ängstlich, beinahe so, als habe er Fragen nach seiner Tochter irgendwann erwartet. Daniel A. sagt, dass er jetzt keine Zeit habe, und schließt dann langsam die Tür. Eine Woche später ruft er an: "Das alles ist zu lange her. Hören Sie auf, in unserer Vergangenheit herumzustochern."
Daniel A. hat seiner Tochter nie erklärt, warum er sie aus Deutschland weggebracht hat und ob er seine Tat bereut. Er hilft ihr auch jetzt nicht, klarzukommen mit der Zerrissenheit und den neuen Freiheiten.
Jasmin muss selbst entscheiden, wie sie leben wird in Zukunft. Acht Monate nach ihrer Rückkehr hat sie sich entschieden, gegen Frankenberg und gegen Tripoli. Sie lebt jetzt in Berlin-Neukölln, im Türkenviertel. Sie trägt wieder Kopftuch und nicht mehr bauchfrei und schuftet von morgens 10 Uhr bis nach Mitternacht in einer Imbissbude. Sie gehört ihrem neuen Mann, es ist wieder ein Libanese. Ihre Tochter hat sie bei der Mutter abgegeben. Sie wolle einfach nicht mehr einsam sein, sagt sie. Und dass dieser Mann sie mehr liebe als jeder andere Mensch.
Den langen Weg vom Libanon hätte sie sich sparen können, sagt ihre Mutter.
Michaela S. weint wieder die Nächte durch, tagsüber schiebt sie ihre Enkelin in der Kinderkarre durchs Sauerland. Warum, fragt sie, gibt Jasmin die selbsterkämpfte Freiheit für den erstbesten Muslim auf, hier hatte sie doch alles, warum nutzt sie ihre Chancen nicht?
Jasmin sagt, bald werde sie ihre Tochter wieder zu sich holen, ganz bestimmt. Ihre Geschichte beginnt von vorn.
Der Spiegel, 23.1.2006