Kampf der tödlichen Ehre

Artikel teilen

Als Hanife Gashi an diesem Freitagabend von einer Verabredung mit einer Kollegin nach Hause kommt, wundert sie sich. Ihre älteste Tochter Ulerika ist nicht da. Dabei hatte sie noch von einer Freundin aus angerufen und Bescheid gesagt, dass sie doch nicht zu der Party geht, sondern früher nach Hause kommt. Aber sie ist nicht da. Hanife Gashi wird nervös. Ihre jüngste Tochter Regina kommt angerannt und sagt: „Komisch, bei Papa fehlt ein Zahn.“ Befragt, erzählt der eine eigenartige Geschichte: Ein paar Jungen hätten ihn verprügelt und Ulerika dann entführt. Einen winzigen Moment lang ist Hanife versucht, ihrem Mann Latif zu glauben. „Ulerika hatte mir in letzter Zeit oft gesagt: ‚Mama, eines Tages kriegt er seine Strafe für alles, was er uns angetan hat!‘ Und ich dachte: Vielleicht hat sie ja wirklich ein paar Jungs bestellt.“

Anzeige

Aber Latif ist so merkwürdig ruhig. Und langsam ahnt Hanife Gashi, was passiert sein könnte. „Er hatte uns öfter gedroht: ‚Ich bring euch um und schmeiß euch in den Garten.‘“ Sie alarmiert die Polizei und fährt in den Schrebergarten der Familie. Aber dort findet sie ihre Tochter nicht. Einige Stunden später steht die Kripo vor ihrer Tür. Sie hat Ulerikas Leiche gefunden – in einem Baggersee. Spuren im Auto überführen den Kosovo-Albaner Latif Z. als Täter. Er hat seine eigene Tochter erdrosselt und dann in den See geworfen. Warum? Weil die 16-jährige Ulerika sich westlich kleidete, weil sie mit ihren Freundinnen auf Partys ging, weil sie sich verliebt hatte. Weil sie sich immer öfter gegen den tyrannischen Vater zur Wehr gesetzt und sogar mehrmals die Polizei gerufen hatte, wenn er die Mutter und die vier Töchter wieder verprügelte.

Es ist März. Im April wagt Hanife Gashi zum ersten Mal, die Zeitungsartikel über Ulerikas Tod zu lesen. Darunter ist auch ein Bericht der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes über Ehrenmorde. „Da habe ich verstanden, dass es viele Ulerikas gibt“, sagt die heute 38-Jährige, die seit 18 Jahren in Deutschland lebt. „Und ich habe beschlossen: Sobald ich die Kraft habe, gehe ich an die Öffentlichkeit. Ich bin zum Grab von Ulerika gegangen und habe gesagt: ‚Ich schwöre dir – ich werde kämpfen!’“

Acht Monate später, am 22. November 2003, steht Hanife Gashi auf dem Tübinger Marktplatz und spricht über Ulerikas Tod. Über 300 Menschen sind zu der Kundgebung zum Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen gekommen. Auch Ulerikas Lehrerinnen sind da. „Ulerika, die erste aufgeblühte Blume für mich, du bist Opfer unserer Freiheit geworden“, klagt Mutter Hanife öffentlich und fragt die Täter: „Warum macht ihr unser Leben schwarz? Warum sperrt ihr uns ein? Warum verbrennt ihr uns lebendig? Warum lasst ihr unsere Schönheit und Sympathie und Lebensfreude verschwinden?“ Und an die Opfer appelliert sie: „Redet mit euren Freundinnen oder mit Lehrerinnen in der Schule! Verheimlicht eure Probleme nicht jahrelang, weil euch schließlich gegebenenfalls der Tod erwartet.“

Hanife Gashi ist nicht die einzige, die nicht länger schweigt. Immer mehr Mütter ermordeter Töchter oder vor Morddrohungen geflüchtete Mädchen melden sich zu Wort, um ein Verbrechen anzuklagen, dessen Täter nicht selten auf verständnisvolle Richter treffen: Der sogenannte „Ehrenmord“.

So machte Fatma Bläser, deren Familie aus Ostanatolien stammt und die in Deutschland vor Zwangsverheiratung und Morddrohungen ihrer Familie flüchtete, ihre Geschichte in ihrem Buch „Hennamond“ öffentlich. Auch die Türkin Serap Cileli, die aus einer jahrelangen Zwangsehe ausbrechen konnte, meldete sich mit einem Buch zu Wort: „Wir sind eure Töchter, nicht eure Ehre“.

Seltener sind es auch Männer, die die Verbrechen ihrer Geschlechtsgenossen und Landsmänner „im Namen der Ehre“ anprangern. So erhielt EMMA im Juni 2003 den erschütternden Brief der Brüder Celalettin, Cengiz und Murat Yilmaz aus Dinslaken. Ihre Schwester Türel, eine moderne junge Frau, war von ihrem Ehemann, der sie jahrelang misshandelt hatte, hinterrücks erschossen worden. Grund: Sie wollte sich von ihm scheiden lassen. „Es ging bei unserem Schwager nicht um Liebe oder so. Es ging ihm und seiner Sippschaft ganz einfach darum, was aus ihrer ‚Ehre‘ wird“, schrieben die Brüder Yilmaz. Gemeinsam mit dem Verein Frauen helfen Frauen organisierten die Brüder eine Mahnwache für ihre tote Schwester (EMMA 5/2003).

Jetzt will die Terre des Femmes den Protest bündeln: Am 25. November startet die Frauenrechtsorganisation nun eine zweijährige Kampagne: „NEIN zu Verbrechen im Namen der Ehre“. Eine der Forderungen: Eine bundesweite Erhebung über Formen und Ausmaß dieser Verbrechen. Denn: Wie viele Ulerikas, Fatmas und Türels es in Deutschland gibt, wie viele Mädchen und Frauen auch hier im Namen der Männerehre umgebracht oder mit dem Tod bedroht werden, weiß niemand.

Der Europarat hatte schon im Jahr 2000 „alle Verbrechen im Namen der Ehre verurteilt“ und sich „sehr besorgt über die mangelhafte Datenlage“ gezeigt. Im März 2003, wenige Tage vor Ulerikas Ermordung, wurde im EU-Parlament der erste Bericht über „Sogenannte Ehrverbrechen“ vorgestellt. Fazit: Die meisten Ehrverbrechen kommen in „muslimischen Migrantengemeinschaften“ vor. Sprich: In der Parallelwelt der Rückschrittlichen, in der die streng patriarchalen Gesetze über geltendem Recht stehen. Der Europarat forderte alle EU-Mitgliedsstaaten auf, Aufklärungskampagnen zu starten.

Auf rund 5.000 schätzen die Vereinten Nationen die Zahl der Frauen und Mädchen, die weltweit jährlich den „honour killings“ zum Opfer fallen. In 14 Ländern der Welt, von der Türkei bis Indien, werden laut UN Frauen im Namen der Ehre gesteinigt, verbrannt, erstochen. „Dass diese Zahlen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Verbrechen darstellt, sieht man schon daran, dass Deutschland in der Liste dieser Länder gar nicht auftaucht“, heißt es in dem Lagebericht, den Terre des Femmes (TdF) erstellt hat. Dabei sind Ehrenmorde auch hierzulande an der Tagesordnung. Eine Internet-Recherche von TdF ergab: Allein in den letzten zwei Jahren berichteten die Zeitungen über 40 Morde oder Mordversuche „im Namen der Ehre“.

Etwa alle zwei Monate kommt ein türkisches Mädchen in die Praxis der Frauenärztin Senay Seyran-Kura und bittet darum, ihr eingerissenes Jungfernhäutchen zu nähen. „Häufig haben sie Angst, dass Väter oder andere männliche Verwandte sie misshandeln oder sogar umbringen“, erzählt die Gynäkologin, die selbst im Alter von 13 Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam. Sie ist Frauenärztin geworden, um den verzweifelten Mädchen zu helfen. Die „verlorene Unschuld“ ist nicht selten die Folge einer Vergewaltigung. „Die Mädchen sind sehr ängstlich, traurig bis depressiv. Sie sagen: ‚Wenn Sie mich nicht nähen, bringe ich mich um.‘“

Ulerika war weder ängstlich noch depressiv. Sie war lebenslustig und rebellisch. Sie war zwei Jahre alt, als ihre Eltern als Asylbewerber aus dem Kosovo nach Deutschland kamen. Ihre Schwestern Brenda, Mimosa und Regina sind alle hier geboren. Ihre Mutter Hanife Gashi war 17, als sie mit dem 23-jährigen Latif verheiratet wurde. Er kam aus einer reichen, extrem konservativen Familie. „Drei Tage nach der Hochzeit hat er mich zum ersten Mal geschlagen, weil ich beim Friseur zu laut gelacht hatte“, erzählt Hanife. Als sie nach Deutschland gingen, dachte die damals 20-Jährige, außerhalb des strengen Familienverbandes, würde alles besser. „Ich dachte, bestimmt schlägt er mich dann nicht mehr. Und ich wollte Ulerika studieren lassen.“

Nichts wurde besser. Zehn Jahre lang ließ Latif Z. seine Frau weder Deutsch lernen noch arbeiten. Ein Zustand, der dank der Pflicht zu Sprach- und Integrationskursen, die das neue Zuwanderungsgesetz auch für die Ehefrauen vorsieht, hoffentlich bald nicht mehr möglich sein wird. 1999 wurde der Asylantrag des Ehepaars positiv beschieden. Jetzt setzte Hanife endlich durch, dass sie einen Deutschkurs machen und eine Ausbildung in einem Altersheim beginnen konnte. Auch die älteste Tochter Ulerika wurde zusehends renitenter. „Früher hatte sie immer Angst vor ihrem Vater gehabt, aber dann begann sie, sich zu wehren“, erzählt die Mutter. Und schließlich verliebte sich das 16-jährige Mädchen. „Ein hübscher Junge mit ganz lieben Augen“, erinnert sich Hanife. Der Vater entdeckte ein Foto, auf dem sich die beiden umarmten. Er tobte.

Latif Z. bekam lebenslänglich. Das Tübinger Gericht ließ keine mildernden Umstände gelten. Obwohl der Verteidiger des Mörders, Thomas Metz, die in solchen Fällen gängige Strategie verfolgte: Der Vater habe sich eben nach der Tradition gerichtet, mit der er in seinem Kulturkreis aufgewachsen sei. Einem Kulturkreis, in dem der Mann eben über der Frau stehe. Die Strategie ging nicht auf. „Mit dem Gericht bin ich sehr zufrieden“, sagt Hanife Gashi.

Häufig finden Täter, die im Namen der Ehre und „anderer kultureller Wertvorstellungen“ morden, allerdings tolerante Richter. Es sind dieselben, die auch in Prozessen gegen deutsche Männer immer wieder absurd niedrige Strafen verhängen, wenn er wegen Fremdgehen oder Trennung so sehr „in seiner Ehre gekränkt“ war, dass er sie eben leider umbringen musste.

So hatte das Landgericht Frankfurt einen jungen türkischen Mann, der seine Frau erstochen hatte, als sie sich von ihm scheiden lassen wollte, nur wegen Totschlags verurteilt. Auch das Landgericht Bremen erkannte auf Totschlag, als drei Kurden ein junges kurdisches Paar auf Befehl eines PKK-Chefs ermordeten, weil „den Angeklagten aufgrund ihrer stark verinnerlichten heimatlichen Wertvorstellungen nicht bewusst war, dass ihre Beweggründe objektiv als besonders verwerflich und sozial rücksichtslos anzusehen waren.“ Beide Urteile wurden allerdings vom Bundesgerichtshof kassiert.

Für laute Proteste sorgte das jüngste Urteil dieser Art, das verständnisvolle Richter des Landgerichts Bochum fällten: Ein 41-jähriger afghanischer Arzt, der seit seinem 17. Lebensjahr in Deutschland lebt, hatte seine Frau mehrfach vergewaltigt. Zweimal hatte ihn die Frau schon verlassen, war aber auf Druck der Familien zurückgekehrt. Bei der letzten Vergewaltigung würgte der Mann seine Frau und drückte ihr nahezu bis zur Bewusstlosigkeit ein Kissen ins Gesicht. Mordversuch? Aber nein. Richter Gerald Sacher hielt dies für eine Vergewaltigung in einem minderschweren Fall, weil der Täter „aufgrund seines Kulturkreises und seiner Tradition nur eine niedrige Hemmschwelle überwinden musste“.

Dass es künftig keine Strafminderung aus „traditionellen“ oder „religiösen“ Gründen mehr geben darf, ist eine weitere Forderung von Terre des Femmes. In Sachen Justiz könnte die Schweiz Vorbild sein. Die Gerichte des Nachbarlandes erkennen einen „anderen kulturellen Hintergrund“ grundsätzlich nicht als Grund für mildernde Umstände an. Meldet sich eine bedrohte Frau bei der Polizei, nimmt die den Täter vorübergehend in Gewahrsam. Gleichzeitig schickt die Staatsanwaltschaft sogenannte „kulturelle Vermittler“ in die Familie.

Solche Vermittler, die die Mädchen und Frauen in ihren Familien unterstützen, fordert Terre des Femmes auch für Deutschland. „Die Eltern haben oft überhaupt kein Unrechtsbewusstsein“, klagt Rahel Volz.

Für mehr Unrechtsbewusstsein will der baden-württembergische Justizminister Ulrich Goll (FDP) mit einer Bundesratsinitiative sorgen: „Zwangsverheiratung“ soll ein eigener Straftatbestand werden. „Zwangsverheiratung ist eine Menschenrechtsverletzung, die sich weder aus patriarchalisch-traditionellen noch aus vermeintlich religiösen Gründen rechtfertigen lässt“, sagt Goll. Es muss in der Öffentlichkeit klargestellt werden, dass die Zwangsheirat unter Androhung von Strafe verboten ist.“

Die Öffentlichkeit – das sind auch LehrerInnen, PolizistInnen oder MitarbeiterInnen von Jugendämtern, die oft genug die Gefahr unterschätzen, die den Mädchen droht. Deshalb fordert Terre des Femmes: Alle, die mit den betroffenen Mädchen zu tun haben, müssen geschult werden, damit sie rechtzeitig helfen und eingreifen können. Und: Für die Mädchen, die aus ihrer Familie flüchten müssen, muss es ausreichend Schutzeinrichtungen geben. Zur Zeit gibt es in Deutschland nur drei Schutzhäuser für muslimische Mädchen: „Papatya“ in Berlin, „Rosa“ in Stuttgart und „Saadet“ in Nürnberg. „Wasta“ in Köln musste gerade seine Pforten schließen. Ausgerechnet in der Stadt, die als Hochburg islamischer Fundamentalisten gilt, hatten die Jugendämter (aus Kostengründen) immer weniger hilfesuchende Mädchen in das Haus in Ehrenfeld geschickt. „Die Mädchen müssen sich manchmal ein Jahr lang durch das Jugendamt kämpfen, bis sie in ein Schutzhaus dürfen“, erklärt Rahel Volz von TdF. Ist die Flucht geschafft, setzt die Familie des Mädchens oft alle Hebel in Bewegung, um die „Ehrverletzerin“ zu finden – und im schlimmsten Falle zu töten. „Wir kennen sehr viele Fälle, in denen der Schutz der Mädchen nicht funktioniert hat“, erzählt Volz. „Wir haben beispielweise schon erlebt, dass untergetauchte Mädchen von den Netzwerken der PKK gesucht wurden. Deshalb wollen wir, dass sie leichter in Zeugenschutzprogramme aufgenommen werden.“

Im Rahmen des EU-Projekts „Honour Related Violence“, das im Januar 2003 startete und an dem auch finnische, schwedische und niederländische Frauenorganisationen beteiligt sind, holte Terre des Femmes die Verantwortlichen aus Politik und Justiz in Berlin an einen Runden Tisch. Im Juni diesen Jahres lud sogar Europol zum ersten Mal zu einer Tagung über „Gewalt im Namen der Ehre“. „Es bewegt sich etwas“, sagt Rahel Volz.

Hanife Gashi geht jeden Tag an Ulerikas Grab. Sie hat viele Briefe bekommen, von jungen albanischen Mädchen wie alten deutschen Frauen. Sie hat noch nicht alle beantwortet, aber mit einigen Mädchen hat sie telefoniert oder sie besucht. Und auch Hanife Gashi hat die Geschichte von der Ermordung ihrer Tochter aufgeschrieben. Schließlich hat sie Ulerika geschworen, dass sie kämpft. Für die anderen Mädchen. „Wut“, sagt Hanife Gashi, „macht mich immerstark.“

Terre des Femmes: T 07071/79730, www.frauenrechte.de
Weiterlesen:
Hanife Gashi: "Mein Schmerz trägt deinen Namen" (Rowohlt).
Terre des Femmes: "Tatmotiv Ehre" (TdF-Verlag).
Fatma Bläser: "Hennamond" (Ullstein), www.hennamond.de.
Serap Ciceli: "Wir sind Eure Töchter, nicht Eure Ehre" (Neuthor), www.serap-cileli.de

Schutzeinrichtungen:
Papatya T 030/3499934, www.papatya.org
Rosa, T 0711/539825, RosaWohnprojekt@aol.com
Peri e.V. www.peri-ev.de
Saadet, T 0911/415888

Artikel teilen
 
Zur Startseite