Die bedeutendste Intellektuelle
Simone de Beauvoir ist die intellektuelle Frau des 20. Jahrhunderts schlechthin. Was immer ihre bedeutenden Vorläuferinnen früherer Generationen - etwa Madame de Stael, George Sand, George Eliot und Virginia Woolf - voneinander unterschied, hatten sie doch eines gemeinsam: Sie alle waren von den entscheidenden Bildungsinstitutionen ihrer Zeit ausgeschlossen.
Simone de Beauvoir dagegen gehörte der ersten Generation europäischer Frauen an, deren Ausbildung der der Männer entsprach. Auf ihrem Weg durch die kurz zuvor noch ausschließlich männlichen Institutionen akademischer Ausbildung hatte sie an der Universität wie in ihrem späteren Berufsleben stets mit Männern zu konkurrieren. In dieser Hinsicht kontrastiert ihre Laufbahn radikal zu den literarischen Karrieren ihrer berühmten älteren Schwestern.
Simone de Beauvoir, eine Wegbereiterin in ihrer Zeit, war erst die neunte Frau in Frankreich, die das prestigeträchtige Examen der ‚agrégation' in Philosophie bestand, und, geschlechtstunabhängig, sogar die jüngste ‚agrégee', die es in dieser Disziplin je gegeben hatte. Aufgrund der einzigartigen Chance, sich in einem Land und in einer Zeit, in der Intellektuelle als herausragende Mitglieder der Gesellschaft galten, voll und ganz zu einer Intellektuellen zu entwickeln, wurde Simone de Beauvoir gewissermaßen zu einer ausgeprägteren Intellektuellen als jede andere Frau ihrer Epoche.
Gerade wegen dieser einzigartigen Position gewinnen Beauvoirs Erfahrungen an Intensität und Schärfe der Darstellung: In ihren Texten treten die Konflikte und Widersprüche, denen intellektuelle Frauen in einer patriarchalen Welt ausgesetzt sind, mit ungewöhnlicher Klarheit hervor.
Im Jahr 1908 geboren, gehört Beauvoir jener Generation intellektueller Frauen an, die in den 20er und 30er Jahren volljährig wurden, das heißt der Generation Hannah Arendts (1906-1975), Alva Myrdals (1902-1984), Ase Gruda Skards (1906-1985), Mary McCarthys (1912-1989) und Margaret Meads (1901-1978), um nur einige zu nennen. Zumindest in bezug auf ihre Ausbildung und ihre intellektuelle Laufbahn meinten diese Frauen, in einem egalitären System als Gleiche behandelt zu werden. Im großen und ganzen neigten sie dazu, sich der gesellschaftlichen Bedeutung ihrer Weiblichkeit nicht bewusst zu sein. Im Rückblick auf sich selbst als 23jährige, schreibt Beauvoir, "hielt ich mich nicht für eine ‚Frau'; ich war ich".
Wenn wir ihren Memoiren glauben sollen, erkannte Simone de Beauvoir erst 1946, dass die Rolle einer gebildeten Frau eben doch nicht der eines gebildeten Mannes entspricht. Und mit seltener moralischer und politischer Integrität stellt sie sich den Konsequenzen dieser Erkenntnis: Zu dem Zeitpunkt, als ihr klar wurde, dass sie eine intellektuelle Frau war, begann sie ihr Buch ‚Das andere Geschlecht' zu schreiben.
Die Situation Simone de Beauvoirs und anderer intellektueller Frauen ihrer Generation entsprach natürlich nicht der Situation gebildeter Frauen von heute: Bis zu einem gewissen Grade waren sie damals immer noch Pionierinnen, immer noch Angehörige einer kleinen Elite. Während sie selbst die Barrikaden männlicher intellektueller Privilegien nicht mehr stürmen mussten, gehörten sie oft zu jener ersten Handvoll Frauen, denen der Zugang zu den unlängst noch ausschließlich männlich beherrschten Hochschulen gewährt wurde.
In den folgenden Jahrzehnten änderte sich die Situation der Frauen in der akademischen Ausbildung kaum. Universitäten und Colleges verzeichneten noch bis in die 60er Jahre hinein kein massives Anwachsen der Zahl weiblicher Studenten. Durch den Kampf der Frauenbewegung in den 60ern und 70ern wurde den Frauen endlich der Zugang zu allen Ebenen und allen Arten der Ausbildung garantiert: Heute halten die Frauen der westlichen Welt ihr Recht auf eine Ausbildung und einen Beruf eigener Wahl für selbstverständlich.
Paradoxerweise hat jedoch ebendiese Tatsache zu einem neuen Gleichheitsmythos geführt: Ebenso wie die junge Simone de Beauvoir glauben heute viele Frauen, in ihren Schulen und Universitäten als Gleiche behandelt zu werden. Leider wird dies durch Statistiken nicht immer bestätigt. In den Vereinigten Staaten war es - trotz lautstarker Behauptungen des Gegenteils - bis 1990 Frauen nicht gelungen, akademische Institutionen ernsthaft zu erobern.
"Der Anteil der Frauen, Feministinnen und anderer, am Lehrpersonal aller Undergraduate Colleges beträgt nur zehn Prozent (und an den Ivy League Colleges lediglich drei bis vier Prozent)", informiert uns Susan Faludi. Für 1990 belegen die Zahlen amerikanischer Statistiken, dass das Einkommen promovierter Frauen um 36 Prozent unter dem promovierter Männer liegt. Auch in den 90er Jahren müssen Frauen, die eine intellektuelle Laufbahn anstreben, noch immer mit persönlichen, gesellschaftlichen und ideologischen Hindernissen rechnen, die normalerweise aufstrebenden männlichen Intellektuellen nicht in den Weg gelegt werden.
Aus diesem Grunde bin ich davon überzeugt, dass wir von Simone de Beauvoir - positiv wie negativ - nach wie vor viel zu lernen haben. Intellektuelle Frauen können es sich heute nicht leisten, ihre Erfahrungen zu ignorieren. In diesem Kontext meine ich mit "intellektuelle Frau" jede Frau, die sich als denkender Mensch jemals ernst genommen hat, besonders in bezug auf ihre Bildung. Unabhängig davon, ob sie ihre intellektuellen Interessen zu einem Beruf machen, wissen solche Frauen, was es bedeutet, Freude am Denken zu haben.
In der Regel wissen sie auch, dass überaus wirksame Stränge patriarchaler Ideologie behaupten, derartige Freude sei nicht für sie bestimmt: Eine Frau braucht keinen Dr. phil. zu haben, um befürchten zu müssen, dass ihr reges Interesse an geistigen Themen sie zum "Blaustrumpf" oder zur "vertrockneten Paukerin" stempelt. Es ist auch keineswegs ungewöhnlich, dass intellektuelle Frauen zeitweilig Schwierigkeiten mit ihren Müttern haben oder das entwickeln, was Michèle Le Doeuff als "erotisch-theoretische Übertragungs- Beziehungen" mit männlichen Intellektuellen bezeichnet. In dieser und mancher anderen Hinsicht sind Simone de Beauvoirs Erfahrungen alles andere als einzigartig.
Ich beschäftige mich jedoch mit Simone de Beauvoir nicht nur, weil sie eine emblematische intellektuelle Frau ist. Gerade weil sie in bezug auf die geistigen Diskurse ihrer Zeit eine außergewöhnliche Position einnahm, wurde sie auch zur bedeutendsten feministischen Theoretikerin unseres Jahrhunderts. Lange vor dem Auftreten der Frauenbewegung thematisierte ‚Das andere Geschlecht' jedes einzelne der Probleme, die Feministinnen heute immer noch zu lösen versuchen.
Das Buch veränderte buchstäblich das Leben Tausender von Frauen: Ich wüsste nicht, dass ein anderes Werk im 20. Jahrhundert vergleichbare Wirkungen gehabt hätte. Historisch gesehen erinnern mich die Rezeption und die Wirkungen des ‚Anderen Geschlechts' an die Reaktionen auf Harriet Beecher-Stowes ‚Onkel Toms Hütte' oder vielleicht, in einer anderen Tonlage, an Samuel Richardsons ‚Clarissa'. Über Simone de Beauvoir zu schreiben, ohne ‚Das andere Geschlecht' ernst zu nehmen, heißt, ihr die Anerkennung als Philosophin, als Feministin und als Intellektuelle zu verweigern. (...)
Simone de Beauvoir gehört nun einer vergangenen Generation an. Ihr bahnbrechendes Beispiel hat dazu beigetragen, dass Frauen heute als Intellektuelle und als Frauen ernst genommen - und geliebt - werden. An der Schwelle zum21. Jahrhundert macht sie es uns nach wie vor leichter, unser Leben ohne Rücksicht auf patriarchale Konventionen nach eigenen Vorstellungen zu leben.
Seit ich mir der Kompliziertheiten und Widersprüche ihres Lebens bewusst geworden bin, hat sich meine Bewunderung für Simone de Beauvoir noch verstärkt. Ihre beharrlichen und geduldigen Bemühungen, eine unabhängige Frau zu werden, sich eine schriftstellerische Karriere aufzubauen und sich der einsamen Aufgabe des Schreibens zu widmen, bezeugen ihren Mut, ihre Ausdauer und ihre Standhaftigkeit. Die kategorische Bestimmtheit, mit der sie gegen patriarchale Vorurteile ihr selbstverständliches Recht auf emotionales und sexuelles Glück durchsetzte, ist wahrhaft vorbildlich:
Es war kaum zu erwarten, dass sie dies alles hätte tun können, ohne dabei das geringste Anzeichen von Leid oder psychischem Konflikt erkennen zu lassen. Es sollte uns nicht überraschen, dass - wie wir alle - auch sie von den Widersprüchen einer patriarchalen Gesellschaft zerrissen war. Wenn ich ihre Autobiographie lese, beeindrucken mich ihre Kraft, ihre Energie und ihre Vitalität, zugleich aber auch ihre Hilflosigkeit und ihre Zerbrechlichkeit.
Wenn ich mir klarmache, wie schwer es für sie war, ein Gefühl der Autonomie und Unabhängigkeit zu erlangen, finde ich ihre Leistungen um so bewundernswerter. Bewundern heißt jedoch nicht anbeten. Wir brauchen nicht vollkommen zu sein, lehrt uns Simone de Beauvoir, wir dürfen nur niemals aufgeben.
Der Text ist ein Auszug aus dem Buch von Toril Moi: "Simone de Beauvoir - Psychographie einer Intellektuellen" (Fischer TB, vergriffen).