Drag Kings - bessere Verführer?
Der zeitgenössische Drag King ist eine Art Widerspruch an sich und ein unerwarteter Nachzögling in der die Geschlechterrollen durcheinanderwirbelnden Drag-Szene. Wir wissen alles über die männliche Drag Queen und ihre karrikaturalen Imitationen berühmter Diven. Wir haben auch das Spiel des Mannes in Frauenkleidern begriffen, wie aufreizend ein erkennbar männlicher Körper in einem Kleid sein kann. Und in den letzten zwei Jahrzehnten haben uns viele Filme von den Verlockungen der "Tunte" erzählt.
Den biologisch weiblichen Menschen in Männerkleidung und Männer-attitüde hingegen gab es bis vor kurzem noch nicht, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung nicht. Erst seit einigen Jahren sind männliche Inszenierungen von Frauen auch in den Medien zu sehen, und brilliert der "butch dyke" (der Kesse Vater) im populären US-Kino. Der Drag King avancierte in den USA sogar zu einem der Lieblingsthemen der Fernsehtalkshows. Doch warum gerade jetzt? Beim Durchblättern meiner Tageszeitung fällt mir die Ankündigung einer Filmversion von Shakespeares Cross-Dressing-Spektakel "Twelfth Night" (Was Ihr Wollt) ins Auge. Gleich daneben eine Whisky-Reklame: Die Abbildung einer streng gekleideten, aber femininen Frau mit einer Zigarre, über der geschrieben steht: "Lernen Sie Ihre männliche Seite kennen!"
Aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts sind uns ein paar berühmte Frauen bekannt, die Männer imitierten: Eine der schwarzen Darstellerinnen von Männerrollen war Storme DeLarverié von der Jewel Box Revue. In einem Dokumentarfilm von Michelle Parkerson über ihr Leben erzählt Storme, wie sie dazu kam: Eines Tages wurde einer der männlichen Darsteller krank, es fand sich kein Ersatz, und so zog sie Männerkleidung an, schnitt sich die Haare ab und sprang für ihn ein:
"Das Komische war, daß ich mich in Männerkleidung genauso bewegte wie in Frauenkleidung. Ich ging so wie immer und redete so wie immer. Ich glaube, die Männerrolle ist für Frauen viel einfacher zu spielen als die Frauenrolle für Männer. Als Frau, die einen Mann darstellt, kann ich einfach was weglassen, mich reduzieren. Als Mann, der eine Frau darstellt, muß ich Dinge hinzufügen, mich produzieren."
Die These, daß Männlichkeit durch Reduktion erzielt wird, erklärt, warum Frauen in Hosen weniger theatralisch wirken als Männer in Röcken. Die Kunst der Nachahmung der Männerrolle lebt vom Understatement. Doch was unter- scheidet den Kessen Vater, also die männlich auftretende Lesbe, vom Drag King? Ganz einfach das Bedürfnis des Drag Kings, aus seinem Auftritt eine Show zu machen. Der Unterschied zwischen einer Frau, die Männer nur imitiert, und einer Frau, die das Mannsein inszeniert, ist die Fähigkeit des Drag King, die pure Imitation zur tagtäglichen Selbstinszenierung zu steigern.
Ebenso wie der Vampir scheut auch der Drag King das Tageslicht: aus Furcht, die Strahlen der Sonne könnten den Klebestreifen verraten, der sein Bärtchen am Platz hält. Der Drag King lebt dort, wo die Nacht zum Tag gemacht wird. Zum Beispiel in der New Yorker Drag King-Szene. Dort sind die Drag Kings Teil einer blühenden lesbischen Avantgarde-Kultur. So war das WOW-Café lange Zeit Treffpunkt von Theatergruppen wie den "Split Britches" (doppeldeutig: "Kaputtgelacht" oder auch "Schenkelspalte") und den "Five Lesbian Brothers". Um 1995/96 fanden in vielen Lesbenclubs der Stadt Drag King-Wettbewerbe statt. New Yorker Drag Kings wie Mo B. Dick und Dred waren vom Drag-King-Theater in San Francisco und von Elvis Herselvis oder Annie Toon angeregt.
Mo B. Dick machte dann den "Club Casanova" auf, der oft überfüllt war mit Fotografen, Reportern und Filmemachern, die voyeuristisch versuchten, das Drag King-Phänomen einzufangen. In London tauchten die ersten Drag Kings beim Londoner Schwulen- und Lesben-Filmfestival im Jahre 1995 auf. Highlights waren ein Bauarbeiter und ein Dandy. Es folgte ein Drag King-Club, der alle paar Wochen im "Madame JoJo's" stattfand, einem Londoner Drag Queen-Schuppen. Die Drag Kings von San Francisco waren jedoch von Anfang an vielfältiger als die von New York oder London. Frauen in männlicher Inszenierung sind an der Westküste allgegenwärtig, San Francisco hat eine der lebendigsten Homo-Szenen des Landes. Die gesamte Drag-Szene ist eher "butch"- und "trans- gender"-orientiert als in New York, wo frau sich nach der Show wieder umzieht. Bis auf die "Dodge Brothers". Die sind auf der Bühne wie im Leben Männer. Sie imitieren Männerbands und geben deren Songs selbstbewußt als ihre eigenen aus.
Einer der vielen Unterschiede zwischen der Londoner und der New Yorker Drag King-Szene ist die Anwesenheit von Drag Kings und Cross-Dressern auch im Publikum. In London geht die eigentliche Action vor der Bühne ab: mindestens drei Viertel der Gäste kommen als Drag King in den Club. Zum Beispiel im "Club Geezer", wo ich neulich war. Mindestens 300 schräge Typen drängten sich in den vollgepackten Pub. Lesben, Schwule, Heteros, Transsexuelle und Transgenders mit Schnurrbärten, Koteletten oder Vollbärten, in Anzügen, Leder oder Blaumännern.
Das Motto lautete "geezer" (Kerle). Als Krönung des Abends war ein "Kerle-Wettbewerb" angekündigt, die Preise für die Besten wurden von örtlichen Geschäftsleuten gestiftet. Ein "Geezer" ist die britische Variante des "Prolls". Für Jewels, selbst ein Drag King nach Geezer-Manier, ist er ein "großspuriger, protziger Gauner voller Selbstvertrauen". Drag King-Performer Stanley findet: "Der Geezer ist ein besonders abstoßender Typus des englischen Mannes." Der Geezer ist von der Macht seines männlichen Charmes überzeugt und verachtet Frauen als "Tussen" oder "Printen". Er trinkt gern ein, zwei Bier zuviel in der Kneipe und hat nichts gegen einen guten Witz - Hauptsache, er ist tief unter der Gürtellinie angesiedelt.
Im "Club Geezer" traten an diesem Abend zehn Drag Kings in unterschiedlichen Stadien der Trunkenheit auf die Bühne. Die ersten stellten sich als "Stinker" vor und traten in einen Furzwettbewerb. Star des Abends war Liam, eine Parodie auf den Popsänger Liam Gallagher von "Oasis", eine spezielle Gattung des britischen bösen Jungen. Er gewann den Wettbewerb, und die restlichen Drag Kings rülpsten, spuckten und schlurften wieder von der Bühne. Falls man zu Beginn des Abends noch nicht gewußt hat, was ein Geezer ist, so wünschte man sich am Ende der entlarvenden Show, man hätte es nie erfahren.
Auch New Yorker Drag Kings wie Mo B. Dick haben sich die lokalen Variante des Prolls zur Brust genommen. Mo B. Dicks schmieriger Brooklyn-Typ ist das amerikanische Pendant zum britischen Geezer. Andere Kings parodieren die Helden von Campingplatz und Balkon in ihren Breitripp-Unterhemden, Badeschlappen und unsäglichen Shorts; oder sie spielen schleimige Discohelden, bombastische Rapper und lungernde schwarze "home boys".
Dabei ist es wichtig, zwischen der platten Imitation von Männlichkeit und der Schaffung einer neuen Transgender-Identität zu unterscheiden. Das letzte Phänomen wird weiterhin ignoriert. Aber auffallend ist, wie die Imitation von Männern das Interesse der Medien erregte. Sowohl in London als auch in New York wurde viel berichtet über Diane Torrs Workshops "Drag King für einen Tag". Bei diesen Workshops lernen Frauen die männlichen Attitüden - sich breitmachen, andere niederreden, Nasebohren, "dicke Eier" haben, kurzum: sich grob und machtbewusst zu verhalten. So kann jede Frau für einen Tag zum Mann werden.
Viele Frauen beschreiben ihre Erfahrungen in Torrs Workshop als "irre" oder "erschütternd". Torr selbst empfand ihre erste Drag-Erfahrung als Offenbarung. Verkleidet ging sie zu einer Vernissage und erwartete, daß sie gleich entlarvt würde. Zu ihrer größten Überraschung ging sie glatt als Mann durch und stieß schon bald auf eine interessierte Frau. "Sie hielt sich wirklich ran. Es war mir sehr peinlich, ihr zuzusehen, denn ich durchschaute ihr Weibchen-Verhalten."
Diane Torr zog Konsequenzen aus ihren Erfahrungen: "In diesem Moment habe ich beschlossen, solche Workshops anzubieten. Ich stellte mir vor, daß Frauen, die etwas über ihr weibliches Verhalten und über das der Männer lernen könnten, das sogenannte natürliche, normale Verhalten, das wir erlernt haben, leichter abbauen und neue Möglichkeiten entdecken könnten."
Torr begann, Frauen zu zeigen, daß Männlichkeit "keine heilige Sache" ist und sie auch selbst ein Mann sein können. "Ich habe die Gendertheorie auf eine körperliche Ebene gebracht." Sie interpretiert "gender theory" (und hier bezieht sie sich auf Judith Butler) dahingehend, "dass lediglich eine Serie von stilisierten Gesten die Genderwahrnehmung ausmachen, daß es etwas ist, das man und frau sich an- oder abtrainieren kann".
Dies suggeriert die Vorstellung, Gender - also das soziale Geschlecht, die Geschlechterrolle - sei nur Theater, und die Menschen bräuchten lediglich ein paar Proben, um die geschlechtsgebundenen Gewohnheiten und Folgen abzulegen, von denen sie unterdrückt werden. Doch leider ist das Leben komplizierter: Manche Frauen sind "gerne Frauen", auch wenn man ihnen Zugang zu den Tricks und Kniffen der Männlichkeit verschafft. Andere haben nie gelernt, weiblich zu sein, und müssen es sich somit auch gar nicht "abtrainieren". Wiederum andere haben beides gelernt und sind mal mehr so und mal mehr so.
Die Tunte, ein Mann im Kleid, gilt per se als Drag Queen. Das ist für die Frau im Anzug keineswegs der Fall. Sie ist noch lange kein Drag King, und sie will es vielleicht auch gar nicht sein. Weil viele Lesben sich eher kerlig geben, ist es schwierig zu entscheiden, wo der Drag King anfängt. Man muß genau unterscheiden zwischen einer Frau, die männlich wirken und einer Frau, die als Mann gelten will; zwischen demonstrierter Kerligkeit und einem Auftritt als Drag King.
Es gibt so viele verschiedene Arten von Drag Kings wie Drag King-Nummern, doch insgesamt lassen sie sich alle in zwei Gruppen einteilen. Da gibt es den Butch King, das ist der Drag King, dessen Männlichkeit bis in den Alltag reicht. Und da gibt es den Femme King: für diesen "androgynen" Drag King ist Männlichkeit sozusagen ironisches Zitat. Er/sie versteht sich als Parodie auf die Männer - und läßt mit der Perücke, den Boxershorts und der Brustbinde auch die "Männlichkeit" in der Garderobe zurück.
Diesen Femme Kings wird zuweilen von den Butch Kings vorgeworfen, keine "richtigen" Drag Kings zu sein. Die Femme Kings antworten darauf, daß sie ganz bewußt das Spielerische an den Mann/Frau-Rollen transparent machen wollen, daß sie Wanderinnen zwischen den Geschlechtern sind.
Die Drag King-Szene ist weder an sich rebellisch, noch ist sie nur ein harm- loser Kleidertausch. Manche Drag Kings konfrontieren uns mit den Grenzen der Geschlechterrollen, andere fügen sich selbst in die enge Starrheit der Kategorien, die wir so nicht mehr haben wollen. Manche Drag Kings sind lediglich Schauspieler, andere wiederum verstehen sich als Vorboten einer Transgender-Vision: einer Zukunft, in der das Geschlecht Menschen nicht mehr auf eine Rolle festlegt, und alles möglich ist.
Vielleicht meinte Gertrude Stein den Drag King, als sie schrieb: "Sie sagt immer, sie haßt das Abnormale; es sei so offensichtlich. Sie sagt, das Normale sei einfach so viel komplizierter und interessanter."
Texte und Fotos entnahmen wir "The Drag King Book" von Del Lagrace Volcano und Judith "Jack" Halberstam (Serpent's Tail, London). - Übersetzung: Antje Görnig