Die Biathletin
Das Bundesland Thüringen hat ein Problem: Die Frauen des Freistaats sind "auf der Flucht". Mehr als 50.000 junge Frauen, so berichtet die Thüringer Allgemeine auf ihrer Titelseite deprimiert, haben das Land in den letzten Jahren verlassen, um woanders ihr Glück zu suchen. Zu diesen Flüchtigen gehört auch Kati Wilhelm.
Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Deutschlands Biathletin Nummer 1 und den 49.999 anderen Abgewanderten. Anders als ihre Geschlechtsgenossinnen hat die 31-Jährige aus Schmalkalden im Jahr 2004 ihren angestammten Sportstützpunkt Oberhof nicht Richtung Ruhpolding verlassen, weil sie trotz Spitzenabi oder Superdiplom keinen Job bekommen hätte. Im Gegenteil. Kati Wilhelms Job als Sportsoldatin im Rang eines Hauptfeldwebels und Medaillenbeschafferin für Deutschland war bombensicher. Ihr Glück hatte die beste Biathletin der Welt, bei deren Zieleinfahrten nicht nur ihre pumucklrote Fransenfrisur leuchtet, sondern irgendwie auch sie selbst, also offenbar schon gefunden. Nur: "Ich war 15 Jahre lang in Oberhof durch den Wald gelaufen, kannte jeden Stock und Stein. Da musste was Neues her." Also machte sich die "bekennende Thüringerin" auf nach Oberbayern, was ihr so mancher Vereinskollege aus dem SC Motor Zella-Mehlis als Vereins- und so mancher Thüringer als Landesverrat übelnahm.
Aber Kati Wilhelm macht erklärtermaßen keine halben Sachen. So war es auch, als sich die begabte Skilangläuferin 1999 entschied, dass ihr mehrere Jugendmeistertitel, drei zweite Plätze bei der Deutschen Meisterschaft und eine Qualifikation für Olympia 1998 in Nagano nicht reichten. Also bat sie den Trainer aus der Biathlon-Abteilung, sie mal am Gewehr zu testen. Heimlich, versteht sich, damit die Langlaufabteilung nichts merkte. Wilhelm traf. Ein Jahr später holte sie Platz zwei beim Weltcup und 2002 zweimal Gold bei Olympia in Salt Lake City. Da war Biathlon für Frauen überhaupt erst zum dritten Mal olympisch.
Der Biathlon, also die Mischung aus Skilanglauf und Scheibenschießen im Liegen und Stehen, hat seinen Ursprung in den nördlichen Gefilden, wo man auf Skiern auf die Jagd zu gehen pflegt. Ein klassisches Männerding also. Kein Wunder, dass IOC-Präsident Samaranch sich lange dagegen sperrte, die "Flintenweiber" in seinen Olymp aufsteigen zu lassen. 1992 kapitulierte er. Die "Skijägerinnen" durften zur Waffe greifen. Was sie seither mit Begeisterung und Kompetenz tun. Wilhelms Doppelgold in Salt Lake City war der Auftakt zu einer unglaublichen Siegesserie der deutschen Biathlon-Frauen, die gern im Dreierpack auf dem Siegertreppchen stehen und "Deutschland zur Biathlon-Nation gemacht haben".
Über dieses "Wintermärchen", das Wilhelm & Co. schrieben, haben nun zwei Filmemacher einen Dokumentarfilm gemacht: "Mit den Waffen einer Frau – Gold im Visier". Eine solche Ehre wurde bisher nur unseren Fußballhelden und den Tour de France-Radlern (vor den diversen Doping-Affären) zuteil.
Doch nun sehen wir Kati Wilhelm, wie sie sich beim Sommertraining in Utah auf Roll-Skiern mit ihren Stöcken von der flirrenden Landstraße abstößt und in ihrer kurzen Hose Beine mit imposanten Muskelpaketen zeigt. Oder bei der Wahl zur "Sportlerin des Jahres 2006", wo sie beim Gang zur Bühne auf ihrem damenhaften Schuhwerk wankt, weil ihre Schuhe üblicherweise schneetauglich und robust sein müssen. Oder am Frühstückstisch mit ihrem Lebensgefährten Andi, den sie in Ruhpolding kennengelernt hat.
In dieser Saison ist der Skitechniker zum ersten Mal in den Trainingslagern dabei – als "mein Servicemann". "Es ist für Männer nicht ganz einfach, wenn die Frau im Rampenlicht steht", weiß Skijägerin Wilhelm. "Es ist ja eine Art Rollentausch, und sie finden das schwierig, wenn es andersrum läuft. Da hab ich ja auch schon so meine Erfahrungen gemacht." Für Andi scheint der Rollenwechsel okay zu sein. "Ich hab keine Probleme damit, dass Kati so im Rampenlicht steht", versichert der aschblonde Mann im schwarzen Sweatshirt, während Kati Wilhelm mit knallroten Haaren und neongrün-gelber Trainingsjacke ihr Ei löffelt. Schmälern möchte er seine Rolle aber nicht: "Wir arbeiten ja beide daran, dass sie Erfolg hat."
Ihren einzigartigen Erfolg – nochmal Gold und zweimal Silber bei Olympia 2006 in Turin plus diverse Weltcup-Siege – scheint Kati Wilhelm mit solch chronisch guter Laune zu erzielen, dass "Miss Biathlon" nicht nur Deutschlands erfolgreichste sportliche Leistungs-, sondern auch seine größte Sympathieträgerin ist.
Ohne die Wiedervereinigung wäre sie, sagt Kati Wilhelm, "keine Leistungssportlerin mehr". Sie hätte dann auf eins der DDR-Sportinternate gemusst, und die waren ihr "zu straff organisiert". Die Mauer, die in den Köpfen vieler Deutscher bis heute steht, fiel bei Kati Wilhelm schnell, weil "ost- und westdeutsche Sportler ständig zusammen waren." Auch wenn sie sich das eine oder andere Mal darüber geärgert hat, wenn sie einer West-Kollegin mal wieder erläutern musste, "dass wir auch Strom und fließend Wasser hatten".
Im heimatlichen Thüringen hat man der berühmten Landestochter ihren Abgang wohl inzwischen verziehen. Nur Neffe Max, der Sohn von Schwester Melanie, ist unzufrieden. Der Achtjährige hat sich dermaßen an die Wilhelm’schen Siegesserien gewöhnt, dass er jüngst bei einem Sieg von Eislauf-Queen Anni Friesinger vor dem Fernseher in Tränen ausbrach und schluchzte: "Wann gewinnt Tante Kati denn endlich mal wieder?" Bei den World-Cup-Turnieren im Januar. Sehr wahrscheinlich.