Osten: Lehrerinnen auf den Barrikaden
"Acht Prozent! Acht Prozent!" skandieren rund 18.000 wütende Kehlen vor dem Dresdner Finanzministerium. Das Maß ist voll. Die 35.000 tarifbeschäftigten sächsischen LehrerInnen wollen endlich mehr Geld – und jedeR zweite geht daher auf die Straße. Die Zeichen stehen auf Streik, weil Sachsen als einziges Bundesland neben Mecklenburg-Vorpommern seine LehrerInnen nicht verbeamtet, weil LehrerInnen kaum Aufstiegschancen haben und weil sie die Gruppe sind, die am weitesten von der Ost-West-Angleichung entfernt ist. Manche Teilzeit-Lehrerinnen gehen mit 1.500 Euro nach Hause, brutto.
Mit blauen Fahnen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Trillerpfeifen, roten Streikwesten und Plakaten wie "Pisa Platz 1 – Bezahlung Platz 16" ziehen sie los. Das Wetter ist stürmisch, die Atmosphäre auch. Unterstützung kommt von ver.di, Studierenden und PolizistInnen.
Das sächsische Bildungswesen ist zu genau 81 Prozent weiblich und wegen der Nicht-Verbeamtung voll streikfähig. Die Gewerkschaften fordern in der Tarifauseinandersetzung acht Prozent mehr Lohn, mindestens aber 200 Euro und eine höhere Eingruppierung. Gerade jetzt, in Zeiten der Finanzkrise, fühlen sich viele verschaukelt. In guten Zeiten sollten sie den Aufschwung nicht gefährden – und in schlechten erst recht nicht.
"Der Streik tut gut", sagt Andrea Schubert, Gymnasiallehrerin aus Leipzig, "Es geht hier in vielerlei Hinsicht um Gleichberechtigung. Um die von Ost und West, Jung und Alt und Mann und Frau. Unsere Solidarität und die Angst vor Arbeitslosigkeit sind lange Jahre vom Freistaat schäbig ausgenutzt worden. National sind wir bei PISA Spitzenreiter, aber wenn es um gerechte Entlohnung geht, das Schlusslicht."
Referendare starten mit einem Gehalt von 750 Euro netto. Und die Ost-West-Gehälter klaffen in der Tat erheblich auseinander. Eine Lehrerin mit zwei Kindern erhält in Sachsen bei Neueinstellung 2.257 Euro brutto, in Baden-Württemberg in gleicher Position fast 1.000 Euro mehr, dazu als Beamtin in A 12, die von Abgaben für Rente und Arbeitslosigkeit befreit ist. 80 Prozent der sächsischen LehrerInnen arbeiten laut GEW jedoch noch immer in Teilzeit, da nur so Bedarfskündigungen wegen des Schülerrückgangs verhindert werden konnten.
Alles hatte gut angefangen. Im Februar erfasste die Wucht des Aufbegehrens ganz Sachsen. Über 20.000 LehrerInnen streikten an mehr als 1.000 Schulen. Sachsen-Anhalt zog ähnlich nach. Zwei Tage lang blieben die Klassenzimmer geschlossen. Selbst Sabine Gerold, GEW-Vorsitzende Sachsens, war von der enormen Streikbereitschaft ihrer Mitglieder überrascht. "Das hiesige Bildungsniveau ist hoch, die frühere Lehrerausbildung war offensichtlich hervorragend. Die sächsischen Schüler sind die fittesten, schaffen es bei PISA weit nach vorn. Das ist Balsam für die Ostseele, denn viele der Ost-LehrerInnen fühlen sich wegen ihrer DDR-Biografie benachteiligt. Die schreiende Ungerechtigkeit in der Bezahlung tut ein Übriges."
In der Tat machte Sachsens einstiger Kultusminister Matthias Rößler Mitte der 90er Jahre kein Hehl daraus, was er von OstlehrerInnen hielt. Ihm gab es zu viele "rote Socken" im Bildungsapparat. Von denen sei nur ein Drittel in der neuen Zeit angekommen, ein weiteres Drittel seien "unverbesserliche Ostalgiker" und ein letztes hätte "längst resigniert".
Grundschullehrerin Jana Neumann aus Leipzig erinnert sich an diese Zeit: "Rößler wusste genau, mit wem er es machen kann. Der Lehrerjob war in der DDR fast ausschließlich weiblich. Wir Frauen hatten nach der Wende alle eine Riesenangst. Die meisten Männer hatten bereits ihre Arbeit verloren. Als Mutter von zwei Kindern akzeptierst du jede Gehaltskürzung. Hauptsache einer aus der Familie hat Arbeit. Wir Frauen hätten uns damals mehr auf die Hinterbeine stellen müssen. Aber in diesem Klima hat sich niemand getraut."
1997 wurden Beschäftigungsumfang und Gehalt auf bis zu 57 Prozent reduziert. Der Geburtenknick nach der Wende machte sich besonders in den Grundschulen bemerkbar. "Wir waren solidarisch, aus heutiger Sicht ein bisschen naiv. Natürlich ließen nur wir Grundschullehrerinnen uns auf die Teilzeit ein. An den prestigeträchtigeren weiterführenden Schulen arbeiteten mehr Männer, die ihre Ansprüche gemeinsam erfolgreich durchgedrückt haben. Die wahren Auswirkungen der Teilzeit werden wir erst so richtig erkennen, wenn es in die Rente geht", empört sich Neumann.
Noch heute sind es zu 95 Prozent Frauen im Osten, die an Grundschulen arbeiten. Die wenigen Männer unter ihnen sind meist Schulleiter. 80 Prozent der Lehrerinnen arbeiten in Teilzeit – doch gefühlter Vollzeit. Sachsen schöpft das Bildungspotenzial sehr effizient aus, baut auf die freiwillige Mehrarbeit. Daher ist das Betreuungsangebot so gut, nur im Portemonnaie herrscht Flaute.
Viele Kolleginnen, die aus der Teilzeit kämen, trauten sich laut Gerold die Vollzeit gar nicht mehr zu. Hinzu käme die veränderte Schülerklientel. "Der Blick ins Elternhaus ist heute wichtiger denn je. Zu DDR-Zeiten wurde schnell bemerkt, wenn mit einem Kind etwas nicht stimmte. Für viele ältere Kolleginnen ist das heute eine psychische Belastung. Sie sehen, dass das Kind kein Pausenbrot hat, keine Winterjacke. Früher waren Sie zum Eingreifen verpflichtet, heute heißt es ‚Mischen Sie sich nicht ein‘. Ich will meinen Westkollegen nicht Unrecht tun, aber ich glaube, Ostlehrer schauen immer noch anders auf die sozialen Hintergründe."
Jana Neumann: "Die meisten Eltern haben erst durch den Streik erfahren, wie wenig manche von uns verdienen. Auch in der Grundschule ist der Job mit den 28 Wochenstunden längst nicht getan. Man schreibt Bildungsempfehlungen, Förderpläne, Beurteilungen, streitet sich mit Jugendämtern. Man hat Kinder in der Klasse, von denen man weiß, dass sie zuhause geschlagen und extrem vernachlässigt werden. Kein Pausenbrot, kein Geburtstagsgeschenk oder keine Winterjacke sind meist noch das geringste Übel. Ich habe Kinder in meiner Klasse gehabt, die Angst vor den Ferien hatten. Kinder, die das ganze Wochenende mit Horrorfilmen und Pornos zugedröhnt werden. Neunjährige, die morgens um sechs Uhr vor dem Schultor abgestellt wurden, weil die Eltern zur Arbeit mussten."
Von dem Streik hat sie sich mehr erhofft. Die Zeit ist günstig, der LehrerInnenjob wieder gefragt. Bundesweit mangelt es so erheblich an Nachwuchs, dass Baden-Württemberg eine deutschlandweite Abwerbekampagne gestartet hat und um den heiß begehrten Nachwuchs mit Plakaten wirbt, die mit "Sehr guten Morgen, Frau Lehrerin!" titeln.
Doch bei allem Engagement: Über die rund fünf Prozent Tariferhöhung hinaus haben es auch die sächsischen LehrerInnen diesmal nicht geschafft. Nicht zuletzt wegen der Angst, dass die öffentliche Meinung, die Solidarität der Eltern bei längerem Schulausfall kippen könnte. Sabine Gerold leicht enttäuscht: "Einen unbefristeten Streik, der die einzige Konsequenz gewesen wäre, hätten viele mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können."