Mitleid mit dem Feind

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Yonit Levi, beliebte Nachrichtenmoderatorin des erfolgreichen kommerziellen Senders Channel 2, wird von vielen Israelis als "Eisprinzessin" wahrgenommen, kühl und professionell. Dass dieser Eisberg zu Beginn des Gaza-Krieges ausgerechnet wegen der Palästinenser zu schmelzen begann, sorgte für fast mehr öffentliche Diskussion als der Krieg selbst. Zuschauer beschwerten sich, Petitionen wurden gestartet und ein Chefredakteur sah sich genötigt, die patriotische Grundhaltung seines Senders zu beschwören. Was war passiert?

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Zu Beginn der Militäroperation hatte Levi PalästinenserInnen aus dem Gazastreifen interviewt und auch nach Toten unter den Zivilisten gefragt. Als die Journalistin am zweiten Tag der Offensive die Nachrichten mit den Sätzen beendete: "Es ist schwer, die Welt davon zu überzeugen, dass der Krieg gerechtfertigt ist, wenn Israel einen Toten hat und die Palästinenser 350 Tote" – da ging es los.

Prompt fragte ein Vater sich und Channel 2, wie er denn seinen Sohn noch in den Kampf schicken könne, wenn Levi suggeriere, dass dieser Krieg ungerechtfertigt sei. Und eine aufgebrachte Zuschauerin startete unter dem Motto "Yonit Levi? Nach Hause!" gar eine Online-Petition, in der sie der Journalistin "antizionistische Empathie" mit dem Feind sowie "Schwächung der nationalen Moral" vorwarf. Sie forderte den Sender auf, Levi abzusetzen, solange diese ihre "taubenhaften Ansichten" während ihrer Sendung nicht für sich behalte.

Taubenhaft, das heißt an friedlichen Mitteln der Konfliktlösung interessiert sein, politisch links und kompromissbereit. Es ist in dem Fall auch ein Wortspiel, denn der Vorname Yonit bedeutet im Hebräischen "die Taubenhafte". Und diese Taubenhafte sollte nun "fliegen".

Als besonders provokant wurden die Bewegungen von Levis Augenbrauen interpretiert. Sie habe sie "sarkastisch hochgezogen", wenn es um Aktionen der israelischen Armee ging und "sorgenvoll und voller Sympathie zusammengezogen angesichts des Traumas, das unschuldige Palästinenser erlitten", hieß es in der Petition. Ziel der Empörten war es, 10.000 Stimmen zu sammeln, zusammengekommen sind fast 35.000 Unterschriften gegen die Taube, in weniger als zwei Wochen.

Da stellt sich die Frage, wie gut es um die aktuelle nationale Moral in Israel bestellt sein kann, wenn bereits eine hochgezogene Augenbraue reicht, dieselbe zu gefährden. Andere Nachrichtensprecherinnen sahen sich nämlich ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt. Auch Dana Weiss, vom gleichen Sender, wurde mit mitleidigen Gesichtsausdrücken auf Sendung ertappt. Und Oshrat Kotler, die Hauptnachrichtensprecherin vom Sender Channel 10, hatte bereits im Januar 2008 in ihrer Sendung explizit zu Verhandlungen mit der Hamas aufgefordert, "bevor wir Hunderte auf dem Altar israelischer Maskulinität opfern". Dieser Satz wurde gar als "militante feministische Rhetorik" kritisiert

Wie die Tageszeitung Maariv/NRG zu berichten wusste, wurde Levi in einer internen Besprechung des Senders schließlich gebeten aufzupassen, was sie sage. Der Chefredakteur der Abendnachrichten, Guy Sudri, wird mit der Äußerung zitiert: "Wir sind nicht von den Vereinten Nationen. Wir sind Israelis, und wir sind alle Patrioten." Zu viel Mitleid mit den Palästinensern, eine zu starke Betonung ihres Leides, die Nivellierung palästinensischer Gewalt – in Israel wird all das mit den Vereinten Nationen assoziiert. Der Chefredakteur betonte, man habe doch auch über Angriffe auf die israelischen Städte Sderot und Ashkalon berichtet. Außerdem seien alle Fragen von Levi "super-legitim" gewesen.

Der Schriftsteller Assaf Gavron ("Ein schönes Attentat", "Hydromania") kommentierte die Levi-Affäre Ende Januar auf dem Internetportal qantara.de: "Wenn Menschen keine Geduld mehr aufbringen können, um einander zuzuhören, wenn sie dieses Maß an Aggression erreichen, verbauen wir uns nicht nur den Weg zu Ruhe und Frieden in unserer Region, sondern verlieren auch den Anspruch auf eine zivile, gesunde und demokratische Gesellschaft."

Und die Kolumnistin Ariana Melamed schrieb in Ynet, der Online-Ausgabe der Massentageszeitung Yedioth Achronot, Untersuchungen hätten ergeben, dass die Zuschauer ihre Nachrichten von Männern präsentiert haben wollen – vorzugsweise von weißhaarigen Männern mit autoritativer Stimme, und nicht von jungen Frauen. Auch diese Äußerung wurde als "radikal-feministisch" abgetan.

Nach Umfragen vom Jahresanfang waren fast 90 Prozent der israelischen jüdischen Bevölkerung für diesen Krieg. Selbst die Peace-Now-Bewegung wurde von vielen ihrer Unterstützer aufgefordert, diesmal nicht gegen den Krieg zu demonstrieren. Fielen die Reaktionen auf Levi und andere Moderatorinnen deshalb so heftig aus?

Zwei Monate nach Ende der Militär-Operation im Gaza-Krieg bestimmen Aussagen von Soldaten über gezielte Tötungen palästinensischer Zivilisten und Kinder während des Krieges die Nachrichten und die öffentliche Debatte. Auch von rassistischen Parolen, die Soldaten in palästinensische Häuser geschmiert haben, wird berichtet, und über militärisch sinnlose Zerstörungen.

Die Berichte über diesen aggressiven Vandalismus widersprechen dem Selbstanspruch der israelischen Armee, "die moralischste und ethischste der Welt" zu sein. Die israelischen Verteidigungsstreitkräfte haben die Untersuchung dieser Vorfälle beendet, mit der Behauptung, Nachforschungen der Militärpolizei hätten ergeben, dass all diese Aussagen auf Gerüchten und nicht auf persönlich Erlebtem beruhen würden. Etliche israelische Menschenrechtsgruppen haben sich skeptisch geäußert über dieses "verdächtig schnelle" Untersuchungsergebnis. Die Diskussionen halten an.

Berichte von Soldaten, die entsetzt sind über die Diskrepanz zwischen ihren moralischen Maßstäben und der Realität des Krieges, sind in Israel nicht neu. In dem von der Kibbuzbewegung 1967 nach dem Sechstagekrieg veröffentlichten Buch "Der siebte Tag" (Soldiers Talk) sprach auch der damals noch junge Amos Oz mit Soldaten über die moralische Last, die sogar eine legitime Selbstverteidigung bedeutet.

Die Aufarbeitung der Kriegsgräuel ist Ari Folmans Zeichentrick-Dokumentation "Waltz with Bashir", in der der Regisseur und Ex-Soldat sich mit seinen und den Traumata aller israelischer Soldaten aus dem ersten Libanonkrieg auseinandersetzt. Der Film hat in Israel großes Aufsehen erregt, zur Überraschung des Regisseurs, der davon ausging, dass er "zu links" (zu taubenhaft?) sei. Heute scheinen zwar viele Israelis kriegsmüde zu sein, aber gleichzeitig keine Alternative zum Krieg zu sehen. Und vielleicht wehren sie gerade aufgrund solcher inneren Spannung offene Kritik geradezu reflexhaft ab.

Auch jetzt berichten Soldaten aus dem Gaza-Krieg von ihren Gewissensbissen und Schuldgefühlen. Wieder ist unklar, ob die Ziele der Operation überhaupt erreicht wurden. Das war schon nach dem zweiten Libanonkrieg so. Dass sich Gilad Shalit mehr als tausend Tage nach seiner Entführung in den Gaza-Streifen immer noch in Geiselhaft befindet, hebt die nationale Moral nicht gerade. Hochgezogene Augenbrauen, wo man hinsieht.

Auch über die Anzahl der getöteten palästinensischen Zivilisten gibt es unterschiedliche Angaben. Das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte (PCHR) geht von insgesamt 1.417 getöteten Menschen aus, darunter 926 Zivilisten, 255 Polizisten und 236 Hamas-Kämpfer. Nach Angaben der israelischen Armee wurden dagegen 1.166 Palästinenser getötet, von denen 709 als Terrorbeteiligte identifiziert wurden und "nur" 295 "Unbeteiligte".

Die TV-Journalistin Yonit Levi hinterfragte das Kriegsgeschehen bereits zu einem Zeitpunkt, als es große Loyalität gab mit den Bewohnern des Südens und mit der Armee, aber wenige Zweifel und kaum Kritik. Und noch weniger Empathie mit "dem Feind", den Palästinensern. Doch ohne Empathie auch für die Anderen wird es wohl keine Zukunft für Demokratien im Nahen Osten geben. Hat die hochgezogene weibliche Augenbraue also die demokratischen Kräfte gestärkt?

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