"Wir pusten ihnen das Gehirn weg"
149 Brandstiftungen und 47 Bombenattentate auf Abtreibungskliniken wurden von 1992 bis 1998 in den USA registriert. Die Statistik der National Abortion Federation von 2001 verzeichnet sieben Morde, 15 versuchte Morde, hunderte Fälle von Belästigung, Nötigung und Hausfriedensbruch und einen enormen Anstieg von Brandstiftungen, allesamt verübt von Abtreibungsgegnern. Diverse Lebensrechtler, die wegen Straftaten gegen Abtreibungskliniken und -befürworter verurteilt wurden, sind wieder auf freiem Fuß und preisen in aller Öffentlichkeit ihre terroristischen Taten.
"Herzlich Willkommen! Viel Erfolg den Lebensschützern!" war 1985 auf dem Vordach eines kleinen Motels in Appleton, Wisconsin, zu lesen. Die Mitglieder des Pro-Life Action Network (PLAN) waren nach Dutzenden von Brandstiftungen und Bombenanschlägen im ganzen Land in Feststimmung. Manche hatten ihre Namensschilder sogar mit Feuerwerkskörpern verziert. Dieses kleine, aber folgenreiche Treffen spiegelte die unverschämte und zugleich banale Wesensart des organisierten Lebensschützer-Fundamentalismus: In Hurra-Stimmung wurden unter dem Deckmantel der Redefreiheit Gewaltakte angedroht und Verbrechen als legitime Mittel zur Einschüchterung gefeiert.
1986 drangen PLAN-Leiter Joseph Scheidler und drei weitere Mitglieder in die Summit Women’s Health Clinic in Delaware ein. Laut Gerichtsbericht sagte Scheidler, er habe die Klinik "inspiziert". Am nächsten Tag überfielen Abtreibungsgegner die Klinik und richteten enormen Sachschaden an.
Ähnliche Anschläge häuften sich, bis es die National Organization for Women (NOW) und die Kliniken der National Women's Health Organization in Delaware und Milwaukee satt hatten und Scheidler & Co. verklagten. Sie wollten eine landesweite gerichtliche Verfügung erwirken, um den Übergriffen Einhalt zu gebieten. Eine solche Verfügung wäre unter Berufung auf das RICO-Statut möglich, einem Gesetz zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Außerdem forderten die Kläger Geldstrafen und Schadensersatz. Die Klage war nur gegen Straftaten gerichtet, nicht gegen gewaltlose Aktionen wie öffentliche Gebete, Verteilen von Flugblättern – nicht einmal gegen Sprechchöre und Beschimpfungen.
Die Klägerinnen warfen PLAN Beteiligung an "Strukturen organisierter Kriminalität" vor. Fay Clayton, Anwältin von NOW, argumentiert, die Taten der Lebensrechtler entsprächen der Definition organisierter Kriminalität. Bislang stimmten ihr die Gerichte zu. 1984 hatte Scheidler selbst in einem Brief damit geprahlt, dass er am Aufbau einer "Abtreibungsgegner-Mafia" mitwirke.
Erst 1998 wurde der Fall NOW gegen Scheidler in Chicago vor Gericht verhandelt – zwölf Jahre nachdem NOW die Klage eingereicht hatte. Nach einem dramatischen siebenwöchigen Prozess erklärte das Gericht das RICO-Statut für anwendbar und gestand NOW das Recht zu, als repräsentative Organisation die Rechte der Frauen zu vertreten. Es verurteilte Scheidler & Co. einstimmig wegen Erpressung, Nötigung und Körperverletzung in 121 Fällen. Im Jahre 2000 bestätigte das zuständige Berufungsgericht in Chicago einstimmig dieses Urteil.
Unterdessen ging die Gewalt im Land munter weiter. Im März 1993 wurde Dr. David Gunn in Pensacola, Florida, vom fanatischen Lebensschützer Michael Griffin ermordet. Die Empörung war groß – über den Mord und über die Bundesbehörden, die behaupteten, gegen so etwas machtlos zu sein. Überall entstanden Gruppen von AbreibungsbefürworterInnen, die für eine Gesetzesänderung eintraten. Bereits 1994 brachten sie mit viel Lobbyarbeit und Kampagnen ein neues Gesetz durch, das FACE-Statut (Freedom of Access to Clinic Entrances Act), das unter anderem Gewalt oder Androhung von Gewalt gegen Kliniken verbietet.
Die Lebensschützer, von denen sich später viele in den Führungsetagen der neu gegründeten American Coalition of Life Activists (ACLA) wiederfanden, behaupteten, der Mord an Dr. Gunn sei "berechtigt" gewesen. In den folgenden zwei Jahren wurden an ÄrztInnen und Klinikpersonal vier Morde und sieben versuchte Morde begangen. Doch strafrechtlich verfolgt wurden weiter lediglich Einzelpersonen, keine Organisationen.
1995 lancierte die ACLA eine Kampagne mit dem Titel "Deadly Dozen" ("Das tödliche Dutzend") mit "unWANTED"-Postern im Westernstil, auf denen die dreizehn wichtigsten Abtreibungskliniken und -ärztInnen genannt wurden. Ähnliche Posteraktionen – die nicht der ACLA zugeschrieben wurden – hatten drei Morde nach sich gezogen. Deshalb bot das FBI allen, die auf diesen Abschusslisten standen, Personenschutz an.
1996 reichten vier ÄrztInnen und zwei Organisationen unter Berufung auf den zivilrechtlichen Teil des FACE-Statuts Klage ein (Planned Parenthood gegen ACLA), um eine gerichtliche Verfügung gegen die öffentlich verbreiteten Drohungen zu erwirken.
Die ACLA gab einige Adressen an Neal Horsley aus Carrollton, Georgia, weiter, der sie auf seine Website "Nuremberg Files" ("Nürnberg-Akten") stellte. Er nannte die Namen von ÄrztInnen und AbtreibungsbefürworterInnen und forderte dazu auf, ihnen wegen ihrer "Verbrechen an der Menschheit" den Prozess zu machen. Nach jedem neuen Mord wurde der Name des Ermordeten auf der Website sichtbar durchgestrichen. Mit grauer Schrift markierte Horsley die Namen von Verwundeten. Das Design der Website triefte nur so vor Blut.
Im Oktober 1998 wurde Dr. Barnett Slepian in seinem Haus durchs Küchenfenster erschossen. Auch sein Name wurde auf Horsleys Website durchgestrichen. In dem HBO-Dokumentarfilm "Soldiers in the Army of God" (April 2001) spricht Horsley über den Mord an Slepian: "Sehen Sie, ich habe es Ihnen gesagt. Wieder einer! Wie viele werden es noch sein, bevor wir endlich begreifen, dass eine Legalisierung der Abtreibung die Vereinigten Staaten von Amerika zerstören wird? Was sollen die Menschen denn tun, wenn sie sehen, dass diese Leute ihren Lebensunterhalt damit verdienen, Babys umzubringen? Nun, es ist doch offensichtlich: Es gibt Menschen da draußen, die ihnen das Gehirn wegpusten werden."
Auf der Website der Army of God wurden Drohungen gegen Abtreibungskliniken und -ärztInnen ausgesprochen, die 2001 dem "Soldaten" Clayton Waagner zur Last gelegt wurden. Waagner war damals flüchtig; er war aus dem Gefängnis in Illinois ausgebrochen, wo er wegen Waffenbesitz und Diebstahl einsaß. Nun verbüßt er eine Haftstrafe von 30 Jahren und gilt als Hauptverdächtiger im Fall der Versendung von 500 unechten Anthrax-Briefen an Kliniken.
Im Fall Planned Parenthood gegen ACLA verdonnerte 1999 ein Schwurgericht in Portland, Oregon, die ACLA zu einer Schadensersatzzahlung von 109 Millionen Dollar. Richter Robert Jones erklärte, es handele sich bei den Postern um "eine offensichtliche und gesetzeswidrige Verbreitung eindeutiger Androhungen von Tötung, Übergriffen und Körperverletzung", und erließ eine Verfügung gegen die Verbreitung der "Deadly Dozen"-Adressen durch die Beklagten. 2001 hob eine kleine Kammer des zuständigen Berufungsgerichts das Urteil auf. Die drei Richter beriefen sich dabei auf das Recht auf freie Meinungsäußerung. Im Mai 2002 setzte der Senat desselben Gerichts die Verfügung doch wieder in Kraft, ordnete aber eine Neubemessung der Schadensersatzzahlung an. Die Mehrheit der Richter betonte im Urteilsspruch, welch ungeheures Ausmaß die Brutalität der Abtreibungsgegner in jüngster Zeit angenommen hatte.
Doch das letzte Wort im juristischen Kampf gegen die Lebensrechtler ist nicht gesprochen. Der Oberste Gerichtshof hat die erneute Berufung von Scheidler & Co angenommen. Am 4. Dezember gab es eine erste Anhörung. Zwei Fragen will das höchste Gericht der USA klären: Erstens, ob private Organisationen wie NOW ein Klagerecht aufgrund des RICO-Statuts zusteht, womit sie sich gegen drohende Gewalt wehren können und nicht auf nachträglichen Schadensersatz angewiesen bleiben. Zweitens, ob auch dann ein Fall von Erpressung vorliegt, wenn eine Organisation nicht handelt, um sich zu bereichern, sondern aus religiöser oder moralischer Überzeugung.
NOW-Präsidentin Kim Gandy sagt, der Oberste Gerichtshof habe den Kliniken in der Vergangenheit die Möglichkeit genommen, sich auf das Privatrecht zu verlassen. Dadurch sei die Gewalt angestiegen. Wenn sich die Kliniken nun auch nicht mehr auf das RICO-Statut stützen könnten, wären die Folgen für die Öffentlichkeit "fürchterlich".Frederick Clarkson, 2/2003
Übersetzung: Antje Görnig
Der Text erschien zuerst in der amerikanischen Frauenzeitschrift "Ms".
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