Notwehr mit dem

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Am 21. März 1976, im Alter von neunzehn Jahren, tötete Noreen Winchester in Belfast ihren Vater durch 21 Stiche mit einem Brotmesser. In den Augen des Gesetzes war dies ein ganz besonders heimtückischer Mord. Er war scheinbar durch nichts herausgefordert: der Vater schlief fest. Also vorsätzliche Tötung. Die Anzahl der Stichwunden und das sorgfältige Verstecken der Leiche sprachen für "besondere Grausamkeit und Heimtücke".

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Selbst ihr Anwalt fand: "Nichts deutet darauf hin, dass hier irgendein vernünftiger Grund für diese Verhaltensweise vorlag."Und das ist vielleicht das Ungeheuerlichste an diesem Prozess gewesen: die Argumente von Verteidigern und Anklägern unterschieden sich kaum. Das Gericht verurteilte Noreen nicht wegen Mord, sondern "nur" wegen Totschlag. Noreen musste für sieben Jahre ins Gefängnis.

Was war vorausgegangen? Ihre Geschichte ist zunächst die Geschichte ihrer Eltern. Beide wuchsen in protestantischen Arbeitervierteln von Belfast auf. Annie, die Mutter, war das klügste und meistversprechende Kind einer großen Familie. Sie heiratete mit 16. als sie bereits schwanger war.

Als sie viele Jahre später ins psychiatrische Krankenhaus eingeliefert wurde, hatte sie inzwischen 16 Kinder geboren, acht davon starben in den ersten Lebensjahren. Die Familie wechselte häufig die Wohnung, zwischendurch lebte sie in Obdachlosenunterkünften. Sie gehörten zu jener Kategorie, über die in amtlichen Berichten der stereotype Satz steht: "Diese Familie ist dem Sozialamt seit vielen Jahren bekannt.

"Trotz dieses unsteten Lebens, trotz ständiger Schwangerschaften und Geist und Körper zerstörender Mittelchen, die sie zu sich nahm bei ihren Abtreibungsversuchen, trotz der ständigen Schläge, die sie von ihrem Mann bekam, arbeitete Annie noch als Stickerin in einer Bekleidungsfabrik. Ihr Mann nahm ihr stets ihren gesamten Lohn weg, sie wurde einige Male wegen Ladendiebstählen verurteilt.

Norman Winchester war keine Ausnahme. Er verhielt sich lediglich in extremer Weise so, wie es die Mitarbeiterinnen in Häusern für geschlagene Frauen inzwischen als übliche Formen von Gewalt in der Ehe kennen:

1. Die Verachtung und das Erniedrigungs-Ritual: Er hielt seine Frau Annie ständig im Zustand der Schwangerschaft, prahlte mit seinen Liebesaffären, Mister Winchesters doppeltes Gesicht schlug sie laufend und vergewaltigte sie vor den Augen der Kinder. Auch die Kinder wurden geschlagen, Noreen am schwersten.

2. Die völlige Abhängigkeit: Niemand in der Familie konnte etwas ohne seine Erlaubnis tun, und er kassierte jeden Pfennig, der ins Haus kam. Frau und Kindern ließ er lediglich zwei Pfund in der Woche für Nahrungsmittel. Die Kinder waren ständig hungrig und lebten weitgehend nur von Spaghetti, Brot und Kartoffeln. Wollten sie etwas anderes, mussten sie in Supermärkten stehlen.

3. Die doppelte Persönlichkeit: Außerhalb des Hauses war Mr. Winchester der Mittelpunkt jeder Party. Gutaussehend, vital, elegant gekleidet, war er ein beliebter Gast und Sänger in den Kneipen und versäumte nie, eine Runde auszugeben. Nachbarn und Freunde konnten weder vermuten noch glauben, was sich innerhalb der häuslichen vier Wände abspielte. Terror und ein tiefes Gefühl der Scham hielt die Familie davon ab, die Wahrheit zu sagen, sich jemandem anzuvertrauen.

Das Maß der Erniedrigung seiner Frau und seiner Familie machte dieser Haustyrann voll, indem er offen zeigte, dass seine älteste Tochter Noreen für ihn ein viel attraktiverer Sex-Partner war als seine Frau. "Inzest ist äußerst häufig in diesen Gegenden", sagte dazu ein Sozialarbeiter. "In diesem Milieu stößt man sich weniger dran, die Leute sehen es mit anderen Augen als Sie oder ich."

Noreens Leidenszeit begann, als sie elf Jahre alt war, und dauerte, unter ständigen Bedrohungen, bis zum Tode ihres Vaters. Er schlich sich nachts in ihr Schlafzimmer, überfiel sie in der Küche, wenn die Mutter nicht da war, oder fuhr mit ihr auf seinem Motorrad hinaus ins Freie. Er traktierte seine Tochter mit Gewalt und sexuellen Forderungen aller Art.

Und Noreens Mutter? Sie war hin- und hergerissen zwischen Beschützergefühlen für ihre Tochter, Eifersucht und hilflosem Unverständnis. Für ihre Versuche, Noreen zu schützen, erntete sie Schläge (genau wie Noreen, wenn sie versuchte, die Mutter vor Gewalttätigkeiten des Vaters zu schützen). Dann wieder - wenn sie Vater und Tochter im Schlafzimmer vorfand - schlug sie Noreen aus Wut und Eifersucht. Ende 1974 Sexuelles Objekt und Dienstmädchen schließlich wurde die Situation für die Mutter unerträglich. Tagelang irrte sie in den Straßen umher, bis ihre Schwester Nessie sie fand. Die Verzweiflung war nun stärker als ihre Scham, und zum ersten Mal erzählte sie jemandem, was in der Familie vor sich ging.

Nessie war entsetzt. Sie schickte Annie zum Anwalt, um die Scheidung einzuleiten, und beschwor sie, die Sozialarbeiterin über die Sache zu informieren. Annie fand eine andere Wohnung, aber ihr Ehemann überredete sie, die Scheidung nicht weiter zu verfolgen. Er gelobte Besserung und "gestattete" ihr, drei der Kinder mitzunehmen. Von Noreen allerdings wollte er sich nicht trennen - er behielt sie und die vier jüngeren Kinder. Von da an durfte Annie nie mehr das Haus betreten...

Jetzt verschlimmerte sich Noreens Situation auf dramatische Weise. Der Vater zwang sie, ihren Job aufzugeben, unter dem Vorwand, dass sie nun für die Kinder zu sorgen habe. Das Haus wurde für sie zum Gefängnis, das sie nur Samstagnachmittag verlassen durfte, um einzukaufen. Niemand wurde hineingelassen, die Kinder fanden auf diese Weise keine Freunde, niemanden, dem sie sich hätten anvertrauen können. Jeden Sonntag pflegte Mr. Winchester die jüngeren Kinder in den Park zu schicken mit dem Befehl, nicht vor fünf Uhr wieder zu Hause zu erscheinen; in ihrer Abwesenheit vergewaltigte er Noreen mehrmals. Noreen fürchtete diese Sonntage mehr als alles andere: die Nacht, in der sie ihn tötete, war ein Samstag.

Man könnte fragen: Warum ist Noreen nicht weggelaufen, wenn die Situation so unerträglich war? Doch wohin hätte sie wohl gehen sollen - sie hatte kein Geld, sie wusste nicht, wo und wie sie Hilfe hätte suchen können. Und vor allem: wer hätte ihr geglaubt? Ihr und nicht ihrem überall beliebten und jovialen Vater? Was hätte sie erleiden müssen, wenn sie - was ziemlich sicher gewesen wäre - nach einem Ausbruchsversuch nach Haus zurückgebracht worden wäre?

Außerdem hing sie sehr an ihren kleineren Geschwistern, die sie sehr liebten. Nessie erinnert sich: "Sie hingen so aneinander, dass es einem vor Mitleid die Tränen in die Augen trieb." Noreen hatte es nicht übers Herz bringen können, sie zu verlassen und damit dem Vater auszuliefern. Stets versuchte sie, sie vor seinen Schlägen zu schützen. Außerdem war viel für sie zu tun: die Kinder mussten morgens zur Schule geschickt  werden, die Zwei-Pfund-pro-Woche (zirka 10 Mark) für Nahrungsmittel mussten eingeteilt werden, ihre Mahlzeiten mussten gekocht, das Haus saubergehalten werden. Vermutlich hat Noreen die "Pflichten" der Mutter (in der Küche wie im Bett!) ganz selbstverständlich übernommen.

Ihre jüngere Schwester Tina sagte später: "Wissen Sie, deshalb hat meine Bewährungshelferin nie etwas geahnt. Es war so sauber und ordentlich und alles so hübsch, und in Gegenwart meines Vaters konnten wir ihr nie etwas sagen."Es war nicht möglich genau zu erfahren, warum Noreen ihren Vater gerade zu diesem Zeitpunkt tötete, was "die Flamme, die in mir aufstieg" entzündet hat. Dieses "Feuer" hat bei Noreen auch die Erinnerung an die Tat ausgebrannt. Man könnte sagen, Termin und Uhrzeit seien unwichtig - das Problem ist nur, dass sie in den Augen des Gerichts eine entscheidende Rolle spielen. Hätte sie ihren Vater getötet, während er sie ins Bett zerrte, wäre Noreen heute vielleicht nicht im Gefängnis.

Geschwister und Mutter blieben verwundet und gezeichnet zurück. Ihre Vergangenheit ist für sie eine ständige Quelle der Scham. Eine der Schwestern versuchte sogar, ihren Nachnamen zu ändern. Die Kinder und ihre Tante Nessie haben viel Zeit und noch mehr Kraft gebraucht, mit dem Rummel um den Prozess fertig zu werden.

Einige Gruppen, die angeblich für Noreens Sache kämpfen, haben es offensichtlich nicht für wichtig erachtet, Rücksicht auf deren Gefühle zu nehmen. Andere haben sehr schnell gewittert, dass sich hier Möglichkeiten für eine Sex-Story boten. Ein Journalist des Bill-Wharton-Büros in Dublin machte gute Geschäfte, indem er schlüpfrige Versionen des Dramas an Sensations-Magazine in ganz Europa verkaufte (mit falschen Fotos).

Mit der Unterstützung einiger Frauengruppen im Rücken ging Noreen in Berufung. Es ist zu befürchten, dass es jetzt noch mehr Publicity dieser üblen Sorte geben wird.

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