Kaiserschnitt - Ja oder Nein?

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Noch eine Stunde, dann haben Sie Ihr Baby“, sagt der Chefarzt. Anja Schmidt hat keine Kraft mehr zu warten. Die Angst ist jetzt übermächtig in ihr, sie wünscht sich nur noch, dass es endlich vorbei ist. Zwei Fehlgeburten hat sie hinter sich, Depressionen, Hormonbehandlungen, die Schwangerschaft mit den ständigen Sorgen: Ist das Baby in Ordnung? Warum hat es sich so lange nicht bewegt? Keinen Tropfen Alkohol, keine Tablette hat sie angerührt. Und jetzt die Geburt. Kein Risiko will sie eingehen, wo doch bisher alles geklappt hat.

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Doch seit drei Wochen schon zeigt das Wehenmessgerät unregelmäßige Werte. Ihr Gynäkologe macht sich Sorgen und überweist sie ins Krankenhaus, die Klinik beruhigt und schickt sie wieder nach Hause. Anja Schmidt hat das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Eine spontane Geburt, bei der sie nichts mit ihrem Willen steuern, deren Ausgang sie nicht beeinflussen kann, kommt für sie nicht in Frage. Schon vor Monaten hat sie ihrem Arzt gesagt, dass ihr Baby per Kaiserschnitt auf die Welt kommen soll. Die Unentschiedenheit der Ärzte verstärkt jetzt ihre Angst. Sie will das Baby jetzt, sofort! Endlich liegt sie auf dem OP-Tisch, nackt, mit betäubtem Unterleib. 20 Minuten später ist Max da.

Zehn Wochen danach sitzt die 35-Jährige in ihrem Haus in Hamburg, das schlafende Baby liegt in ihrem Arm. Glücklich sieht sie aus. „Viele haben mich vorher vor einem Wunschkaiserschnitt gewarnt, aber ich hätte die normale Geburt nicht geschafft“, sagt sie. „Das Geburtserlebnis fehlt mir überhaupt nicht, und auf die Wundschmerzen danach war ich vorbereitet. Ich bin einfach froh, dass Max gesund ist.“ Ein Kaiserschnitt, ist Anja Schmidt überzeugt, war für sie der richtige Weg, ihr Kind zu Welt zu bringen.

Knapp jedes dritte Kind kommt in Deutschland heute per Sectio auf die Welt – vor 20 Jahren war es noch nur jedes sechste bis siebte. Dabei gibt es große regionale Unterschiede: 2008 wurden im Saarland 37 Prozent der Babys per Kaiserschnitt geholt, in Sachsen nur 22 Prozent. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind maximal 15 Prozent tatsächlich medizinisch notwendig – zum Beispiel, weil die Wehentätigkeit stoppt, die Plazenta sich vorzeitig ablöst oder die Herztöne des Babys abfallen. Die anderen 15 Prozent haben andere Gründe: eine schwere erste Geburt, Angst vor Schmerzen, möglichen Komplikationen oder Problemen beim Sex durch einen überdehnten Beckenboden. Gründe, die medizinisch nicht zwingend waren für einen Kaiserschnitt.

Warum also entscheiden sich trotzdem so viele Frauen dafür?

Laut Berufsverband der Frauenärzte ist ein wichtiger Grund für die Zunahme der Kaiserschnitt-Geburten, dass schwangere Frauen immer älter werden – entsprechend öfter gäbe es Komplikationen wie Übergewicht oder Bluthochdruck. Ein weiterer Grund sei, dass Neugeborene immer größer und schwerer würden, und es mehr Mehrlings- und Frühgeburten gäbe. „Es gibt aber auch Frauen, die sich aus Angst vor Geburtsschmerzen, dem Verlust der sexuellen Erlebnisfähigkeit durch Dehnung des Geburtskanals oder vor Harn- und Stuhlinkontinenz für einen Kaiserschnitt entscheiden“, bestätigt Maria-Elisabeth Lange-Ernst, die Sprecherin des Verbandes. Auch die Angst der Geburtshelfer vor Regressklagen, die bei natürlichen Geburten deutlich häufiger sind, trage zu steigenden Kaiserschnittzahlen bei. So weit die Meinung der Ärzte.

Katharina Helms, 50, ist Hebamme in Hamburg, seit 24 Jahren. Sie hat einen unverstellten Blick in die Wohn- und Schlafzimmer des Landes und die Seelen der Frauen – und dadurch eine Ahnung, warum der Kaiserschnitt so beliebt geworden ist. „Immer mehr, vor allem jüngere Gynäkologen raten zur Schnittgeburt“, sagt sie. Gesellschaftliche Trends spielten eine Rolle: Angst vor Risiken, mangelnde Erfahrung, Kontrollverlust in einer Zeit, in der alles planbar geworden ist. „Manche Frauen trauen sich eine spontane Geburt nicht mehr zu, weil sie ihrem Körper nicht vertrauen.“ Dazu käme der Druck von außen, dem die Frauen ausgesetzt sind: von Ärzten, Partnern, der Familie, Freunden.

Die Hebamme versucht, den Frauen das Vertrauen in sich und ihren Körper zurückzugeben. Wenn eine Frau zu ihr kommt mit dem Wunsch nach einem Kaiserschnitt, der nicht medizinisch notwendig ist, respektiert Katharina Helms das selbstverständlich. Wenn aber Frauen unsicher sind, welcher Weg der richtige wäre, dann sagt sie: Versuch es auf natürlichem Weg, dein Körper schafft das. Denn der Kaiserschnitt ist nicht zwingend die einfachere Geburt. Die Schmerzen sind auch da, sie werden nur von der Geburt auf die Zeit danach verlagert. Und der Beckenboden dehnt sich schon während der Schwangerschaft, die Geburt macht nur 20 Prozent aus.

Katharina Helms fragt auch: Weißt Du eigentlich, was ein Kaiserschnitt für Dich bedeutet? Dass es eine Bauchoperation ist mit Risiken wie Blutungen und Wundinfektionen? Und sie ist immer wieder erstaunt, wie wenig aufgeklärt die Frauen sind.

Eine norwegische Studie kam zu dem Ergebnis, dass der Geburtsverlauf auch von der Einstellung der Geburtshelfer abhängt: Bei Hebammenbetreuung war die Sectiorate deutlich geringer.
Doch was wollen die Frauen selbst eigentlich wirklich? Nur zwei Prozent der Gebärenden wünschen sich tatsächlich einen Kaiserschnitt, ergab eine Studie der Gmünder Ersatzkasse (GEK) unter 1 400 per Kaiserschnitt entbundenen Frauen. Eine Bremer Studie kam zu demselben Ergebnis. Und in einer Befragung der Universität Osnabrück von 366 Erstgebärenden ohne Risiken gaben 3,8 Prozent der Frauen vor der Geburt eine Präferenz für einen Kaiserschnitt an.

Die Gründe für eine Schnittgeburt sind vielfältig, so vielfältig wie die Frauen, die die Kinder bekommen. Da ist Anja Schmidt mit ihrem Sohn Max, die große Angst vor Komplikationen und Kontrollverlust hatte, und ihre Entscheidung nicht bereut. Und da ist Tanja, 38. Ihr Mann wollte kein Kind, sie wurde ungeplant schwanger. Er setzte sie unter Druck, ihre Tochter per Kaiserschnitt holen zu lassen, sonst würden sie keinen Spaß mehr beim Sex haben. Heute ist das Paar getrennt. Tanja leidet noch immer, kein Geburtserlebnis gehabt zu haben. Oder da ist Barbara, 39. Ihr erstes Kind wurde nach 20 Stunden Wehen per Notkaiserschnitt geholt. Danach hatte sie eine Woche hohes Fieber. Bei ihrer zweiten Schwangerschaft stand für sie sofort fest:

Diesmal wird es ein Kaiserschnitt. Bereut hat sie die Entscheidung nicht. Und da ist Juanita, 33, die aus Brasilien stammt, wo ein Kaiserschnitt als Statussymbol gilt. 84 Prozent der Babys kamen dort 2008 durch einen Schnitt in der Bauchdecke zur Welt. Sie wundert sich über den Druck, den die deutschen Frauen sich machen.

Wer sich näher mit dem Thema Kaiserschnitt beschäftigt, gewinnt den Eindruck, dass es auch eine ideologische Debatte ist. Da sind die Hebammen auf der einen Seite, die Gynäkologen auf der anderen und dazwischen die Mütter. Sie lesen in den Medien, wie einfach und problemlos Prominente ihr Baby per Kaiserschnitt bekommen haben. „Weniger Risiken fürs Kind“, nannten 48 Prozent der Frauen in der GEK-Studie als Vorteil der operativen Geburt. 60 Prozent gaben als Grund für die Sectio den Rat ihres Arztes an.

Offenbar halten viele Frauen den Kaiserschnitt heute für die sicherste Form der Entbindung. Dass das nicht stimmt, belegt eine Studie der Weltgesundheitsorganisation, in der mehr als 100 000 Geburten in neun asiatischen Ländern ausgewertet wurden: Das Risiko schwerster Komplikationen für die Mutter ist beim Kaiserschnitt fast dreimal höher als bei einer Vaginalgeburt. Wer sein Kind per Kaiserschnitt zur Welt bringt, braucht öfter Bluttransfusionen, muss öfter auf die Intensivstation verlegt werden. Außerdem bestehen die üblichen Risiken wie bei allen Operationen: Narkose - probleme, Thrombosen, Blutungen und Infektionen. Und bei nachfolgenden Geburten kann die Plazenta in die Gebärmutterwand einwachsen oder die Gebärmutterwandnarbe reißen.

Zwar haben spontan geborene Kinder öfter Knochenbrüche, dafür leiden Babys fast doppelt so häufig unter Atemnot, wenn sie per Kaiserschnitt geholt wurden, fanden Forscher der Universität Genf heraus. Zwei von tausend Kindern sterben bei einer geplanten Sectio – doppelt so viel wie bei natürlichen Geburten. Was allerdings vermutlich nicht am Kaiserschnitt liegt, sondern an bereits vorher existierenden Komplikationen.

Oft entscheiden Ärzte sich heute für den schnellen Schnitt – zum Beispiel bei Steißlagen, engem Becken oder anderen Problemen. Bei Silvia Funke, 33, musste bei der Geburt ihres ersten Sohnes wegen eines Geburtsstillstandes ein Notkaiserschnitt gemacht werden. „Ich war zuerst froh, dass etwas passierte und Felix gesund war“, sagt sie heute. „Danach aber hatte ich starke Wundschmerzen und litt darunter, dass ich mich nicht gleich um mein Kind kümmern konnte. Ich fühlte mich fremdbestimmt, war sehr erschöpft, unselbstständig und auf Hilfe angewiesen.“
Als sie im vergangenen Sommer wieder schwanger wurde, stand für sie fest, dass sie eine spontane Geburt versuchen würde. „Ich wollte möglichst schnell wieder fit sein.“ Ihre Ärztin, die Familie und die Hebamme unterstützten sie. „Als Florian da war, war ich unheimlich stolz, es alleine geschafft zu haben“, sagt Silvia Funke.

Viele Frauen, auch das ergab die GEK-Studie, fühlten sich zwar über den Ablauf der Schnittgeburt sehr gut informiert – nicht aber über deren Folgen. Und die können erheblich sein. „Wenn die medizinische Indikation eindeutig dafür spricht, ist der Kaiserschnitt eine sehr sinnvolle und lebensrettende Option“, sagt Katrin Mikolitch, Ärztin und Gründerin des Kaiserschnitt-Netzwerkes. „Aber: Die Anzahl von Patientinnen, die mit lang anhaltenden Auswirkungen ihres operativen Eingriffs zu mir in die Praxis kommen, spricht dafür, dass es einen großen Therapiebedarf für Körper und Psyche nach dem Kaiserschnitt gibt – vor allem, wenn Frauen sich während der Geburt ausgeliefert fühlten.“ Die Operation selber, unsensible Behandlung durch das Klinikpersonal, Kontrollverlust oder Trennung vom Neugeborenen sind ihrer Erfahrung nach Probleme, die bedacht werden müssen.

Auch viele der 162 Frauen, die an dem Buchprojekt „Der Kaiserschnitt hat kein Gesicht“ teilnahmen, haben negative Erfahrungen mit der Schnittgeburt gemacht, fühlten sich ausgeliefert und als „Versagerinnen“. 44 Prozent sagten, der operative Eingriff habe die Mutter-Kind-Bindung gestört. Und 42 Prozent gaben an, den Kaiserschnitt als Trauma erlebt zu haben. Jede dritte litt nach der Geburt an Depressionen. Von einer Depression nach einer Vaginal-Geburt sind zwischen zehn und 20 Prozent betroffen.

Von den 159 Geburtshilfe-ExpertInnen, die für das Buchprojekt befragt wurden, waren 96 Prozent der Meinung, dass heute zu viele Kaiserschnitte ohne dringende medizinische Indikation durchgeführt würden.  Die Gründe: Angst vor der Geburt, gesellschaftlicher Trend, mangelhafte Aufklärung. 81 Prozent der Frauen glauben, ein Kaiserschnitt habe negative Auswirkungen auf das Kind. Ärzte und Hebammen fordern deshalb eine bessere Aufklärung, um traumatische Folgen nach Kaiserschnitt-Geburten zu vermeiden.

Professor Peter Husslein von der Universitätsklinik für Frauenheilkunde in Wien, vermutet, dass es in Zukunft zwei positive Geburtsformen geben wird: die einfache vaginale Geburt und den vorab geplanten Kaiserschnitt. Husslein: „Langwierige Geburtsverläufe und Akut-Kaiserschnitte dagegen müssen selten werden.“ Die Kaiserschnittrate werde weiter ansteigen, glaubt der Gynäkologe.

Katharina Helms findet das bedenklich. „Es ist der Untergang unserer Kultur“, warnt sie, „wenn Frauen nicht mehr an ihre Gebärfähigkeit glauben und sich lieber den Bauch aufschneiden lassen.“

Das findet auch Manuela Göddertz aus Nordrhein-Westfalen, 35. Für sie stand fest: Sohn Robin (drei Monate) wird natürlich geboren, falls es keine Komplikationen gibt. „Ich hatte viel größere Angst vor einem Kaiserschnitt als vor einer Spontangeburt“, sagt sie. Nach 20 Stunden Wehen hielt sie glücklich ihr vier Kilo schweres Baby im Arm. „Die Erfahrung, dass ich meinem Körper voll und ganz vertrauen kann, dass ich die Geburt durchgestanden habe, zeigt mir: Alles andere schaffe ich auch.“ Doch, da sind sich Hebammen und Ärzte einig, muss es die persönliche Entscheidung der Frau bleiben, wie sie gebärt.

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www.kaiserschnitt-netzwerk.de
Caroline Oblasser/Ulrike Ebner/ Gudrun Wesp: Der Kaiserschnitt hat kein Gesicht (Edition Rieden).

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