Polanski: Schweiz ist eingeknickt
Roman Polanski wurde also nicht von der Schweiz an die US-Justiz ausgeliefert, sondern nach 296 Tagen Haft und Hausarrest überraschend freigelassen. Da seine Verhaftung 2009 vom Bundesstrafgericht als „rechtens“ bestätigt worden war, musste die Justizministerin sich nun die Frage gefallen lassen, ob die Freilassung „ein politischer Entscheid“ gewesen sei. Eveline Widmer-Schlumpfs diplomatische, aber im Ablauf aber aufschlussreiche Antwort lautete: „Idealerweise fällt man politische Entscheide, die rechtlich einwandfrei sind.“
Jedoch wie ideal ist der Entschluss der Schweiz, Polanski nicht auszuliefern? Dieser Mann, der sich seit 33 Jahren dem Prozess wegen – von ihm eingestandener! – oraler und analer Vergewaltigung einer 13-Jährigen entzieht?
Darauf hat die Schweizer Justizministerin zwei überraschende Antworten. Die erste lautet: Der 76-jährige weltbekannte Regisseur genieße in der Schweiz, wo er seit 2006 ein Chalet in Gstaad besitzt, quasi „Vertrauensschutz“. Schließlich sei er bisher nicht behelligt worden und darum auch am 26. September 2009 vertrauensvoll eingereist.
In der Tat hatte die US-Behörde Polanski, der 1978 vor dem anstehenden Prozess nach Europa geflohen war, bereits im Jahr 2005 wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen zur internationalen Fahndung ausgeschrieben. Es hätte für die Schweiz also schon früher Gelegenheiten zur Verhaftung gegeben. Warum also wurde erst im September 2009 gehandelt – vielleicht um die wg. der Steuerflüchtlinge verärgerte USA milde zu stimmen? Und warum wurde Polanski nun im Juli 2010 überraschend freigelassen – vielleicht um protestierende europäische Staatschefs (wie Sarkozy) und Intellektuelle nicht weiter zu verärgern?
Als zweiten Grund für die Freilassung des heute 76-Jährigen nennt die Justizministerin die „mangelnde Kooperation“ der US-Justizbehörde. Diese habe ein Protokoll vom 26. Januar 2010 nicht rausgerückt, nach dem Staatsanwalt Roger Gunson, der in den Siebzigerjahren für den Fall verantwortlich war, erklärt haben soll, der damals zuständige – und inzwischen verstorbene – Richter habe am 19. September 1977 mit ihm und Polanskis Anwälten abgesprochen, der Angeklagte wäre nach der Untersuchungshaft von 42 Tagen ein freier Mann.
Doch es ist zwar durchaus möglich, aber unmaßgeblich, ob das Gespräch am 19. September 1977 so stattgefunden hat oder nicht. Denn wenige Tage später, im Oktober 1977 landete ein Foto auf dem Tisch von Richter Laurence J. Rittenband, das den wegen der Filmfestspiele von Venedig in Europa weilenden Polanski auf dem Münchner Oktoberfest zeigte: mit einer Minderjährigen im Arm. Dieses Foto soll Richter Rittenband dazu bewogen haben, das Verfahren nicht einzustellen, sondern den Prozess anzuberaumen. Aber der Angeklagte bestieg am 1. Februar 1978 das Flugzeug nach Paris. Dort erhielt der Pole im Exil die französische Staatsangehörigkeit – Amerika hat er seither gemieden.
Dass Polanski über drei Jahrzehnte in Europa weder juristisch noch moralisch zur Rechenschaft gezogen wurde – obwohl er in Paris später mit der 15-jährigen Nastassja Kinski zusammenlebte und es auch danach nicht an einschlägigen Geschichten gemangelt zu haben scheint –, ist dem Zeitgeist der „sexuellen Revolution“ geschuldet, der das Recht der Starken zum Zugriff auf die Schwachen propagierte. Der Fall Polanski erregt jetzt erstmals auch in Europa Aufsehen, weil Opfer endlich ernst genommen und Täter als solche benannt werden.
Nun hat sich der als Regisseur auch von mir sehr geschätzte Polanski also ein zweites Mal der Verantwortung entzogen. Zu seinen Gunsten hatten viele seiner FreundInnen die schwere Kindheit des polnischen Juden angeführt: seine Flucht aus dem Warschauer Getto und das Überleben im Untergrund.
Als seien (männliche) Opfer nicht nur vielleicht besonders prädestiniert, sondern auf jeden Fall besonders berechtigt, zum Täter zu werden. (Die Familienforschung hat nachgewiesen, dass männliche Opfer dazu neigen, sich mit dem Täter zu identifizieren – und weibliche mit dem Opfer.)
Zuguterletzt also hat auch die tapfere Schweiz nachgegeben. Es gibt eben doch ein Zweiklassenrecht: Ein Priester, der sich an seinen Zöglingen vergreift, wird – zu recht – auch Jahrzehnte danach noch zur Rede gestellt. Ein berühmter Regisseur, der die Sehnsucht junger Mädchen brutal missbraucht, darf sich weiter feiern lassen. Rechtlich einwandfrei?
Alice Schwarzer
Der Text erschien zuerst im Schweizer Tages-Anzeiger.
Weiterlesen:
Leugnung der Machtverhältnisse (EMMA 3/2010)
Was Polanski und Röhl gemeinsam haben (NZZ, 14. Mai 2010)
Wie es geschehen kann (Editorial EMMA 2/2010)
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