Alice Schwarzer schreibt

Hatte Marianne Bachmeier recht?

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An seinem dritten Verhandlungstag machte Marianne Bachmeier, 31, die selber in ihrem Leben oft genug Opfer gewesen war, und die nun auch noch die Ermordung ihres Kindes hatte hinnehmen müssen, ihrerseits den Täter zum Opfer: Sie erschoß Grabowski mitten im Gerichtssaal mit sieben Schüssen. Was mag in ihr vorgegangen sein, als sie im Gerichtssaal tagelang das Schweigen des Mannes erlebte, der der Polizei gestanden hatte, die siebenjährige Anna Bachmeier in seine Wohnung gelockt und mit einer Strumpfhose seiner Freundin erwürgt zu haben? Was mag sie empfunden haben, als sie hören musste, dass Grabowski bei der Polizei auch noch das tote Kind belastet und behauptet hatte, er habe ihm eigentlich nichts tun wollen, die Tat sei lediglich eine Reaktion auf einen Erpressungsversuch des Kindes gewesen? (Anna hätte fünf Mark von dem Mann gefordert: sonst würde sie ihrer Mutter erzählen, daß er sie gestreichelt habe...). Was mag Marianne Bachmeier gedacht haben, als sie hörte, daß der 30jährige Metzgergeselle Grabowski zweimal einschlägig vorbestraft war-ein kleines Mädchen war seinen Würgeversuchen nur entkommen, weil es so laut geschrien hatte. Und: daß er sich freiwillig hatte kastrieren lassen und spä­ter von einem Arzt wieder mit aufbauenden Hormonen be­handelt worden war? Hat Marianne Bachmeier in die­sen Stunden vor der Tat auch an sich selber gedacht? An ihre ungewollten Schwangerschaf­ten im Alter von 16 und 18 Jah­ren? An die Vergewaltigung während der zweiten Schwan­gerschaft? Hat sie vielleicht so­gar immer wieder aufs neue durchgespielt, wie sie das Kind ausgerechnet an jenem Tage allein auf die Straße gehen ließ, weil sie mit sich selbst beschäf­tigt war...?

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Seit dem 5. März 1981 ist Ma­rianne Bachmeier (mit einer Woche Unterbrechung) im Ge­fängnis, in Untersuchungshaft. Sie hat in der Zeit fünf Selbst­mord-Versuche gemacht. Sie hat sich den vom Gericht gefor­derten und von ihren Anwälten vorgeschlagenen Gutachtern gestellt. Und sie hat Stern-Journalisten ihre Lebensgeschichte erzählt. Exklusiv. - Was auch immer dabei herauskommen mag: es bringt ihr zumindest das Geld für die Verteidigung. Vielleicht werden wir durch die Verhandlung und die Veröffent­lichungen mehr über Mariannne Bachmeiers ureigendste Be­weggründe für die Tat erfahren. Eine Tat, die ihr Kind nicht mehr lebendig, einen anderen Men­schen tot und sie selber krank gemacht hat (schon vor Mona­ten forderten die bestellten Amtsärzte die sofortige Entlas­sung Marianne Bachmeiers aus der U-Haft, da sie sonst „irrepa­rable psychisch-geistige Schä­den" davontrage). Sie ,,steht zu ihrer Tat", hieß es zunächst, und später: ,,sie schämt sich ja so". Eines wissen wir schon jetzt: Der Medienrummel um diesen ,,Prozeß des Jahres" wird uner­träglich sein, und ein jeder wird versuchen, den Fall für seinen Standpunkt zu mißbrauchen. Das Praktische am Fall Bach­meier ist nämlich die glatte Mi­schung von Mitleid und Selbst­gerechtigkeit, mit der man ihn überschütten kann... Und klatschträchtig ist das Ganze auch noch.

War sie in den ersten Tagen noch die in der Boulevard-Presse allseits bejubelte ,,Rache-Mutter", so verkam sie in den Augen gewis­ser Medien in den darauffolgen­den Wochen rasch zum für zu leicht befundenen Mädchen. Den einen war die Tat suspekt, den anderen der Lebenswan­del.

,,Das Bild der verzweifelten Mutter bekommt langsam Ris­se", konstatierte Springers Welt. Und emsig recherchie­rende Vor-Ort-Reporter wußten gar Gruseliges aus Lübeck zu berichten: Marianne Bachmeier sei Wirtin eines „merkwürdigen Lokals" in der Lübecker Alt­stadt: „Stammgäste in diesem Lokal sind Aussteiger und Abonnenten der kommunisti­schen Unsere Zeitung, die dort Einsatzpläne für Protestaktio­nen gegen Kernkraftwerke oder für Hausbesetzungen schmie­den. Auf einer Toilettentür des ,Tipasa' steht: .Unterstützt die Rote Armee Fraktion!'." (so die gutkatholische Kölnische Rundschau).

Und weiter wurde berichtet, daß die kleine Anna das dritte Kind der Bachmeier gewesen sei, die beiden ersten seien bei Groß­mutter und Adoptiveltern. Frau Bachmeier schließlich sei in ih­rem „auffallend bemalten Ka­stenwagen" in der Stadt herum­gefahren, während ihr Kind in die tödliche Falle geriet: „Es sieht nicht gut aus für die Mutter, die den Tod ihres vernachläs­sigten dritten, aber doch einzi­gen Kindes rächte" (Kölni­sche Rundschau). Die Bild-Zeitung fabrizierte gleich eine ganze Serie zum Fall Bachmeier („Die Mutter, die den Mörder ihrer Tochter er­schoß") und schwankt seither zwischen der bewundernswer­ten „Rache-Mutter" und dem zu verachtenden Flittchen („Ma­rianne Bachmeier und ihre Lie­besbriefe"...).

Die Selbstgerechten. „Ma­rianne B. hat einen Orden ver­dient!" jubelten Leser von Bild am Sonntag. Und: „Wer sich an Kindern vergreift, für den gibt es nur eines: die Todesstrafe!"-„Eine Frau sah rot!" meldete Welt am Sonntag und Schwester Bild bejubelte den „Geldregen für die Mutter!", den mitfühlenden Menschen für Marianne Bachmeiers Verteidi­gung gespendet hatten. Die FAZ sah den Moment ge­kommen, brillanten Geleit­schutz zu geben und rückte in die Berichterstattung über „die verzweifelte Mutter" einen Ka­sten folgenden Wortlauts ein: „Juwelier schießt zurück! - Den falschen Laden haben sich in Turin zwei Räuber ausgesucht, als sie am Freitag in ein Juwe­liergeschäft eindrangen: Das Geschäft gehört dem ehemali­gen italienischen Meister im Pistolenschießen, Edoardo Cortevesio. Der Meisterschütze zog bei dem Überfall blitzschnell die Pistole und gab mehrere ge­zielte Schüsse ab. Einer der Tä­ter sowie ein Passant erlitten tödliche Verletzungen." -Wahrhaft meisterhaft gezielt.

Die Gerechten. Sie erhoben warnend den Finger vor dieser Art von „Selbstjustiz". Gerhard Mauz vom Spiegel beklagte die „drei Opfer" (das Kind, den Sexualtäter und Marianne Bachmeier) in einem Atemzug und nannte den mutmaßlichen Mörder Annas und Annas Mut­ter (in ein und demselben Satz!) „Außenseiter der Gesell­schaft", die sich „gegenseitig umbringen".

Der wenige Monate nach der Affäre Bachmeier vielzitierte Hamburger Journalist Weilers­haus, dessen Tochter im Mai 81 einem Sexualverbrechen zum Opfer fiel, ging soweit, der Presse zu erklären, daß „wir (die Eltern) solche Menschen nicht hassen können und denen gegenüber keine Rachegefühle haben, weil sie Ergebnisse un­serer Gesellschaft sind. Sie sind die Folge unserer Art zu leben und zu erziehen." Wer sind das, „solche Men­schen", die Kinder ermorden? Abnorme? Randfiguren der Ge­sellschaft? Dunkle Gestalten? Mitnichten. In den meisten Fällen fallen die Kinder den -eigenen Eltern und Verwandten zum Opfer. Von 78 Morden an Kindern, die 1980 in der Bundesrepublik bekannt wurden, waren in 71 Fällen die ei­genen Eltern oder Familien­freunde die Täter... Da, wo es sich um Sexualver­brechen im engsten Sinne han­delt, sind die Täter bisher aus­schließlich Männer. Und das ist auch kein Zufall in dieser Gesellschaft, deren Machtverhält­nisse eine Frau leicht zur Masochistin, zur Selbstzerstörten de­formieren können und einem Mann die Karriere des Sadisten eröffnen. Auch ist es wohl kein Zufall, daß ausgerechnet eine Frau, die den Frauenpart der Demütigung und Schädung am eigenen Leibe im Überdruß er­fahren hat, ausbricht aus der Ohnmacht des Hinnehmens und - selbst zur Tat schreitet. Ja also zur Rache?, Ja zur Selbstjustiz?, Ja zur Todesstra­fe? - Nein. Ich glaube nicht an das juristische Recht auf Ra­che, weder für Individuen noch für eine Gesellschaft. Und für mich hat das Einsperren von Menschen nur da einen Sinn, wo es um den Schutz anderer geht. Ich glaube auch nicht an die Wirkung der Abschreckung. Ich bin gegen die Todesstrafe. In jedem Fall. Nur - ich bin auch gegen eine verschleiernd-psychologisierende Gleichmachung aller Op­fer á la Mauz (denn in dieser Reihe gibt es eben leider noch eine Hierarchie: gibt es noch die Opfer der Opfer!). Und ich kann auch nichts anfangen mit der jegliche eigene Betroffenheit wegrationalisierenden Objekti­vität der Eltern Wellershaus zum Beispiel.

Müssen wir hassen? Manch­mal ja. Vor allem da, wo wir Op­fer sind. Dem therapeutischen und persönlich nicht betroffe­nem Blick steht es gut an, zu nuancieren, alle Seiten des Problems zu sehen. Opfer aber haben das moralische Recht auf Einseitigkeit! auf Empörung! auf Gegenwehr! Eine solche Empö­rung ist Grundvoraussetzung für jedweden Versuch der Ver­änderung von Unrechtsverhält­nissen, privaten wie gesell­schaftlichen. - Das macht den Unterschied zwischen der Balleraktion des Juweliers, der sich in der Tat anmaßt, als Preis für ein paar Brillanten ein Men­schenleben zu nehmen, und den Ausbruch einer zutiefst Be­troffenen wie Marianne Bach­meier.

Daß dieses Recht auf Empö­rung im Falle Bachmeier dazu führte, daß ein weiteres Men­schenleben geopfert wurde, ist tragisch. Die wirkliche Schuld dafür ist jedoch nicht bei Ma­rianne Bachmeier zu suchen, sondern in der Moral einer Män­nergesellschaft, die die Schän­dung von Frauen und Mädchen für Gewohnheitsrecht hält. Und in den Spielregeln einer Män­nerjustiz, für die die Ermordung einer Frau wegen „verletzter Männerehre" Kavaliersdelikt ist (zu ahnden mit zwei, drei Jahren auf Bewährung), und die Not­wehr einer Frau „Heimtücke", die, wie alltäglich der Presse zu entnehmen, Lebenslänglich einträgt.

Es ist zu vermuten, daß Ma­rianne Bachmeier relativ glimpf­lich davonkommen wird. Die Stimmung ist trotzalledem ent­sprechend. Und das psycholo­gische Gutachten der renom­mierten Professorin Müller-Luckmann läßt die Verteidiger hoffen. Sie schreiben in ihrem -vergeblichen - Antrag auf Haft­verschonung: „Heute kann ge­sagt werden, daß die emotions-befrachtete Interpretation der Tat vom 6.3. 1981, wie sie das Landgericht im Beschluß vom 14.8. 1981 vorgenommen hat, keine Stütze im Gutachten der Frau Professor Müller-Luckmann findet. Man wird auch jetzt schon - vor der Hauptverhand­lung - Frau Bachmeier in der Beurteilung ihrer Persönlichkeit und Tat in jeder Hinsicht wohl­wollender gegenübertreten müssen."

Außerdem gibt es da seit August 1981 ein neues Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofes, das selbst für den Fall einer Verur­teilung wegen „Mordes" – was bei der Bachmeier bisher unter­stellten „Heimtücke", wegen Planung und Ausführung, so beliebige wie unausweichliche Konsequenz wäre - eine Hoff­nung für Marianne Bachmeier läßt: Das BGH nahm die „Blut­rache" eines türkischen Gast­arbeiters, der den Vergewaltiger seiner Frau, der gleichzeitig sein Onkel ist, erschoß, zum An­laß, das bisher bei Mord zwin­gende Strafmaß „lebensläng­lich" aufzuheben und zu befin­den: selbst bei Mord können in Zukunft „mildernde Umstände" gelten. Und zwar dann, wenn der Täter (die Täterin?) aus „großer Verzweiflung, tiefen Mitleid oder gerechtem Zorn" getötet habe. Dann sollen in Zu­kunft auch 3 bis 15 Jahre, statt lebenslänglich, möglich sein. Es ist kein Kunststück, voraus­zusagen, daß vor allem die aus „gekränkter Männerehre" mor­denden Herren der Schöpfung von dieser neuen Milde bei den sogenannten „Verbrechen aus Leidenschaft" profitieren wer­ den. Und es ist auch ziemlich klar, daß es kein Zufall ist, daß dem BGH solche neue Einsich­ten ausgerechnet im Fall eines rächenden Ehemannes kom­men. Aber vielleicht nutzt diese Regelung ja auch einmal einer Frau. Zu gönnen wäre es Ma­rianne Bachmeier von Herzen. Doch wie es auch immer ausge­hen wird: Kritik und Beifall für das Urteil wird selten aus den richtigen Motiven gespeist wer­den. Und wie auch immer es ausgehen mag: dieser Fall sollte Mahnung für Frauen sein, daß man Recht vielleicht nicht unbedingt erschießen, aber zumindest doch erkämpfen muß.

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