Scheinheiligkeit & Konsequenz
Die meisten Schweden halten das Bild, das die Bestseller-Autoren Stieg Larsson und Henning Mankell von ihrem Heimatland zeichnen, für völlig übertrieben. Bei Larsson („Millenium-Trilogie“) wie bei Mankell („Kurt Wallander“) tummeln sich hinter der Bullerbü-Fassade perverse Wirtschaftsbosse, die in Kellern Kinder foltern, oder korrupte Politiker, die Frauen kaufen.
Jüngst hatte die Wirklichkeit die Schreiber-Phantasien übertroffen: Der frühere Polizeichef Göran Lindberg – ein selbsternannter Feminist – wurde Ende Juli zu sechs Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt wegen mehrfacher Vergewaltigung (EMMA 2/2010). Die Verhandlung hatte man geschickt in die ersten Sommerferienwochen gelegt, kurz nach der königlichen Hochzeit.
Doch just in dem Moment, als man sich auf einen geruhsamen Sommer freute, trat der Arbeitsminister Sven Otto Littorin zurück. Eine anonym bleibende Ex-Prostituierte beschuldigte den Minister, vor vier Jahren „sexuelle Dienste“ bei ihr gekauft zu haben. In Schweden ist der Kauf sexueller Dienste jedoch strafbar. „Anna“, so nannte sie sich, sagte weiter, sie sei von der Lindberg-Causa inspiriert worden und habe genug davon, dass man die Großen immer laufen ließe. Littorin behauptete, die Frau nicht zu kennen, er sei nur zurückgetreten, um seine Familie vor einer medialen Schlammschlacht zu schützen.
Der „Bordell-Minister“ Littorin löste in Schweden eine viel breitere Debatte aus als das „Sexmonster“ Lindberg. Lindberg ist für viele ein perverser Einzeltäter, Littorin aber steht für den normalen Familienvater, der sich ab und zu einen Puffbesuch gönnt. An dem gefallenen Arbeitsminister entbrannte denn auch eine schwelende Grundsatzdiskussion: Wie wirksam ist das 1999 verabschiedete „Anti-Sexkauf-Gesetz“, das den Kauf sexueller Dienste strafbar macht, den Verkauf aber nicht? Den Freier also kriminalisiert, die Prostituierte aber schützt.
Das Gesetz genießt eine breite, wenn auch leicht sinkende Akzeptanz in der Bevölkerung – derzeit sind knapp 70 Prozent dafür – und ist zu einem international viel beachteten Paradebeispiel für den Schutz von Mädchen und Frauen in der Prostitution geworden. Im Zuge der Littorin-Affäre wurde das Gesetz nun von einer Koalition von Politikern der Linken und Liberalen in Frage gestellt. Argument: Beim Drogenhandel werde ja auch nicht nur der Käufer, sondern auch der Dealer bestraft. Und überhaupt: Laut mancher Statistiken habe die Prostitution in Schweden nach der Einführung des Gesetzes überhaupt nicht abgenommen.
Auch deklarierte Feministinnen wie Petra Östergren gehören zu den Kritikern. Sie beruft sich auf eine ultraliberale Position und fordert, der Staat solle sich aus dem Privatleben seiner Bürger raushalten. Das Prostitutionsverbot sei lediglich ein moralkonservativer Versuch, „alles Schmutzige, Nichtkonforme, Abartige“ aus Schwedens Kleinfamilienidyll zu entfernen und keine ernstgemeinte Anstrengung, sexuelle Ausbeutung grundsätzlich zu bekämpfen und Frauen zu schützen. Eine Legalisierung ähnlich wie in Deutschland sei sinnvoller.
Heftigkeit und Zeitpunkt der Kritik befremden. Denn just im Juli diesen Jahres brachte ein vom Parlament beauftragter Untersuchungsausschuss für Prostitution einen 300 Seiten starken Bericht heraus, der die Auswirkung des Anti-Sexkauf-Gesetzes zwischen 1999 und 2008 beleuchtet. Die Ergebnisse sind eindeutig: Die Straßenprostitution ist in diesem Zeitraum um rund 50 Prozent gesunken. Es ist nicht zur (prophezeiten) Kriminalisierung des Rotlichtmilieus gekommen. Und Schweden ist für den Menschenhandel – das so genannte Trafficking – heute „weniger attraktiv“ als Länder ohne Anti-Sexkauf-Gesetz. Zudem, so die Studie, verweise die hohe Akzeptanz des Gesetzes innerhalb der Bevölkerung darauf, dass sich die gesellschaftliche Haltung zur Prostitution grundlegend verändert habe.
Die Erhebung gibt zum Schluss eine eindeutige Empfehlung zum Handeln: Die Strafe für den Freier sollte von sechs Monaten auf ein Jahr ohne Bewährung angehoben werden. Und: Prostituierte sollen zukünftig als Kläger gegen ihre Kunden vor Gericht aussagen dürfen.
Für Gudrun Schyman, die bekannte unabhängige Politikerin und Feministin, bestätigt die Studie die Richtigkeit des Gesetzes: „Das Gesetz wurde verabschiedet, weil wir der Meinung waren, dass Prostitution auf gesellschaftliche Machtverhältnisse verweist, in denen Männer noch immer mehr Macht haben als Frauen.“ Befürworter wie Schyman kritiseren scharf das so genannte „deutsche Modell“, also die Legalisierung der Prostitution. „In Deutschland wurden zwar die Anbieter, nicht aber die Käufer von Sex problematisiert“, sagt Schyman. „Wir aber wollen auf die Ursache von Prostitution fokussieren, und die ist: die Nachfrage.“
Vielleicht lässt sich Littorins Abgang durchaus als Folge des Anti-Sexkauf-Gesetzes interpretieren. Noch 1977 war die politische Lichtgestalt Olof Palme sogar nach dem Besuch bei einer minderjährigen Prostituierten verschont worden (während die Leiterin des Bordells verurteilt wurde!). Keiner glaubte damals einer Prostituierten, die sich anonym in einer Zeitung äußerte.
Heute muss ein Politiker abtreten, weil man der Prostituierten glaubt.