Alice Schwarzer schreibt

Marleen Gorris' Welt

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"Alle meine Filme sind Träume“, sagt sie. „Die früheren waren eher Alpträume, doch ‘Antonias Welt’ ist ein Tagtraum.“ Für diesen „Tagtraum“ erhielt die niederländische Regisseurin 1996 den Oscar für den „besten fremdsprachigen Film“. Gorris – die von sich sagt „Ich bin ein Regisseur, der unter anderem eine Frau ist“ – ist die erste Frau, die diesen Oscar erhielt.

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Seit 1982 ist Marleen Gorris CineastInnen ein Begriff. Ihr erster Film, „Die Stille um Christine M.“, avancierte zu  einer Art feministischem Kultfilm. Die Story: Eine Handvoll sehr unterschied­licher Frauen, die sich zuvor nie gesehen hatten, bringen eines üblichen Tages in der Mittagspause einen Boutiquebesitzer um – er hatte eine von ihnen beim Klauen er­wischt und wollte sie anzeigen. Das grausame Gelächter der Frauen, die so abrupt aufgehört hatten stillezuhalten, spiegelte den verzweifelt-komischen Übermut dieser Zeit.

Zwei Jahre später folgte „Die gekaufte Frau“ (Originaltitel: Gebroken Spiegeles). Der Film verpaßte aufgrund zweideutiger Werbeplakate und Kinos in Deutschland sein Publikum, dabei war auch er ein  ungeheuerlicher Tabubruch. Die wissend und leidenschaftlich erzählte Story: Der ganz normale Frauenmörder, der abends am Familientisch sitzt, tagsüber arbeitet und zwischendurch Frauen zu Tode foltert und im Müllsack in die Gracht plumpsen läßt. Sein Bild von der Frau/der Spiegel zerbricht, als eines seiner Opfer sich nicht demütigen läßt und in Würde stirbt. Auffallend in diesem Film ist die Poesie und Menschlichkeit, trotz aller Klarsicht und Härte.

Für den dritten und vierten Film brauchte Gorris jeweils sechs Jahre und vor allem „die Kraft, die Finanzierung auf die Beine zu stellen“. Auch in „Antonias Welt“ geht es um die Gewalt der Männer  und die Würde der Frauen. Doch in dieser schwerblütig-heiteren Familiensaga  haben die Frauen das Sagen, trotz aller Widernisse. Es ist eine Geschichte über Liebe und Haß, Leben und Tod, (Groß)Mütter und (Enkel)Töchter.

Die sinnenfrohe, lebenskluge Antonia kehrt mit Tochter Daniell zurück in das Dorf ihrer Kindheit. Den beiden schlägt ein Schwall von Gewalt, Bigotterie und Verzweiflung entgegen – doch sie halten stand, ja werden zur rettenden Insel für weitere Außenseiter. Die (Jahres)Zeiten kommen und gehen, Antonias für alle  gedeckte Tafel auf dem Hof bleibt be­stehen – auch wenn immer wieder Schatten darüber fallen.

Marleen Gorris selbst ist 1948 in einem solchen Dorf zur Welt gekommen. Sie erzählt Antonias Geschichte kraftvoll, wissend und verträumt zugleich. Obwohl die Frauen­saga sich über ein halbes Jahrhundert und fünf Generationen spannt, behält sie die Fäden in der Hand. In einem Interview zum Film verrät die Autorenfilmerin, die einst Theater­wissenschaften studierte und immer auch ihre Dreh­bücher selbst schreibt, wie sie zum Filmen kam:Mit ihrem allersten Drehbuch, der "Stille um Christine M.", ging Marleen Gorris in den 70er Jahren zu Chantal Akerman ("Deren Filme ich sehr bewundere"). Die Belgierin hatte keine Zeit und ermutigte die Niederländerin, doch einfach selbst Regie zu führen - zum Glück.

Übrigens: Zur Zeit dreht Marleen Gorris mit Vanessa Redgrave die Verfilmung von Virginia Woolfs Roman "Mrs. Dalloway" - ein vielversprechendes Trio.

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