"Niemand hat mir gesagt, dass er ein Mörder ist"
Nicole Dill läuft an der Seepromenade in Luzern entlang. Die Schweizerin trägt dunkle Jeans, eine warme Jacke, den eisblauen Schal. Möwen kreischen. Der Himmel ist grau. Bald wird Laub auf den Gehsteigen wirbeln, der Duft von gebratenen Kastanien in der Luft liegen. Eine Jahreszeit die sie früher liebte, ist heute mit den Erinnerungen an die schrecklichste Nacht ihres Lebens verbunden. Im September 2007 wurde die damals 38-Jährige Opfer eines schweren Gewaltverbrechens, das sie nur knapp überlebte. Elf Stunden lang war sie dem Täter ausgeliefert, wurde gefoltert, vergewaltigt und mit einer Armbrust dreimal niedergeschossen.
Die Ärzte nannten ihr Überleben ein Wunder – Stunden nachdem die Halbtote in einer mehrstündigen Notoperation gerettet werden konnte. „Ich wurde in jener Nacht ermordet“, sagt Nicole Dill. „Das eigentliche Überleben begann erst mit dem Erwachen auf der Intensivstation“. Den Kampf zurück ins Leben bezeichnet sie als schwierigen und lang dauernden Prozess. „Das Bewusstsein, dass ein Mann alles mit mir machen konnte, was er wollte, hatte verheerende Auswirkungen auf meine Existenz“, sagt sie heute.
Hass, Angst, den Verlust des Vertrauens in andere Menschen und in sich selbst, setzten ihr nebst der physischen Genesung schwer zu. Es dauerte monatelang bis die Sachbearbeiterin wieder arbeiten konnte und sich wieder unter Menschen wagte. Noch heute lösen bestimmte Gerüche, Geräusche, Dunkelheit eine plötzliche Panik aus. Die frühere Sportlerin muss ihre Kräfte bis heute genau einteilen. Wenn es kalt ist, verkleben ihre Lungen und sie bekommt nur schwer Luft. Auch der Glaube an die Gerechtigkeit fällt Nicole schwerer als früher. „Bei dem Täter handelte es sich um einen bereits verurteilten Vergewaltiger und Mörder“, sagt sie. Sehr helle Augen blicken geradeaus. Dass ihr das niemand gesagt hat, hätte „wenn nicht mich, dann mit Sicherheit eine andere Frau das Leben gekostet“. Der Feind war Nicoles Freund. Und sie ahnt nicht, dass er ein Vergewaltiger und Serienmörder ist.
Der Sonntag vor fünf Jahren war strahlend blau. In einem Straßencafé trank Nicole Dill einen Kaffee, las die Zeitungen. Als sie bezahlen wollte, bedeutete ihr der Kellner, das habe der Herr am hinteren Tisch bereits getan. „Ich trat kurz an seinen Tisch, bedankte mich und wollte mich auf den Weg machen“, erinnert sie sich an die ersten Minuten der fatalen Begegnung. Roli A. verwickelt sie in ein Gespräch, fragt, ob er sie ein paar Minuten begleiten dürfe. Die geschiedene Frau – gut ausgebildet, selbstständig und beziehungserfahren – fand den Mann auf Anhieb sympathisch. Sie beschreibt ihn als „höflich, rücksichtsvoll, vielseitig interessiert, sehr gepflegt“.
Bei späteren Treffen erfährt sie, dass der 41-jährige Milchtechnologe geschieden sei, zu seiner Ex-Frau und dem gemeinsamen Kind keinen Kontakt pflege, sich auf Arbeitssuche befinde. Die Annäherung habe sanft stattgefunden. „Er ließ den Eindruck entstehen, dass er eigenständige Frauen mag und in Liebesdingen unkompliziert ist“, erinnert sich Nicole. „Als Meister der Verstellung gaukeln solche Männer Angepasstheit und Normalität vor. Es ist jedoch nur eine Frage der Zeit, bis es – in der einen oder anderen Weise – zu einer Eskalation kommt.“
Die ersten Monate der Beziehung verlaufen harmonisch. „In der ersten Verliebtheit verbringt man jede freie Minute zusammen. Ohne dass ich es bemerkte, räumte ich ihm so eine komplette Kontrolle über mich ein.“ Wenn Nicole hin und wieder eine Freundin zu einem Kaffee treffen will oder mit einer Arbeitskollegin ein Ski-Weekend plant, kommt es zu heftigen Diskussionen. Ist sie nicht permanent erreichbar, hinterlässt er Dutzende von Nachrichten, macht ihr riesige Szenen, lauert ihr auf. Die Unfreiheit, die mit seinen Ansprüchen einhergeht, stört sie zunehmend.
Als sie nach einer Übernachtung bei einer langjährigen Freundin ihr Auto zerstört vorfindet, beginnt sie zu ahnen, dass mit ihrem neuen Freund etwas nicht stimmt. In den folgenden Wochen beobachten sie ihn genauer, erkennt manipulative Züge und ahnt, dass hinter der Maske der Angepasstheit Gefährliches lauert.
Er hingegen spürt instinktiv, dass sie auf dem Rückzug ist und droht mit Suizid. Ab diesem Zeitpunkt versucht sie über seinen Hausarzt in Erfahrung zu bringen, ob die Haftstrafe, von der Roli A. erzählt hatte, in Zusammenhang mit seinem Benehmen stehen könnte. Der Arzt – er ist über die gewalttätige Vergangenheit des verurteilten Mörders und Vergewaltigers im Bilde – hält es für unangebracht, Nicole Dill die Wahrheit zu sagen.
Beunruhigt durch die Schilderungen der Frau verständigt er immerhin die Polizei. Die meldet sich bei ihr. Auch der Beamte weiß, um wen es sich bei Roli A. handelt, sagt aber nichts. Ihre Fragen wiegelt er ab mit dem Hinweis auf den „Persönlichkeitsschutz“ und „Datenschutz regelungen“. Falls es ernsthafte Probleme gäbe, solle sie die Notfallzentrale der Poli zei verständigen, so der lapidare und fatale Ratschlag des Polizeibeamten. Wenig später beendet Nicole die Beziehung mit einem langen Brief. Darin erklärt sie ihrem Freund, warum ihre Geschichte keine Zukunft haben könne.
Wenig später überwältigt Roland A. die Frau in ihrer Wohnung. Zunächst will er sich mit ihr zusammen umbringen und fährt in eine abgedichtete winzige Garage an seinem Wohnort. Zwei Stunden lang lässt er den Motor laufen, Ziel: Ersticken. „Als der Plan misslang, vergewaltigte er mich auf der heißen Motorenhaube“, erzählt Nicole. Anschließend schießt er die Frau mit einer Armbrust nieder, reißt zweimal den Pfeil wieder aus den tiefen Wunden, spannt ihn ein, schießt erneut. Die Geschosse verletzen Herz und Lunge schwer, der dritte Pfeil steckt vollständig in der Leber, als er sein gefesseltes und geknebeltes Opfer in den winzigen Kofferraum des Sportwagens wirft.
Eine furchtbare Odyssee beginnt. Nicole: „Ich rechnete in jeder Sekunde damit, zu sterben: bei einem Aufprall zu verbrennen, im Wasser zu ertrinken.“ Nach eineinhalb Stunden Irrfahrt, bei der sie vor Angst fast wahnsinnig wird, schleppt der Täter die schwer verletzte und kurz ohnmächtige Frau in seine Wohnung. Dort bedroht er sie, die mit höllischen Schmerzen paralysiert auf dem Bett liegt, über Stunden mit einem Messer. Nicole glaubt längst nicht mehr an eine Rettung, als sie es schafft, ihn zu überreden, seinen Therapeuten zu verständigen. Nicole schafft es sogar, kurz mit dem Therapeuten zu sprechen und zu sagen, sie sei schwer verletzt. Der Arzt hält es nicht für nötig, sofort eine Ambulanz zu verständigen. Erst als er sich 40 Minuten später vor Ort selbst vom Ausmaß der Katastrophe überzeugen kann, organisiert er Hilfe.
In einer komplizierten Notoperation wird Nicole Dill gerettet. Der Täter beendete sein Leben 48 Stunden nach der Tat in Untersuchungshaft. „Nicht die Reue darüber, was er mir antat, sondern die Angst vor der drohenden Sicherheitsverwahrung, die dieser erneute Mordversuch nach sich gezogen hätte, veranlasste ihn zum Suizid.“ Da ist sich Nicole Dill sicher.
Die nun endlich erfolgende Mitteilung der Polizei über die Vergangenheit ihres Ex-Freundes schockiert Nicole tief. Sie recherchiert nun auf eigene Faust. Sie trifft sich mit weiteren Opfern von Roland A., der – so erfährt sie – seit seiner Haftentlassung unzählige Male mit dem Gesetz in Konflikt geraten war und sich auffällig verhalten hatte. Doch weder die Todesdrohungen, die er gegen eine ehemalige Arbeitskollegin aussprach, noch die jüngsten Übergriffe auf eine Frau, die nur wenige Monate vor dem Beginn seiner Freundschaft mit Nicole Dill stattgefunden hatten, waren nach draußen gedrungen, obwohl die Frauen ihn angezeigt hatten. „Einmal wurde er zu einer Geldbuße verurteilt, einmal kurz in Untersuchungshaft gesetzt und nach wenigen Tagen mit Haftentlassungsauflagen entlassen, die nur ungenügend kontrolliert wurden“, zitiert Nicole Dill aus offiziellen Unterlagen, die sie aus ihrer Handtasche zieht.
Was Nicole Dill heute ebenfalls weiß: Seinem langjährigen Therapeuten berichtete Roli A. von seinen Eifersuchtskrisen in der Beziehung mit ihr. Obwohl der Experte von der Vergangenheit seines Patienten, dessen Therapieresistenz und seiner Unfähigkeit, Frustrationen innerhalb einer Partnerschaft zu ertragen, wusste, verzichtete auch er auf ein klärendes Gespräch mit der ganz offensichtlich in Gefahr schwebenden Nicole Dill.
Aufgrund des vorletzten Übergriffs aus dem Jahr 2006 war allerdings ein neues forensisch-psychiatrisches Gutachten zu Roland A. in Auftrag gegeben worden. Es ging im Januar 2007 beim zuständigen Amt in Luzern ein und enthielt brisante Neueinschätzungen. In diesem vielseitigen Schreiben hielten die Psychiater fest, dass Roli A. eine Gefahr für die Menschen, im Speziellen aber für Intimpartnerinnen darstelle. Er wird in diesem Gutachten als „therapieunwillig“ bezeichnet. Bis zum Schluss seiner vorzeitigen Haftentlassung habe er seinem Therapeuten erzählt, das erste Vergewaltigungs- und Mordopfer sei an der Tat selbst schuld gewesen und er könne auch keine Garantie abgeben, dass so etwas nicht erneut geschehen könnte.
Roland A.s bedrohliches, aggressives Verhalten – bisher als Störung der Impulskontrolle interpretiert – wird in dem aktuellen Gutachten durch den Forensischen Dienst der Luzerner Psychiatrie so beurteilt: „Es entspricht vielmehr dem, was man als kalte instrumentalisierte Gewalt bezeichnet“. Beim Angeschuldigten liege eine schwere Störung des Verhaltens und des Charakters vor, welche nicht auf eine Schädigung des Gehirns zurückzuführen sei.
Die Experten kamen zum Schluss, dass Rückfallgefahr bestehe. Der begutachtende Psychiater empfahl erneut eine Psychotherapie, verband diesen Vorschlag aber mit der Einschränkung, eine Änderung der Persönlichkeit sei nicht zu erwarten und aus diesem Grund sei gegen den gleichzeitigen Vollzug einer Freiheitsstrafe nichts einzuwenden.
Auch dieses Gutachten blieb ohne Konsequenzen. „In den folgenden Monaten war Roland A. weiterhin auf freiem Fuß und konnte sich in aller Ruhe auf sein neues Opfer konzentrieren: auf mich“, klagt Nicole Dill.
Heute stellt die Überlebende öffentlich unbequeme Fragen: Wieso ist ein therapieunwilliger Mörder, der alle Chancen auf Besserung in den Wind schlägt und in Freiheit erneut auffällig wird, weiterhin auf freiem Fuß? Wieso reagieren die Instanzen nicht, wenn ein aktuelles Gutachten negativ ausfällt? Vor allem aber fragt sie: „Warum erhielt ich die lebensrettenden Informationen nicht, als ich mich um Klarheit bemühte?“
Insbesondere der Polizeibeamte, der ihre Sorgen so herunterspielte, dass es sie beinahe das Leben gekostet hätte, konnte bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen werde. Obwohl Schweizer Beamte sich vom Amtsgeheimnis entbinden lassen können, wenn ein Mensch in Gefahr schwebt, schätzt ein Schweizer Strafrechtsprofessor die Chancen einer Klage als gering ein. Er sieht das Problem im Umstand, dass Nicole Dill dem Gericht hätte glaubhaft machen müssen, dass sie von der dunklen Vergangenheit ihres Ex-Freundes nichts gewusst habe.
„Wie absurd“, sagt die Betroffene. „Indem man meine Glaubwürdigkeit erneut hinterfragt, wird verhindert, dass ich wenigstens im Nachhinein zu meinem Recht komme“, klagt Nicole. „Man deutete an, ich würde übertreiben oder lügen“, sagt sie. Dass sich Beamte und Ärzte bis heute mit seltsamen Erklärungen, darunter dem Verweis auf das „Arztgeheimnis“ und die „Persönlichkeitsrechte“ des Täters aus der Verantwortung ziehen können, bekräftigt Nicoles Enttäuschung. Aber auch ihren Willen, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. Eine Staatshaftungsklage gegen den Kanton Luzern ist in Vorbereitung.
Als Initiatorin einer Anlaufstelle für Gewaltopfer und Gründerin einer Selbsthilfegruppe für Gewaltopfer engagiert Nicole Dill sich heute für die Anliegen der Zürcher Opferschutzcharta. „Es kann nicht sein, dass ein Verbrecher mehr Rechte hat als die Bevölkerung, die vor ihm geschützt werden müsste“, sagt sie. „Der Opferschutz muss Vorrang vor dem Datenschutz haben“, findet auch der renommierte forensische Psychiater Frank Urbaniok. „In diesem Sinn müssten die Daten über schwere Gewaltverbrecher den Verantwortlichen aus den verschiedensten Bereichen zugänglich sein. Und sie sollten im Sinne des verbesserten Opferschutzes auch ohne Spezialbewilligungen weitergegeben werden dürfen“ (siehe auch das Interview "Heilung ist nur selten möglich").
„Mein Angreifer wollte meine Vernichtung: Das letzte Wort in dieser Sache werde aber ich behalten“, erklärt Nicole Dill heute. Vor einem Jahr heiratete sie. Andi, ihre „große Liebe“. Kennengelernt haben sich die beiden in der schwersten Zeit ihrer Genesung. Söhnchen Cyrill kam vor knapp einem Jahr zu Welt. Vergessen kann Nicole trotzdem nicht.
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