Das Volk hat nicht immer recht

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Die Frauen haben in der arabischen Revolte ab 2010 eine entscheidende Rolle gespielt. Jetzt, nach anderthalb Jahren, sind sie die großen Verliererinnen der Revolution. Was ist passiert?

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Sowohl in Tunesien wie in Ägypten war von Anfang an klar, dass es nur um den Sturz der Regierung ging. Obwohl die Revolte von einfachen Leuten losgetreten worden war, die aus Armut und Verzweiflung auf die Straße gegangen waren, ist sie zu einem Sieg rechter Kräfte geworden, die unter dem Deckmantel der Religion agieren. Nach der Quasi-Eliminierung der linken Parteien und Gewerkschaften sind die religiösen Fundamentalisten in Tunesien und Ägypten die einzigen verbliebenen organisierten Kräfte. Sie haben die berechtigte Unzufriedenheit der Menschen manipuliert und sich an die Spitze der Bewegung gesetzt. Dabei waren die tunesischen und ägyptischen Regimes nicht mehr oder weniger demokratisch als die Mehrheit der Regierungen auf der Welt. Dennoch hat das Argument, sie seien „undemokratisch“, diese Regierungen gestürzt – unabhängig von dem, was folgen würde.

Algerien ist für all das ein gutes Exempel. Wir hatten seit Jahrzehnten eine schleichende Islamisierung. Auch die Gewalt stieg von Jahr zu Jahr. In dem von den Fundamentalisten angezettelten Bürgerkrieg in den 1990er Jahren starben rund 200000 Menschen: Intellektuelle, Journalisten und Künstler wurden individuell ins Visier genommen und abgeschlachtet; ganze Dörfer wurden von den bewaffneten Fundamentalisten niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht; doch die bevorzugte Zielscheibe dieser marodierenden Banden waren Frauen: Sie wurden gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt, gezielt geschwängert und in Scharen ermordet.

Aufgrund dieser Erfahrungen mit den Fundamentalisten begriffen die Algerierinnen von Anfang an, was sich da in Tunesien und Ägypten anbahnte. Doch unsere Warnungen wurden nicht beachtet – schlimmer noch: Man beschuldigte uns der Komplizität mit den alten Regimen. Wir müssen also über das Prinzip von Wahlen nachdenken: Ob sie das einzige Kriterium sein können, an dem eine Demokratie gemessen wird. Das hieße ja, dass Hitler ein Parade-Demokrat wäre, schließlich wurde er vom „Volk“ gewählt.

Das Volk ist auf die Straße gegangen und hat Veränderungen gefordert, aber die populistische Rechte hat diese Bewegung auf ihre Mühlen gelenkt. Sie waren geschickt genug, sich am Anfang zurückzuhalten, aber sie war da. Und sie hatte genug ausgebildete Kräfte und Geld (das sie großzügig ans Volk verteilt haben), um die Proteste zu kanalisieren. Doch ein legitimer Volksaufstand kann auch der extremen Rechten den Weg bereiten – im Fall von Tunesien und Ägypten den religiösen Fundamentalisten, also der extremen Rechten unter dem Deckmäntelchen der Religion.

In den Regimen von Mubarak und Ben Ali hatten die Frauen bemerkenswert viele Rechte. Die sind jetzt bedroht.

Unglücklicherweise haben die Frauen sich geweigert, die Gefahr zu sehen – bis es zu spät war. Eine schlichte Aufzählung der von den Fundamentalisten bereits zwischen dem Sturz von Ben Ali und dem Vorabend der Wahlen begangenen Verbrechen sagt eigentlich schon alles: gewalttätige Attacken auf friedliche Demonstrantinnen, sexuelle Übergriffe auf den Demos, Prügel in Bars für Alkohol trinkende Männer, bewaffnete Hausdurchsuchungen nach Alkohol; Frauen am Strand, die mit Gewalt und gezogenem Gewehr nach Hause getrieben wurden, Bedrohungen „unbedeckter“ Frauen, Theatersäle und Fernsehstationen in Flammen, weil sie „unislamische“ Filme gezeigt hatten … etc. All das passierte in Tunesien schon, bevor diese Fundamentalisten gewählt wurden. Warum sich also erst jetzt darüber aufregen? Danach wurde prompt die Zwangsverschleierung eingeführt und die Universität besetzt.

Die algerischen Feministinnen hatten die Tunesierinnen gewarnt. Die haben abgewinkt und geantwortet: Tunesien hat eine bedeutend fortschrittlichere Gesellschaft als Algerien, bei uns kann so etwas nicht passieren. Was mich an die vergebliche Warnung der Iranerinnen an die Adresse der Algerierinnen erinnert – auch wir haben sie in den Wind geschlagen. Jetzt warnen wir die Senegalesinnen. Und auch die antworten uns: „Aber nein. Doch nicht bei uns! Wir sind liberal und haben fortschrittliche Gesetze.“ Anscheinend kann man nichts lernen aus den ­Erfahrungen der anderen.

Es ist übrigens bemerkenswert, dass in ganz Europa, in den Regierungen, den Medien, unter den Menschen, immer von „den Muslimen“ gesprochen wird. Dabei erklären zum Beispiel in Frankreich 25 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, die muslimischen Ursprungs sind, sie seien Agnostiker bzw. Atheisten. Mehr noch: 85 Prozent der Muslimstämmigen praktizieren ihre Religion kaum noch, so wie die Christen. Den Rassisten passt das natürlich nicht, denn es stellt ihre „Islamophobie“ infrage. Die hat ja nicht gläubige Muslime im ­Visier, sondern „Fremde“, Menschen, die von woanders herkommen.

Und was haben die Frauen in den islamischen Ländern zu verlieren?

In Tunesien waren die in den 1950er Jahren von Bourguiba eingeführten Gesetze wirklich frauenfreundlich. Frauen hatten die gleichen Rechte und wurden vor ihren Männern und Familien geschützt. Die Frauenorganisationen haben in der Folge erfolgreich dafür gekämpft, dass diese Rechte noch erweitert wurden. In Ägypten hatten die Frauen weniger Rechte, aber immer noch mehr als die meisten Frauen in der Region.

Aber wie ist es zu erklären, dass selbst die fortschrittlichen Kräfte in der Welt gegen dieses Vorgehen der Fundamentalisten nicht protestiert haben?

Es ist interessant zu beobachten, dass die internationalen Medien durchaus berichten, wenn die Linke Opfer imperialistischer Repressalien wird. Aber wenn Frauen und Kommunisten Opfer der Fundamentalisten werden, bleiben die Täter „Volkshelden“.

Am 8. März 2012 wurden die Frauen in den Straßen in Kairo von Männerhorden verhöhnt und angegriffen, sie sollten sich „anständig bedecken“ und „nach Hause gehen“. Ganz wie anno 1979 in Iran.

Es ist erstaunlich, dass die Welt erst jetzt auf die Übergriffe auf die Frauen aufmerksam wird, obwohl die doch vom ersten Tag der Revolten an an der Tagesordnung waren. In Ägypten sind zahlreiche Frauen von Demonstranten auf dem Tahrir-Platz vergewaltigt worden – und auf der Wache gleich noch mal von Polizisten. Hunderte von Frauen wurden einem „Jungfrauentest“ unterzogen und halbnackt fotografiert. Das alles ist schon vor über einem Jahr passiert. Warum wird es also erst jetzt thematisiert? Hat etwa die traditionelle Anti-Staats-Haltung und Volksgläubigkeit der Linken dazu geführt, dass man die Muslimbrüder und andere Rechte in den Reihen des Aufstands nicht sehen wollte? Verlieren diese Leute erst jetzt ihre Immunität in den Augen der Linken – jetzt, wo sie an der Macht sind?

Nach der Herrschaft des Schahs im Iran, Saddam Husseins im Irak, Gaddafis in Libyen und nun Assads in Syrien wurden die Menschen von bewaffneten Fundamentalisten physisch ausradiert, und ihre eh schon mageren Freiheiten gänzlich gestrichen – alles unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Tyrannen. In allen Fällen hat der Imperialismus mit seinen Medien die jeweils rückschrittlichsten Kräfte unterstützt.

Erinnern wir uns, wie am Tag, an dem die Übergangsregierung in Libyen an die Macht kam, das bestehende Rechtssystem außer Kraft gesetzt und die „Scharia“ eingeführt wurde – was immer sie darunter verstehen. Während die ganze Welt die libysche „Demokratie“ feierte, haben die neuen Herren die Autokratie eingeführt. Aber da haben keine „demokratischen Stimmen“ die Verurteilung dieser Antidemokraten gefordert. Nur ein paar Frauen in den islamischen Ländern haben die Stimmen erhoben, aber sie sind isoliert. Frausein bedeutet allerdings nicht automatisch, fortschrittlich zu sein. Das sehen wir an der steigenden Zahl der Frauen in den Reihen der Fundamentalisten. Und auch früher gab es ja Frauen in den Reihen der Rechten, bei den Nazis in Deutschland oder den Faschisten in Italien. Um die Rechte der Frauen zu schützen und voranzubringen, benötigen wir nicht nur einfach Frauen, wir brauchen fortschrittliche Feministinnen und starke feministische Organisationen sowie bewusste Männer an der Spitze solcher Bewegungen.

Die feministische Bewegung der 1970er Jahre kam aus der Linken, wo die Frauen zu recht enttäuscht waren vom linken Patriarchat. Aber sie blieben dennoch links. Das ist heute kaum noch der Fall. Wir müssen also in den Reihen der Feministinnen wieder eine nicht patriarchale, fortschrittliche Kultur entwickeln. Das ist unerlässlich, wenn wir eine Strategie entwickeln wollen für Frauen in Volksaufständen.

Mehr zum Thema
www.wluml.org
www.siawi.org
 

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