Ist das euer Ernst,Genossen?

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Susanne Hagemann, langjähriges ver.di-Mitglied, hat ein paar Fragen an den ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirkse über "Sexarbeit".

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Liebe Kolleginnen,
mit Entsetzen habe ich zur Kenntnis genommen, dass ver.di beabsichtigt, die erste deutsche – und international gesehen – die zweite Gewerkschaft zu sein, die Prostituierte vertritt. Nun ist es auch mir ein wichtiges Anliegen, die Situation von Prostituierten zu verbessern. Das kann aber nach meiner Kenntnis der Tatsachen nur in Form von ausstiegsorientierten Angeboten erfolgen. Hier Perspektiven zu schaffen, so zum Beispiel die Problematik der Sozialversicherungssysteme in dem Sinne zu lösen, dass der Zugang zu Berufsbildungsmaßnahmen etc. ohne vorherige Leistungserbringung als Menschenrecht konstituiert wird, ist wichtig.
Eine angebliche „Freiwilligkeit“ in der Prostitution zu behaupten und gesetzlich eine „Normalität“ zu konstituieren, halte ich dagegen für fatal. Denn von Aussteigerinnen wird immer wieder berichtet, dass sie sich in der Phase ihrer Prostitution in einem Prozess des Selbstbetrugs befanden (daher das oft so überzeugend „selbstbewusste“ Auftreten, das auch ein Herr Bremme, der ver.di-Fachbereichsleiter Besondere Dienstleistungen, laut Presseberichten bewundert).
Zahlreiche regionale und internationale Studien, auch der Vereinten Nationen, weisen darauf hin, dass etwa 90% aller Prostituierten als Kinder Opfer sexueller Gewalt wurden. Die Prostitution ist für viele betroffene Frauen in tragischer Weise die erste rela­tiv machtvolle sexuelle Situation: Sie sagen, was sie „anbieten“, und sie tun es nur für eine Gegenleistung. Soweit die Idee – die Praxis sind fortgesetzte Zuwiderhandlungen, Demütigungen, bis hin zu Vergewaltigungen durch Freier und Zuhälter, vor allem aber der beständige „Verrat“ am eigenen Körper. Die Unterdrückung oder Korrumpierung der eigenen Sexualität führen früher oder später bei allen betroffenen Frauen zu schweren psychischen Störungen; berichtet werden massive Ekelgefühle, zwanghaftes Duschen, dissoziative Zustände, Verlust der körperlichen Sensibilität, emotionale Taubheit, Depressionen, „sexuelle Funktionsstörungen“, diverse Somatisierungsstörungen, Suchterkrankungen und vieles mehr (dieselben Symptome, wie sie bei der posttraumatischen Belastungsstörung auftreten).
Ein zentrales Problem in der Prosti­tu­ti­ons­diskussion ist immer wieder das Ausblenden der Verursacher des Problems: der Freier.
Sie bestimmen den Markt (je jünger, desto besser), die Bedingungen („Nachfrage“ nach schmerzhaften, ekelhaften „Leistungen“ wie Fäkalien etc.) und das Ausmaß (der „Nachschub“ muss gewährleistet sein). Eine Prostituierte kann noch so „selbstbewusst“ bestimmte „Leistungen“ ablehnen – wenn sie im Geschäft bleiben will, muss sie Zugeständnisse machen; zumal, wenn sie in die Jahre kommt. Denn die „Nachfrage“ ist da, und zerstörte Personen, die alles anbieten, setzen die Standards, erzeugen Konkurrenzdruck. Und wo sich niemand „freiwillig“ findet, floriert der Menschenhandel.
Wenn wir als Gesellschaft akzeptieren, dass Sexualität prinzipiell käuflich sein kann, werden wir die Nachfrage und damit den Menschenhandel in jedem Fall verstärken. Beispiele dafür gibt es reichlich, denn es gibt ja bereits Erfahrungen mit der „Legalisierung“ von Prostitution – im Staat Victoria, Australien, zum Beispiel seit 1984. Gewalt in der Prostitution und Menschenhandel haben dort nicht nur nicht ab-, sondern vielmehr drastisch zugenommen. Gleichzeitig sind Zuhälter/Bordellbesitzer dort jetzt angesehene Leute, werden ihre „Geschäfte“ an der Börse gehandelt.
Wir akzeptieren auch nicht, dass sich Drogensüchtige oder suizidale Depressive selbst zerstören – warum sollten wir Frauen noch dazu ermutigen, sich in der Prostitution zu ruinieren, indem wir vom „Arbeitsplatz Prostitution“ schwadronieren?
Als sehr negativer Effekt ist daneben die weiter desorientierende Wirkung auf die Sexualitätsentwicklung aller Menschen zu sehen: Es als „normal“ einzustufen, wenn Männer in Frauen onanieren, wenn die Lust eines Sexualpartners völlig unwichtig ist für einen „sexuellen“ Vorgang (wie es sonst nur bei der Vergewaltigung der Fall ist), dürfte die schon aktuell von SexualforscherInnen festgestellten Befunde der Entsexualisierung von Partnerschaften und Ver­lagerung „sexueller“ Kontakte der Männer auf Prostituierte weiter verstärken (aktu­ell wird von zwei Dritteln der deutschen Männer als regelmäßige Freier ausgegangen). Die massive sexuelle Desorientierung einer ganzen Gesellschaft durch Pornografie und Prostitution – über deren enge Vernetzung und Kooperation miteinander sowie mit dem organisierten Verbrechen ebenfalls aufschlussreiche Berichte und Studien existieren – nimmt letztlich allen Menschen ihre gesunde Sexualität.
Wir müssen als Gesellschaft vermutlich damit leben, dass wir Missstände und Verbrechen nie ganz aus der Welt schaffen können. Wir müssen aber Position zu der Frage beziehen, wie wir damit umgehen. Wollen wir sexu­elle Gewalt an Kindern erlauben, weil wir sie nicht abschaffen können? Das gilt auch für Mord. Von der Sklaverei wurde einst Ähnliches behauptet; heute gilt sie als abgeschafft. Wir wissen zwar: Sie existiert fort. Aber nicht mehr als „akzeptierte Tradi­tion“, sondern als organisierte Kriminalität. Und das funktioniert nur deshalb, weil so viele Menschen achselzuckend zusehen – oder davon profitieren. Wie in der Prostitution – wo sich jetzt auch der Staat zum Zuhälter macht, da er schon lange scharf ist auf die Einnahmen. Und ver.di?
Übrigens: In Schweden erhalten Prostituierte ausstiegsorientierte Beratungsangebote; die Prostitution ist seit 1999 gesetzlich abgeschafft, jedoch nicht durch Kriminalisierung der Frauen, sondern des Freiertums: „Wer sich gegen Vergütung eine zufällige sexu­elle Beziehung beschafft, wird – wenn die Tat nicht mit einer Strafe nach dem Strafgesetzbuch belegt ist – für den Kauf sexu­eller Dienste zu einer Geldstrafe oder zu einer Gefängnisstrafe von im Höchstfall sechs Monaten verurteilt.“ Die Idee ist, dass es nicht zu einer humanen, demokratischen (und schon gar nicht zu einer gleichberechtigten) Gesellschaft passt, wenn Sexualität käuflich ist. Vorausgegangen ist eine lang­jäh­rige Informationskampagne – die in deut­lichem Gegensatz steht zur Desinformation durch deutsche PolitikerInnen und Medien. Zur Einführung des Gesetzes haben die schwedischen Gewerkschaften applaudiert. Und ver.di?
An meine Mitfrauen bei ver.di habe ich zwei Fragen:
1. Mag sein, dass ich das publik nicht immer ausreichend genau lese, aber es ist mir als Gewerkschaftsmitglied völlig entgangen, dass in einer derart zentralen Lebens­frage derart fragwürdige Entscheidungen getroffen wurden. Auf der Grund­lage welcher Informationen/Diskussionen/Mitgliederentscheide ist die Idee „Arbeitsplatz Prostitution“ beschlossen worden?
2. Ist ein Umdenken in dieser Frage noch möglich? Könnte in eine seriöse Diskussion der Thematik eingetreten werden?
Mit hochgradig irritierten,
kollegialen Grüßen
Susanne Hagemann, Schleswig,
Mitglieds-Nr. 5552864828

Liebe Kollegin Hagemann,
Ihre Mail haben wir weitergeleitet an ­publik, die, wenn nötig, noch mehr zu den Motiven ihres Artikels sagen können und an unser Ressort 19, das für die Betreuung dieses Mitgliederbereiches zuständig ist.
Aus frauenpolitischer Sicht sage ich, dass es wichtig ist, an die Frauen, die durch Gewalt gezwungen sind oder sich auf Grund vermeintlich auswegloser Lebensumstände gezwungen sehen, sich zu prostituieren, aus dem dunklen und rechtlosen Bereich herauszuholen, in dem Prostitution heute meist stattfindet. Der erste Schritt dazu ist, das Totschweigen darüber, dass, ob es uns passt oder nicht, Prostitu­tion stattfindet, zu beenden und den Frauen Rechtssicherheit und sozial abgesicherte Lebensumstände zu ermöglichen, um ihnen Zugang zu Beratung zum Ausstieg und geför­derten sozialen und beruflichen Alternativen zu verschaffen.
Es geht hier nicht um Verharmlosung von Prostitution, sondern um Stärkung der Prostituierten, in dem wir ihnen helfen, zu erkennen, dass sie Bürgerinnen- und Arbeit­nehmerinnenrechte haben und wir ihnen helfen, wenn ihnen diese, wie in der zurückliegenden Zeit, verweigert werden.
Mit freundlichem Gruß
Vera Morgenstern

Liebe Kollegin Morgenstern,
leider reden wir offenbar aneinander vorbei. Wie Sie meiner Mail doch entnehmen konnten, bin ich dafür, „das Totschweigen darüber, dass, ob es uns passt oder nicht, Prostitution stattfindet, zu beenden“. Die Formulierung „ob es uns passt oder nicht“ zeigt mir aber, dass Sie mir offenbar eine gewisse Naivität unterstellen. Offen gesagt sehe ich die Naivität auf Seiten derer, die glauben, es verbessere die Situation prostituierter Frauen, BordellbetreiberInnen zu ange­sehenen UnternehmerInnen zu machen.
Es wird viel auf die „Freiwilligkeit“ von Prostitution hingewiesen, aber nie thematisiert, dass in jedem Falle, auch dort, wo kein äußerer Zwang durch eine andere Person existiert (oder nachgewiesen werden kann), die Gewaltdimension eine Rolle spielt.
Die gesellschaftspolitischen Auswirkungen einer Akzeptanz des prostitutionellen Systems halte ich für dramatisch und fatal. Mir ist rätselhaft, wie es passieren konnte, dass wir Feministinnen in dieser Frage gespalten wurden. Den Anspruch, eine „Sexu­alität“ zu überwinden, die auf der Selbstverleugnung von Frauen basiert und einen einseitigen Lustgewinn beim Mann toleriert, habe ich immer für einen der wichtigsten des Feminismus gehalten. Daher ist das prostitutionelle System in keiner Weise gesellschaftlich akzeptabel.
Ihrer „Logik“, dass Prostitution nun mal stattfindet, entgegne ich erneut, dass viele Verbrechen gegen die Menschlichkeit stattfinden und dass es niemals akzeptabel sein kann, einen Missstand einfach wegen seiner zahlenmäßigen Dimension zur „gesell­schaftlichen Realität“ zu erklären und damit das massenhafte Stattfinden von Gewalt zum normativen Faktor zu erklären. Wollen wir als nächstes dem Drängen der Pädosexuellenszene nachgeben und „sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen“ erlauben, um den Kindesmissbrauch, der, „ob es uns passt oder nicht, stattfindet“, ebenfalls „aus dem dunklen und rechtlosen Bereich herauszuholen“?
Ihr Ansatz, „Prostitution“ zum Beruf zu erklären, verstärkt das Risiko für junge Frauen, in die Prostitution zu geraten: War schon bislang der Anteil an Frauen exorbitant hoch, die von „Partnern“, Zuhältern vom „Loverboy-Typ“ etc. in die Prostitu­tion gedrängt werden, so wird er sich, wie in Victoria, jetzt steigern – ist ja jetzt ein „Arbeits­platz“, und selbst manche Feministinnen sehen offenbar kein Problem mehr darin, dass es angeblich Frauen geben soll, die „freiwillig“ eine „männliche Sexualität“ bedienen, die ohne Lust der „Partnerin“ auskommt. Als „Dienstleistung“.
Ich halte das für den Tiefstpunkt des Feminismus – und damit auch für den bisherigen Tiefstpunkt unserer Gesellschaft. Die Hoffnung, BundesgenossInnen zu finden, die sich mit mir der internationalen feministischen Kampagne gegen die Verharmlosung des prostitutionellen Systems anschließen, gebe ich nicht auf.
Bitte lassen Sie uns im Dialog bleiben, auch wenn zur Zeit ein Dissens der Meinungen herrscht. Und zum Dialog gehört dann auch eine Antwort, die auf Argumente eingeht.
Ganz herzlichen Dank
und mit kollegialen Grüßen
Susanne Hagemann

P.S. Ich habe diese Mail „Cc“ an die Vorstandsmitglieder adressiert, weil für mich nach wie vor die Frage offen ist, wie offenbar ohne kontroverse Diskussion, also an der Mitgliedschaft vorbei, eine derartig wichtige Lebensfrage entschieden werden konnte, deren Auswirkungen die Beziehungen der Geschlechter zueinander betreffen und für künftige Frauengenerationen so ganz neue berufliche Perspektiven eröffnen …
Liebe Kollegin Hagemann,
an mich ist deine Mail weitergeleitet worden. Ich schreibe hier als der Verantwort­liche für die ver.di-Position. Gerne würde ich mich mit dir telefonisch über verschiedene Diskussionsthemen verständigen und dir auch die Historie der Positionierung darstellen. Damit vieles deutlicher wird, möchte ich dich bitten, die interessanten Themen zu diesem Thema auf unserer Webseite: www.arbeitsplatz-prostitution.de zu lesen.
Mit kollegialen Grüßen
Peter Bremme
Fachbereichsleiter
Besondere Dienstleistungen

Sehr geehrter Kollege Bsirske,
wie Sie meiner nachrichtlich an Sie gesandten Mail an die Kollegin Morgenstern entnehmen konnten, bin ich mit der ver.di-Position zum Thema Prostitution als „Dienstleistung“ nicht einverstanden. Ganz ausdrücklich hinterfrage ich auch das Zustandekommen der ver.di-Position und fordere, die der Tragweite des Themas ange­messene kritische Diskussion unter allen Mitgliedern nachzuholen. Zu einer kritischen Diskussion gehört dann auch die Würdigung bisher nicht zur Kenntnis genommener Argumente.
An Sie richte ich heute die ausdrück­liche Aufforderung, mir als Mitglied der Gewerkschaft, das Ihr Gehalt garantiert, schriftlich die Entscheidungswege transparent zu machen, die zur ver.di-Position in Sachen Prostitution geführt haben. Keinesfalls bin ich damit einverstanden, mir ledig­lich telefonisch von Herrn Bremme die „Historie“ darstellen zu lassen. Wenn alle Schritte legitim waren, spricht nichts gegen eine ausführliche schriftliche Darstellung, auch bzw. gerade wenn diese eventuell zeigen könnte, dass es nicht mit basisdemokratischen Prinzipien vereinbar ist, in wichtigen Lebensfragen einsame „Experten“-Entscheidungen zu treffen.
Prostitution ist nicht etwa das älteste „Gewerbe“, sondern die älteste Zumutung an Frauen und Kinder der Welt, zudem keinesfalls so alt wie die Menschheit, sondern lediglich so alt wie das Patriarchat.
Das prostitutionelle System festigt eine Art von männlichem ­Anspruch auf sexuelle Verfügbarkeit von Personen, deren Lust für den Vorgang nicht relevant ist. Es trägt über dieses Anspruchs-„Denken“ zu weiterer sexu­eller Gewalt in der Gesellschaft bei – im Gegensatz zur immer wieder kolportierten Auffassung, es verhindere diese. Es produziert unentwegt Opfer, und es setzt von vornherein Opfer voraus. Und ver.di beteiligt sich an dieser perfiden Form der sexuellen Gewalt.
Und während ver.di noch die „Prostitution aus dem Dunkel holen will, wo sie passiert“, vermittelt die Bundesagentur für Arbeit bereits Frauen an Bordelle. Noch vor einem halben Jahr prognostizierte ich Freundinnen, dass wir angesichts dieser Verharmlosungsstrategien vermutlich in spätestens zehn Jahren über „Zumutbarkeitskriterien“ ganz neu diskutieren müssen – falsch gedacht, viel früher.
Hier sind wir dann auch bei der Frage nach dem Timing für den nächsten Tabubruch: Vor zehn Jahren hätte sich niemand vorstellen können, dass wir heute diese Diskussion (?) führen; worüber reden wir in zehn Jahren? Neue Arbeitsverträge für Friseurinnen – mit oder ohne „sexuelle Dienstleistungen“? Einen Haarschnitt und einen „Blow-Job“? Verträge ohne „sexuelle Dienstleistungen“ wären natürlich immer ein klarer Vermittlungsnachteil und müssten zwangsläufig schlechter bezahlt werden. Was heute passiert, ist ein Damm­bruch – künftige Frauengenerationen wer­­den es Ihnen danken: Danke, Kollege Bsirske!

EMMA März/April 2007
Übrigends: Nach ver.di-Angaben auf EMMA-Anfrage ist bisher keine einzige "Sexarbeiterin" in der Dienstleistungsgewerkschaft organisiert.

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