Goldene Palme für Adèle: Spielberg
Outcastiger hätte es nicht zugehen können: Die glitzernde Goldene Palme, Europas renommiertester Filmpreis, ging gestern Abend an „La vie d’Adèle, chapitre 1 et 2“ (Adeles Leben, Kapitel 1 und 2). Am gleichen Tag waren in Paris erneut 150.000 Menschen gegen die längst verabschiedete Homo-Ehe auf die Straße gegangen. Die VerteidigerInnen dieses juste m ilieu, des „richtigen“ Lebens, würden den Film wohl so charakterisieren: „Ein Film über zwei Lesben, gedreht von einem Araber.“ Der Regisseur Abdellatif Kechiche ist Franco-Tunesier. Er zeigt uns wohl nicht zufällig gerade jetzt die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe zwischen zwei Frauen, bei der das körperliche Begehren eine zentrale Rolle spielt. „Große Gefühle und große Bilder“, schwärmten ausnahmsweise Publikum und Kritiker gemeinsam. Mehr noch: ein mutiger Film und eine mutige Entscheidung. Aus vielerlei Gründen.
Auf Homosexualität steht in islamistisch beherrschten Ländern die Todesstrafe, und im gesamten muslimischen Kulturraum ist sie noch ein totales Tabu. Dabei geht es in diesem Film eigentlich gar nicht vorrangig um das Geschlecht der Liebenden.
Kechiche hat keinen voyeuristischen „Lesbenfilm“ gedreht, auch wenn die leidenschaftlichen Sexszenen einen großen Raum einnehmen, sondern eine universelle Liebesgeschichte. Und seine Hauptdarstellerinnen scheinen diese Liebe nicht zu spielen, sondern zu leben.
Die im Film 17-jährige Adèle wird gespielt von der 19-jährigen Adèle Exarchopolous, eine sensationelle Neuentdeckung. Die von Adèle so leidenschaftlich geliebte Emma spielt Lea Seydoux, die in Frankreich geschätzt wird für ihren schauspielerischen Mut. Im Film begegnet Adèle nach einer kurzen Affäre mit einem Freund der schillernden Kunststudentin Emma mit den blauen Haaren in einer Lesbenbar.
Und dann beginnt das, was wir eine Amour fou nennen. Diese Wahnsinnslieben enden in Literatur und Film immer unglücklich. So auch hier. Aber die Liebe der beiden Frauen scheitert nicht am Geschlecht, sondern eher an ihrer unterschiedlichen Klassenherkunft, an verschiedenen Lebensstilen.
Steven Spielberg, der Präsident der diesjährigen Jury, in der auch Nicole Kidman saß, verlieh die Goldene Palme explizit an den Regisseur und seine beiden herausragenden Hauptdarstellerinnen. Und an einen Film, der alle Vermarktungsinteressen missachtet.
Schon die unverhüllten, leidenschaftlichen Liebesszenen des Films sowie seine Überlänge machen eine klassische, internationale Vermarktung unmöglich. Der Jury imponierte dieser Mut, einen in jeder Hinsicht so sperrigen Film zu machen. Der Preis ist also auch für „den Erhalt der Vielfältigkeit des Films“ (Spielberg).
„Adèle“ wird erst im Oktober in die Kinos kommen, dann vermutlich doch gekürzt. Was schade wäre, aber die Chance, dass wir den Film auch außerhalb von Frankreich zu sehen bekommen, erhöhen würde.
27.5.2013, EMMAonline