Pionierinnen in der Arktis

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Vor der Reise kamen die Reporter. Eine Frau auf ­Polarexpedition – das hatte es noch nie gegeben. Josephine Diebitsch Peary fuhr dorthin, wo noch kaum ein weißer Mensch gewesen war, in die Hocharktis; dorthin, wo sich auf den Weltkarten bislang nur eine große weiße Fläche ohne klare Umrisse befand. Josephines Entschluss, 1891 ihren Ehemann Robert E. Peary zu begleiten, hatte heftige Reaktionen ausgelöst. Einige Zeitungen hatten ihn dafür kritisiert, seine junge Frau den Gefahren des Nordens auszusetzen. Andere hingegen hatten befunden, Josephine müsse „wegen ihrer Schönheit, ihres Mutes und ihrer Jugend zur Königin der Expedition gekrönt werden“. 

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Man hatte sie aufgefordert, sich fotografieren zu lassen. Der Fotograf, der normalerweise Damen mit großen Hüten vor griechischen Säulen inszenierte, fand Gefallen an dem Auftrag. Er bat sie, passende Kleidung mitzubringen. Sie kam mit Pelzanorak und Gewehr. „Sehen Sie in die Ferne“, rief der Fotograf ihr zu. Ihre Locken kräuselten sich auf der Stirn. Die Zeitungen nahmen das Bild als Vorlage für ihre Illustrationen. Sie sah so jung ­darauf aus, so zerbrechlich. Und doch so mutig. Als ob sie schon dort gewesen wäre. Dabei ging die Reise doch gerade erst los. 

In den folgenden Monaten kommt ­Josephine Peary den Inuit so nahe wie noch kaum ein weißer Mensch vor ihr. Das Tagebuch, das 1893 unter dem Titel „My Arctic Journal“ erscheinen wird, wird zum ersten fundierten Bericht über das Leben der Polareskimos im Norden von Grönland. Während die Völkerkundler damals vor allem Körperbau und Schädelformen „wilder“ Völker vermessen, interessiert sich die in Maryland geborene Tochter deutscher Auswanderer für den Alltag der Menschen im grönländischen Eis. „Die Frauen ziehen normalerweise die Robbenlederstiefel und die Socken aus, wenn sie ins Haus kommen, so dass fast ihr ganzes Bein nackt ist, denn ihre Hosen sind nur bloße Röhren“, notiert sie. „Die Kinder werden durchgehend in der Kapuze getragen, egal, ob sie wach sind oder schlafen, und nur zum Füttern herausgenommen.“ Mehr als einmal ist Peary irritiert von dem, was sie sieht und erlebt. Als sie bei einer Übernachtung mit einer Inuit-­Familie in ihrem Iglu feststellt, dass die Rentierfelle flächendeckend mit Pelzkäfer-Kolonien belebt sind, von denen außer ihr aber niemand Notiz nimmt, kann sie ihren Fluchtdrang nur schwer unterdrücken. 

Eine weitere Herausforderung ist die ­Offenheit, mit der die Inuit mit ihrem Körper umgehen. Wird es ihnen im Haus der Familie Peary zu warm, entledigen sie sich schlicht ihrer Fellkleidung. Komplett. „Es ist also wahr, dass sie im Iglu fast immer ganz nackt sind“, schreibt Josephine in ihr Tagebuch, „und dass ­besuchende Eskimos, sobald sie einen Iglu betreten, alles ausziehen, so wie wir unsere Umhänge und Mäntel ablegen. Das wird von ­beiden Geschlechtern so gehandhabt.“ 

Josephine Pearys erste Reise in die Arktis wird nicht ihre letzte sein. So still, dass sie heute fast vergessen ist, hat sie sich in eine Männerdomäne geschlichen. Denn Arktis und Antarktis gelten bis heute als Regionen, wo der Mann Held sein kann. Das große Zeitalter der Pol-Entdeckungen, das Ende des 19. Jahrhunderts beginnt, fällt in die Epoche der Ersten Frauenbewegung. Auch die 1863 geborene Josephine, Tochter eines Linguisten und Absolventin des Spence­rian Business College, ist nicht bereit, sich mit der ihr qua Geschlecht zugeschrie­benen Rolle zu begnügen. In ihrer ­Abschiedsrede erklärt die 17-Jährige: „Kochen, waschen und bügeln, die unvermeidlichen Knöpfe annähen und in jeder freien Stunde blaue Pudel auf grünen Stoff sticken, wird als Rundgang durch die Pflichten und Freuden angesehen, die ausreichen sollten, die Zeit, das Herz und den Verstand einer Frau auszufüllen.“ Sie aber fordert: „Lasst zu, dass der Horizont der Frauen sich weitet, ihr Geist und ihre Seele bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten kultiviert wird!“ Elf Jahre später wird Josephine in der klirrend kalten Polarnacht an ihre eigenen Grenzen gehen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die Expeditionen zu den Polen in etwa das, was später die Reisen zum Mond wurden: Abenteuer, an denen alle Welt Anteil nahm. Dass Josephine Peary in die Arktis reiste, störte das Bild vom heldenhaften Mann. Bei ihrer zweiten Expedition 1893 brachte Josephine kurz vor Beginn der Polarnacht im Basislager sogar ihre Tochter Marie Ahnighito zur Welt. Aber wenn auch zarte Frauen und sogar Babys in der Arktis überleben konnten – dann konnte es so hart und entbehrungsreich dort doch nicht sein. 

Mitreisende Ehefrauen sind in der ­feministischen Geschichtsschreibung bislang eher wenig beachtet worden. So ist es fast vergessen, dass Josephine Peary eine frühe Vorgängerin hatte: Schon 1734 begleitete Maria Prontschischtschew ihren Mann auf die Große Nordische Expedi­tion von Emil von Bering in die sibirische Arktis und kam dabei ums Leben. Ihre Reisegefährten tauften auf der Taimyr-Halbinsel eine Bucht auf ihren Namen: Buchta Marii Prontschischtschewoi.

Ab 1898 haben vor allem auf Spitzbergen gelegentlich Frauen mit ihren Männern in der Arktis überwintert. Das waren die Frauen der Trapper, einfache Frauen, die aller Wahrscheinlichkeit nach nichts von Josephine Pearys Expeditionen auf der anderen Seite des Atlantiks wussten. Die ersten waren vermutlich Jetta Nisja und Anna Ediassen, die 1898 – also acht Jahre nach Josephine Pearys erster Reise – von Nordnorwegen aus mit ihren Männern zum Überwintern nach Spitzbergen aufbrachen. Weil es Jetta hart erschien, ihre dreijährige Tochter so lange zu anderen Leuten zu geben, kam das Kind mit. 

Mit Spinnrad und Wolle zogen sie, nachdem die letzten Sommergäste zurück in den Süden gereist waren, in das winterfest vernagelte Hotel am Adventfjord. Sie sangen Lieder, um sich die Einsamkeit zu vertreiben, machten Späße mit dem Kind und kämpften gegen Winterdepressionen und Skorbut. Alle überlebten, bis im nächsten Sommer das Schiff kam, um sie wieder abzuholen. 

Die bekannteste unter den norwegischen Polarfrauen war Wanny Woldstad aus Tromsö. Sie war zunächst Taxifahrerin gewesen, was bereits für einiges Aufsehen gesorgt hatte. Doch dann verliebte sie sich in einen Trapper und zog mit ihm 1932 in die Arktis, wo sie fünf Winter verbrachten. Ihr reichte es nicht, ihm den Haushalt zu führen. Sie erlegte Eisbären und verkaufte die Pelze. Das war ein einträgliches Geschäft. Später schrieb Wanny ein Buch über diese Zeit: „Die erste Frau als Fangmann auf Spitzbergen“. 

„Nein, die Arktis gibt ihr Geheimnis nicht her für den Preis einer Schiffskarte“, schreibt die Deutsche Christiane Ritter in ihrem Buch „Eine Frau entdeckt die Polar­nacht“, das 1938 erschien. „Man muss hindurchgegangen sein durch die lange Nacht, durch die Stürme und die Zertrümmerung der menschlichen Selbstherrlichkeit. Man muss in das Totsein aller Dinge geblickt haben, um ihre Lebendigkeit zu erleben. In der Wiederkehr des Lichtes, im Lebensrhythmus der in der Wildnis belauschten Tiere, in der ganzen hier in Erscheinung tretenden ­Gesetzmäßigkeit alles Seins liegt das ­Geheimnis der Arktis und die gewaltige Schönheit ihrer Länder.“ 

Auch Christiane Ritter war „nur“ eine mitreisende Ehefrau. „Lass alles liegen und folge mir in die Arktis“, hatte ihr Gatte ihr geschrieben, als er bei einer Expedition die Wildnis des Nordens für sich entdeckte. Sie ließ sich darauf ein. Doch statt Eisbären zu erlegen, versuchte sie, die Tiefe der Erfahrung auszuloten. Ihr Buch ist ein Klassiker geworden, ein spirituelles Lese-Abenteuer, das bis heute Menschen für den hohen Norden begeistert. 

50 Jahre hat es danach noch gedauert, bis eine Frauentruppe die Männerdomäne im Eis geknackt hatte. 1990 überwinterte zum ersten Mal eine reine Frauen-Expedition in der Antarktis. In der deutschen Georg-von-Neumayer-Station hatten sich vier Wissenschaftlerinnen, zwei Ingenieurinnen, eine Köchin, eine Funkerin und eine Ärztin für diese Aufgabe gefunden. Neun Monate lang waren sie völlig auf sich gestellt. Man sprach von einem „neuen Kapitel in der Geschichte der ­Polarforschung“, von einem „weiblichen Einbruch in die Männerwelt der Antarktisüberwinterer“.

Dass jede dieser Frauen inhaltlich hervorragend für die Aufgabe qualifiziert war, stand eigentlich außer Zweifel. Und dennoch kratzte das Projekt am Selbstbild mancher männlichen Kollegen, für die ein Winter im Eis oft nicht nur eine hervorragende Gelegenheit zum Forschen bedeutete, sondern auch, sich als Mann zu beweisen. So mancher sprach den Frauen also schon im Vorfeld die Qualitäten ab, die notwendig waren, um das Projekt zu meistern. Doch der Erfolg gab den Frauen recht. 

Seither sind bei den meisten Polarforschungsreisen Männer wie Frauen beteiligt, und im aktuellen Web-Auftritt der Georg-von-Neumayer-Station posiert die Luftchemikerin Kathrin Höppner im ­Minirock fürs Gruppenfoto – auch wenn der unter dem dicken Polaranorak kaum hervorguckt.

Josephine Peary hatte nach der vierten Expedition genug vom ewigen Eis. Das lag aber nicht an den strapaziösen ­Lebensbedingungen, sondern daran, dass sie, als sie ihm auf eigene Faust Nachschub in sein Basislager brachte, eine unschöne Entdeckung machen musste: Robert hatte eine Affäre mit einer Inuit-Frau. Josephine zog sich schockiert zurück.

Ihren Mann hingegen trieb es immer wieder in die Arktis. Und immer wieder nahm ihm Josephine das Versprechen ab, dass diese Expedition die letzte sei. Und immer wieder brach er dann doch noch einmal auf. 18 Jahre hat es gedauert, bis er endlich den Pol erreichte – oder auch nicht, da sind sich die Wissenschaftler bis heute nicht einig. Währenddessen schrieb Josephine Bücher, hielt Vorträge, organisierte Sponsoren. Gab Interviews und hielt die Reporter in Schach. Und wenn ihr Mann endlich wieder nach Hause kam, war sie immer wieder bereit, ihn aufzubauen. So wurde die Entdeckung des Nordpols zum Familienunternehmen. Lexika und Atlanten nennen bis heute nur ihn als Entdecker. Erst 1955 ehrte die National Geographic Society die 92-jährige Josephine Peary wenige Monate vor ihrem Tod mit ihrer höchsten Auszeichnung, der „Medal of Achievment“. 

Ihrem Mann, der bereits 1920 gestorben war, war schon immer klar, wie groß der Beitrag seiner Frau zum Erfolg war. Als er vom Pol zurückkehrte, schenkte er ihr eine silberne Puderdose. Klappt man den Deckel auf, findet man die Inschrift: „Für die ‚tapfere, edle kleine Frau‘, die durch ihre stetige Hingabe die großartige Tat ihres heroischen Ehemannes, die Entdeckung des Nordpols am 6. April 1909, möglich gemacht hat“. Wir unterstellen mal, dass in diesem Satz eine Portion ironischer Selbstironie mitschwingt – und das Wissen um die Unentbehrlichkeit der „tapferen kleinen Frau“. 

Weiterlesen
Cornelia Gerlach: Pionierin der Arktis – Josephine Pearys Reisen ins ewige Eis (Kindler, 19.95 €), 
Kari Herbert: Polarfrauen – Mutige Gefährtinnen großer Entdecker (Malik, 14.99 €), Christiane ­Ritter: Eine Frau entdeckt die Polarnacht (Ullstein, 8.95 €).

                              

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