Stop Porn Culture! in München

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„Pornografie ist längst normalisierter Bestandteil unserer Kultur. Frauen beklagen ein wachsendes Desinteresse ihrer Partner an einfühlsamer und beidseitig lustvoller Sexualität in der Beziehung“, schreiben die Veranstalterinnen. „Selbst aus der Prostitution ist zu hören, dass Männer immer extremere Wünsche äußerten, die erkennbar hohem Pornografiekonsum mit immer brutaleren Bildern und Handlungen entstammen.“

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Was aber kann frau gegen die immer weiter fortschreitende Pornografisierung tun? Die Initiative „Stop Porn Culture“ hat Ideen! Auf Einladung der feministischen Organisation Kofra aus München berichtet die Aktivistin Heike Diaferia über das Ausmaß und die Auswirkungen der Porno-Kultur und die dringend notwendige Gegenwehr aus ihrer amerikanischen Sicht. Und die ist nicht so weit entfernt von unseren Erfahrungen. 

Initiiert wurde Stop Porn Culture in Boston von der Soziologie-Professorin Gail Dines. Die Autorin von „Pornland – How Porn Has Hijacked our Sexuality“ (Pornoland – Wie Porno unsere Sexualität entführt hat) gilt laut Guardian heute als „the world’s leading anti-pornography-campaigner“. Im März 2014 organisierte Dines in London eine internationale Anti-Porno-Konferenz.    

Bei der Veranstaltung in München geht es allerdings nicht nur um die Gegenwehr gegen Pornografisierung, sondern auch um den Zusammenhang von Pornografie und Prostitution. „Wie Porno aus dem Mann den Freier macht“, lautet der Titel eines Vortrags von Heike Diaferia. Aus ihren eigenen Erfahrungen als Prostituierte berichtet Marie (siehe EMMA-Gespräch aus Ausgabe 4/12).

Anmeldung bei Kofra, Baaderstr. 30, München unter T 089/20 10 450 oder www.stoppornculture.de/events

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Freiwillig prostituiert

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Ihr habt in den Briefen, die ihr an EMMA geschrieben habt, beide gesagt: Wir gehören zu den Frauen, die sich – wie es so schön heißt – „freiwillig“ prostituiert haben. Was heißt das?
Marie: Ich habe hier in Deutschland ja die Option, mich zu verkaufen. Es ist legal und ich kann mich entscheiden, das zu tun. Die Entscheidung ist also freiwillig. Gleichzeitig zwingen die Umstände aber dazu. Ich kenne keine Frau, die es nicht aus Geldnot gemacht hat. Die zum Beispiel sagen: Wenn die Männer sowieso permanent über einen herfallen wollen, dann können sie auch dafür zahlen. Und wenn man sich erstmal dazu entschieden hat, geht das sehr einfach übers Internet. Es gibt ja viele dieser Plattformen: Kaufmich.com, Poppen.de, dieboerse.de und so weiter. Ich habe einfach ein Profil in einem Forum erstellt, ein paar Bilder hochgeladen und dann haben sich die Männer gemeldet. Es ging also sehr einfach. Zu einfach.

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Emilia: Das kann ich nur unterschreiben. Ich hatte die Straßenprostitution in Berlin direkt vor der Haustür, die war total präsent. Ich hab halt da die Mädchen stehen sehen – und eine Woche später hab ich mich dazugestellt. Das ging alles wahnsinnig schnell. Es war praktisch so, als ob ich in einer Kneipe nach einem Nebenjob fragen würde. Ich habe das also freiwillig gemacht.

Das heißt, hinter euch stand kein Zuhälter oder Frauenhändler, der gesagt hat: Du musst dich prostituieren!
Emilia: Nein. Allerdings tauchten bei mir dann schon Männer auf, die einem neue Kunden vermittelt und dafür dann Sex umsonst bekommen haben.

Was war denn eigentlich dein Motiv, Emilia?
Emilia: Schon auch das schnelle Geld. Aber das habe ich nicht existenziell zum Überleben gebraucht. Mein Motiv war vor allem Selbstbestrafung. Oder sogar Selbstzerstörung. Ich habe mir selbst damit schaden wollen. Das habe ich aber damals nicht geblickt. Das begreife ich erst im Rückblick. Es hat mir das Gefühl gegeben: Ich kann mit meinem Körper machen, was ich möchte. Ich habe die Macht. Aber als ich dann den ersten Geschlechtsverkehr hatte, war da keine Macht mehr. Plötzlich war ich wie tot. Wie in eine frühere Situation zurückversetzt. Und ich war plötzlich wieder genauso hilflos und hatte die Kontrolle nicht mehr, die ich mir doch eigentlich damit hatte verschaffen wollen.

Was für eine frühere Situation?
Emilia: Ich wurde als Kind von meinem Vater missbraucht. Und plötzlich ist man dann wieder in einer kindlichen Rolle. Man fühlt sich genau wie früher. Man geht auf Abstand zu sich und spürt gar nichts mehr. Ich hab die Augen zugemacht und bis zehn gezählt und dann wieder rückwärts. Es war die gleiche Hilflosigkeit. Ich konnte in diesem Moment auch nicht mehr Nein sagen wie eine Erwachsene.

Wie alt warst du, als du angefangen hast, dich zu prostituieren?
Emilia: Ich war 18.

Marie: Und da wollen einige das Schutzalter für Prostitution auf 16 herabsetzen!

Und was war dein Einstieg, Marie?
Marie: Bei mir war es Geldnot. Die Studiengebühren meiner Tochter waren zu viel. Die hab ich nicht mehr geschafft. Da war ich 45.

Hast du dich jemals vorher prostituiert oder hat der Gedanke dich schon mal gestreift?
Marie: Nein. Aber ich habe auch meine Vorgeschichte. Meine Mutter ist gestorben, als ich zwölf war. Und auch mein Vater hat mich missbraucht. Da war ich vier, fünf. Den habe ich aber so stark verdrängt, dass die Erinnerung daran nur schemenhaft ist. Klare Erinnerung setzt ab der Pubertät ein. Das einzige, was ich von meinem Vater an Zuwendung bekommen habe, war, dass er meine Brust mit zwei Fingern gewogen und gesagt hat: „Na, das wird doch!“ Und meine Stiefmutter hat zugeguckt. Mit 16 bin ich dann beim Trampen vergewaltigt worden. Da hab ich Todesangst gehabt, das war richtig schlimm. Dazwischen gab es eine Zeit, in der sich linksintellektuelle alte Männer über mich hergemacht haben. Ich habe mich in der linken Szene rumgetrieben, war ein kluges Kind und hab viel gelesen. Da konnte man gut mit mir diskutieren, und die Herren haben gemeint, nicht nur das. Ich war da etwa 15 und die waren 45 oder 50. Mich hat es nicht gestört, weil es ja die Art von Zuwendung war, die ich seit dem Tod meiner Mutter kannte. Es war eben ein Weg, Liebe zu bekommen.

Und dein Mann?
Marie: Ich habe meinen Mann kennen gelernt, als ich 19 war. Mit 21 kam dann mein Kind auf die Welt und man hat halt geheiratet. Ich hab dann einen Laden aufgemacht und damit die Familie ernährt. Mein Mann hat sich neben mir kleiner und schwächer gefühlt und dann war sein Bestreben, mich kleiner zu machen. Das hätte auch fast funktioniert. Ich habe mein Selbstwertgefühl mehr und mehr verloren und mich von ihm getrennt, als ich das Gefühl hatte, ich hänge nur noch an einem ganz dünnen Faden.

Emilia: Ich hatte auch ganz oft Beziehungen zu älteren Männern. Also Männern, die praktisch mein Vater sein könnten. Und es ist, als wollte ich dadurch das, was damals schiefgelaufen ist, nochmal anders machen.

Als ihr dann angefangen habt, euch zu prostituieren – was ist da passiert?
Marie: Vor dem ersten Date hatte ich das gleiche Gefühl wie Emilia: Ich mache das jetzt ganz für mich! Dann war es aber einfach eklig. Das Hotel war eklig. Ich hab mich gewundert, wie so eine Absteige solche Preise nehmen kann. Der Typ war auch eklig. Den hab ich erstmal zum Duschen geschickt, weil der so verschwitzt war. Dann hab ich das ganz schnell hinter mich gebracht. Es war ganz schrecklich und ich erinnere mich auch nicht mehr an allzu viel. Am deutlichsten daran, wie ich nach Hause gefahren bin und das Geld in der Tasche hatte.

Und wie viel war das?
Marie: 150 Euro. Ich hatte extra einen ziemlich hohen Preis angesetzt, weil ich dachte: Eine Frau von Mitte 40, etwas übergewichtig, kurze Beine – da ist der Preis vielleicht eine Hürde, über die dann keiner springt. Aber das war nicht so. Ich hatte dann sehr schnell raus, wie man Männer dahin manipulieren kann, wo man sie haben will, damit das alles schneller geht. Die buchen eine halbe Stunde oder eine Stunde und sind nach einer Viertelstunde fix und alle. Je geiler man spielt, umso schneller sind sie fertig. Die funktionieren ziemlich stereotyp. Das ist wirklich erschreckend. Das Schlimme für mich war, dass es so viele nette Männer waren. Reflektierte Männer. Die reden über ihre Ehe, über ihre Frauen, die arbeiten an ihrer Beziehung. Aber kaufen sich Frauen. In Sachen Prostitution haben die einen blinden Fleck. Das fand ich das Frustrierendste. Ich hab sie auch gefragt, warum sie das machen.

Und was haben sie gesagt?
Marie: Ihre Frauen hätten halt keine Lust mehr auf Sex. Einen hab ich gefragt: „Gibst du dir bei deiner Frau auch so viel Mühe wie mit mir?“ Da antwortet er: „Das will die doch gar nicht!“ Zwei Wochen später hat er mir geschrieben, dass er den besten Sex seines Lebens hatte, und das mit seiner eigenen Frau.

Was hast du als besonders hart empfunden?
Marie: Das Nett-sein-müssen. So tun zu müssen, als ob ich’s total geil finde. So tun müssen, als ob ich den Mann total gern rieche. So tun müssen, als ob mir die Küsse gefallen. So tun müssen, als ob mir der tiefe Blick in die Augen gefällt. Die Männer wollen ja inzwischen nicht nur ficken, sondern den sogenannten GF6: „Girlfriend-Sex“ mit Gefühl. Bussi hier, Eiteitei da.

Das war doch früher in der klassischen Prostitution total tabu.
Marie: Ja, aber heutzutage musst du das machen. Und das fand ich schlimm, dieses: Nicht ich selber sein.

Und die Männer glauben das?
Marie: Klar, die halten sich alle für was Besonderes. Und sie kriegen es ja auch vorgespielt. Dann haben sie gar kein Unrechtsbewusstsein. Das ist ein Teufelskreis.

Emilia: Ich finde es auch das Schlimmste, so tun zu müssen, als ob man das alles toll findet. Und man kann ja dann auch nicht mehr Nein sagen, denn er hat ja bezahlt. In dem Moment hab ich mein Recht verkauft, zu sagen, was ich will und was ich nicht will. Das geht nicht mehr. Denn wenn ich es doch sagen würde, hätte ich Angst, dass er es trotzdem tut. Deshalb war es jedes Mal für mich wie eine Ver gewaltigung. Ich weiß, wie sich eine Vergewaltigung anfühlt und ich weiß, wie es sich anfühlt, sich zu prostituieren. Nämlich gleich.

Marie: Ich musste mich danach immer belohnen. Ich habe immer ein Drittel des Geldes für Kompensation ausgegeben: ein tolles Parfum oder so was.

Emilia: Das Geld war unheimlich viel wert, weil man sich ja dafür verkauft hatte. Ich hatte immer das Gefühl: Das, was ich davon kaufe, kann gar nicht so viel wert sein wie dieses Geld.

Wie war dein „erstes Mal“, Emilia?
Emilia: Meine erste Erfahrung war, dass ich in einem Sex-Shop um die Ecke in einer Kabine mit einem Mann Verkehr hatte.

Wie viel Geld hast du da bekommen?
Emilia: 30 Euro. Ich kannte mich mit den Preisen gar nicht aus. Ich hatte an dem Abend aber auch Männer, die gemeint haben, 30 Euro wäre aber teuer.

Und wie hast du dich danach gefühlt?
Emilia: Ich hatte viel Alkohol getrunken und habe mich erst am nächsten Morgen schlecht gefühlt. Ich bin aufgewacht und dachte: Du hast dich damit kaputtgemacht. Du hast dich umgebracht. Das hat richtig weh getan. Und dann hab ich’s aber wieder gemacht.

Warum?
Emilia: Man fühlt sich ganz schwach und merkt: Man zerbricht in dem Moment. Aber gleichzeitig hat man so eine Härte. Wenn ich losgegangen bin, habe ich mich aktiv gefühlt, fast übermütig. Ich hab vorher immer viel Alkohol getrunken. Es ist ähnlich wie mit der Magersucht. Da schädigt man sich auch selbst, und trotzdem gibt es einem ein Gefühl der Stärke.

Marie: Es ist eine ganz merkwürdige Art von Selbstbestätigung, die man daraus zieht. Ich war eine Frau Mitte 40, und es bestätigt einen ja, dass ein Mann was für einen bezahlt. Männern bedeutet Geld ja was. Etwas, wofür sie viel bezahlen, behandeln sie auch entsprechend. Das ist nicht Respekt mir gegenüber, es ist Respekt ihrem Geld gegenüber. Außerdem wollen sie ja morgens noch in den Spiegel gucken können und sich sagen: Ich behandle Frauen respektvoll, und ich behandle auch Huren respektvoll. Also, man kann da schon kurzfristig für sich was draus ziehen. Aber das fällt sofort wieder in sich zusammen. Danach ist es ganz schal.

Emilia: Ich bin auch deshalb auf den Strich gegangen, weil ich mich nach körperlicher Nähe gesehnt habe. Und paradoxerweise hab ich diese Nähe eben auch dort gesucht. Ich hab mir gewünscht, dass mich jemand in den Arm nimmt. Aber das ist natürlich auf die falsche Weise passiert. Und hat dann wieder weh getan.

Ihr hattet ja beide vermutlich eine sehr unterschiedliche Klientel …
Marie: Dafür würde ich die Hand nicht ins Feuer legen. Ich bin ja viel in diesen Foren unterwegs. Und da sieht man: Wenn die einmal auf diesem komischen Trip sind, sich über ihren Schwanz zu definieren, dann nehmen die alles mit. Die Jungs sind dann in diesen Popp-Foren genauso registriert wie in Freier foren oder bei Elitepartner. Die versuchen alles abzugreifen. Und in den Erfahrungsberichten schreiben die Jungs dann von der Hure für 15 Euro auf dem Drogenstrich bis zur Escort-Dame für 300 Euro.

Du hast uns in deinem Brief geschrieben: Was die Prostitution mit einem macht, sei „unumkehrbar“. Was meinst du damit?
Marie: Meine Wahrnehmung von Männern. Eine bestimmte Form von Vertrauen zu Männern ist nicht mehr möglich. Für mich wird es nie mehr den Helden auf dem Pferd geben. Bei allem Realitätssinn hatte ich mir dieses Gefühl immer gern gegönnt. Aber das ist vorbei.

Emilia: Ich habe einen Freund, der ist wirklich lieb. Aber ich kann seine Nähe nur bis zu einem gewissen Punkt ertragen. Ich muss eine rauschende Party feiern und am besten noch ein Beruhigungsmittel nehmen, bevor ich mit ihm schlafen kann. Einmal bin ich währenddessen in Tränen ausgebrochen. Das kann er natürlich nicht verstehen, weil er nicht weiß, dass ich mich prostituiert habe.

Dein Freund weiß gar nichts davon?
Emilia: Nein, und ich werde ihm das auch nicht sagen. Ich bin überzeugt, dass ich einem Mann nie wieder vollständig vertrauen kann. In meinen Augen ist jeder Mann ein potenzieller Täter. Weil man weiß, zu was all diese Männer, die man da Tag für Tag bedient hat, fähig sind.

Marie: Zum Beispiel auch, was Safer Sex angeht. Mir ist es passiert, dass einer im letzten Moment den Präser abgezogen und mir dann doch in den Mund oder in den Arsch gespritzt hat. Das ist kriminell. Aber zeig das mal an!

Wie lange habt ihr euch prostituiert?
Emilia: Ein Jahr lang. Manchmal mehrmals die Woche.

Marie: Zwei Jahre lang. Mal hab ich nur zwei Dates pro Woche gemacht, mal mehr. Mehr als ein Date am Tag konnte ich aber nicht.

Gab es Menschen in eurem Umfeld, die es wussten?
Emilia: Ich hab es einer älteren Freundin und einer Sozialarbeiterin erzählt. Die haben nur gesagt: „Mach das doch nicht mehr.“

Marie: Das ist ja ein hilfreicher Tipp! Ich hab es heimlich gemacht. Meine Tochter weiß es auch nicht, die würde sich totale Vorwürfe machen. Aber ein Grund für die Heimlichkeit war auch das Geld. Hätte ich das mit der Prostitution offiziell gemacht, hätten mir die Krankenkassen-Beiträge das Genick gebrochen.

Wann kam der Punkt, an dem ihr gesagt habt: Ich will das nicht mehr machen!
Emilia: Ich bin irgendwann nicht mehr in die Schule gegangen. Ich lag ein paar Tage im Bett und hab mich nur noch schlecht gefühlt. Ich hatte keine Kraft mehr zu gehen und habe mich auch geritzt. Und dann habe ich mich selbst in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.

Hast du den Ärzten gesagt, dass du dich prostituierst?
Emilia: Ja. Aber die haben das mit mir nicht aufgearbeitet. Sie haben zwar gesagt, ich soll das aufschreiben. Als ich das gemacht habe, habe ich fürchterlich geweint und konnte mich gar nicht mehr beruhigen. Es kam dann auch jemand und hat mich beruhigt. Aber geredet hat nie jemand mit mir darüber. Keiner hat das genau wissen wollen. Ich hatte das ja freiwillig gemacht. Und da ich mich selbst entschieden hatte, das zu tun, konnte es ja wohl nicht so schlimm sein. Das wurde mir rübergebracht. Dann hab ich mich noch weniger verstanden gefühlt.

Marie: Es gibt ja kaum Hilfsangebote zum Ausstieg. Einstiegsberatung machen sie alle, aber Ausstieg? Ich hab bei uns im Landkreis angerufen. Da gibt es eine Stelle, die für die Prostituierten zuständig ist. Aber das einzige, was der Sozialarbeiter mir angeboten hat, war Hartz IV. Aber ich hatte doch da gar nicht wegen dem Geld angerufen. Ich brauchte einfach Hilfe, weil ich merkte: Irgendwas stimmt überhaupt nicht. Ich bin nicht mehr belastbar, ich bin unheimlich nah am Wasser gebaut, ich mach mir wahnsinnig viele negative Gedanken. Ich sitze stundenlang zu Hause und heule. Und dann hab ich Hilfe gesucht und keine gefunden. Ich hab dem Sozialarbeiter gesagt: Mir geht’s schlecht, ich hab keine Kraft mehr, ich komme mit der Situation nicht klar. Und er hat gesagt, da wüsste er jetzt auch nicht weiter. Dann hat er drei Tage später zurückgerufen und gesagt: Meine finanzielle Situation sei doch sicher auch sehr belastend, er könne mir helfen, Hartz IV zu beantragen. Na, danke fürs Gespräch! Ich habe auch bei Hydra in Berlin angerufen, aber da hatte ich das Gefühl, dass sie die Prostitution gar nicht als problematisch betrachten.

Es gibt also offensichtlich keine Sensibilisierung für die seelische Not in so einer Situation und den Schaden, den die Prostitution anrichtet?
Marie: Nein. Meine Frauenärztin hat zum Beispiel gesagt: „Ich finde das ganz toll, dass Sie das können!“

Wie bitte?
Emilia: Mir ging es ganz ähnlich. Ich hatte meine Hoffnung in die Klinik gesetzt. Aber niemand hat verstanden, warum es mir so schlecht ging. Ich war ja diejenige, die die Schule mit dem 1,2-Schnitt macht, die mit dem tollen Elternhaus und den guten finanziellen Verhältnissen. Die haben dann gesagt, ich wäre wohl in einer schwierigen Lebensphase. Dabei hatte ich denen doch alles erzählt! Das sind doch Fachleute. Und ich war trotzdem ganz allein damit. Die Polizei hilft auch nicht. Ich bin einmal von einer Streife kontrolliert worden, die wegen „Bekämpfung der illegalen Straßenprostitution“ unterwegs war. Die habe ich gebeten: „Nehmen Sie mich mit!“ Ich war megaverzweifelt und hab denen auch erzählt, dass ein Typ mir immer neue Männer verschafft, also praktisch mein Zuhälter ist. Aber die haben mich wieder auf die Straße geschickt. Es gab keine Anzeige, keine Hilfe, gar nichts.

Marie: Die Männer denken, wenn sie nett zu einem sind, wäre alles gut. Das ist es aber nicht. Ich muss von mir viel mehr hergeben, als ich eigentlich hergeben will. Denn was du den Freiern vorspielst, ist immer auch ein Teil von dir selbst. Ich bin ja keine Schauspielerin, ich kann ja nichts reproduzieren, was ich nicht aus meiner Sexualität kenne. Und da gibt man was vom Intimsten, was man zu geben hat. Deshalb ist da eine große Trauer über das, was ich verloren habe. Als ich angefangen habe, habe ich gedacht: Ich mit meiner Kraft und meiner Stärke – ich krieg das hin! Aber es hat mich volle Breitseite erwischt.

Nun gibt es aber immer wieder Prostituierte, die in Talkshows begeistert über ihre „selbstbestimmte Prostitution“ berich ten, die ihnen gar nichts ausmacht.
Marie: Was sollen die denn anderes sagen? Da gucken doch Kunden zu. Wenn die Frau dann sagt: „Mir macht das eigentlich überhaupt keinen Spaß, aber ich mach euch ’ne gute Show vor!“ dann kommt doch keiner mehr. Außerdem ist das reiner Selbstschutz. Mir wird von Prostituierten natürlich vorgehalten, ich sei dann wohl eben „für den Job nicht geeignet“. Aber irgendwann holt es jede ein. Eine Bekannte von mir, die sich lange prostituiert hat, hat das schließlich nur noch mit drei Wodka vor dem ersten Freier machen können. Dann hat sie mit dem Alkohol aufgehört und gemerkt, dass sie es ohne gar nicht mehr kann. Bei einer anderen, die jahrelang von der „freiwilligen, selbstbestimmten“ Prostitution geschwärmt hat, bricht es langsam. Nur: Die, die dann ausgestiegen sind, weil sie nicht mehr können, die sitzen nicht in den Talkshows. Weil es ihnen zu schlecht geht oder weil sie sich ein neues Leben aufbauen und anonym bleiben wollen.

Emilia: Man sieht es an den Augen. Wenn mir eine Prostituierte erzählt, dass sie das gern macht, und ich in ihre Augen gucke, dann sehe ich, was los ist.

Wie hast du dann aussteigen können?
Marie: Ich habe mir zwei neue Jobs gesucht und sieben Tage die Woche gearbeitet. Dann musste ich das nicht mehr machen. Ich habe dann nur noch zwei Dates gemacht und beim letzten gemerkt: Ich kann das nicht mehr.

Wäre es denkbar, dass du das noch einmal tust?
Marie: Auf gar gar gar keinen Fall.

Und du, Emilia?
Emilia: Ich bin vor zwei Wochen wieder rückfällig geworden. Ich war zwar in der Klinik und später in der Kur erstmal weg aus Berlin. Aber es hatte ja keiner verstanden, was die Prostitution mit mir gemacht hat, es wurde ja alles nur zur Seite geschoben. Und als ich dann ein Wochen ende in Berlin war, hab ich es wieder gemacht. Ich bin in Berlin angekommen und war sofort wieder in diesem Kreislauf drin. Ich hab wieder gefühlt, was ich mit diesem Ort verbinde: meinen Selbsthass.

Was müsste passieren, damit Frauen wie euch rasch geholfen werden kann?
Marie: Prostitution gehört knallhart verboten! Es muss wieder in die Köpfe rein: Das tut man nicht! Die Männer, die sich Frauen kaufen, sollen bestraft werden. Denn nur wo eine Nachfrage existiert, kann man auch was anbieten. Und für Menschenhändler und Zuhälter muss es viel härtere Strafen geben. Für das unermessliche Leid, das die den Frauen zufügen.

Emilia: Ich bin auch für ein knallhartes Verbot! Es geht einfach nicht, dass man Menschen kauft.

Marie: Der Staat hat die Funktion, mich zu beschützen. Ich hätte mir gewünscht, dass er das getan hätte. Der Staat passt auf mich als Frau nicht auf. Er kassiert Steuern dafür und verdient noch dran, aber er bietet keine Hilfsangebote für den Ausstieg.

Emilia: Wenn ich mich auf eine Brücke stelle und runterspringen will, dann retten mich die Leute doch auch. Aber wenn ich mich jeden Tag prostituiere und mich auf diese Weise langsam kaputtmache, dann gilt das als meine freie Entscheidung.

Marie: Das alles ist doch nur das Produkt einer Gesellschaft, die das zulässt!

Gibt es etwas, das wir euch nicht gefragt haben – und was ihr noch sagen wollt?
Marie: Ja. Dass mir das Gespräch unheimlich gut getan hat. Es hat mir Kraft gegeben.

Emilia: Ihr seid die ersten in meinem Leben, die mir zugehört haben. Bisher hat niemand verstanden, was es für mich bedeutet, mich zu prostituieren.

Das Gespräch führten Chantal Louis und Alice Schwarzer.

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