Sie ist 22, hat gerade für ihren dritten Spielfilm einen Preis bekommen und nicht den ersten. Dabei kommt sie aus einem Land, in dem die Islamisten den Frauen das Sehen verbieten wollen.
Als Samira Makhmalbaf sich die Heldin ihres neuen Films "At Five in the Afternoon" ausgedacht hat, hat sie wahrscheinlich ein wenig von sich selbst hineingelegt in diese Figur: Die hat Nerven wie Drahtseile. Noqreh lebt mit ihrem bigotten Vater in Kabul, der Krieg ist vorüber, es gibt nichts zu essen, in die Schule kann sie immer noch nur heimlich gehen, aber eines steht für sie fest: Sie will Präsidentin werden! Samira, 1980 in Teheran geboren und Tochter des bekannten persischen Regisseurs Mohsen Makhmalbaf, ist mit einem netteren Vater, aber einem ähnlichen Selbstbewusstsein gesegnet: Sie hat 1999 mit 17 ihren ersten Film "Der Apfel" gedreht! 2002 lief ihr zweiter, "Schwarze Tafeln", in Cannes – sie war die jüngste Teilnehmerin an der Croisette seit Gründung des Festivals. Diesmal war sie wieder dabei, als eine von zwei Regisseurinnen, denn Cannes ist nicht gerade ein Frauenfilmfestival.
Es war, hat Samira Makhmalbaf in Cannes erzählt, gar nicht so einfach, eine Schauspielerin zu finden, die die Noqreh spielt – weil afghanische Frauen immer noch nicht gern ihr Gesicht herzeigen, teils aus Angst vor einer Rückkehr der Taliban, teils, weil es eben ihrer Kultur nicht entspricht. Samira Makhmalbafs Annäherung ist fiktiv und poetisch.
So, wie Samira Makhmalbaf in Cannes auftrat – Haare kunstvoll hochgesteckt, Alibi-Stoffstückchen hinten auf dem Dutt, nicht sehr zugeknöpft, riesige Ohrringe – machte sie nicht den Eindruck, als habe sie viel übrig für islamische Verhüllungsvorschriften. Dennoch, einen Film wie diesen hätte eine westliche Filmemacherin nie drehen können.
Zu den hinreißendsten Episoden in "At Five" gehört die mit den weißen Schuhen: Wann immer Noqreh ihrem Vater entwischt, schlägt sie die Burka zurück und holt ein paar hochhackige Pumps aus der Tasche, auf denen sie dann durch Kabul stöckelt. Später, als Noqreh schon einiges dazugelernt hat über die Welt, fliegen die Schuhe in die Ecke, als würde ihr dämmern, dass auch sie nur Accessoires aus einer anderen Art von Gefängnis sind.
Davon, dass der Westen auch nicht der Weisheit letzter Schluss ist, erzählt Samira Makhmalbafs Film mit Sinn für Humor. Noqreh quatscht, in ihrem Bemühen, sich auf die Wahl zur Präsidentschaft vorzubereiten, einen UN-Soldaten an, und fragt, wofür Präsidenten in Demokratien gewählt werden. Er sei, antwortet der Soldat, Franzose und könne ihr wirklich nicht sagen, warum Chirac gewählt worden sei. Einen wunderen Punkt als die große Le-Pen-Verhinderungs- und Pro-Chirac-Wahl hätte Makhmalbaf in der aktuellen europäischen Geschichte kaum finden können.
Bei "At Five" liegt das Augenmerk jedoch vor allem auf jenem Teil der Geschichte, der so grauenhaft ist, dass man kaum hinschauen kann: das Baby von Noqrehs Schwägerin, das langsam stirbt; all die Schicksale, die Noqreh begegnen in den Ruinen von Kabul. Aber da ist eben noch etwas anders: Samiras Sinn für Humor, den sie vom Vater hat, durch dessen Schule des Sehens sie gegangen ist. Der Makhmalbaf-Clan ist dabei, eine poetische Form des Slapsticks zu entwickeln. Da haben zum Beispiel plötzlich alle Frauen blaue Schirme, was, von oben gefilmt, sehr komisch aussieht; beim Vater fliegen in "Kandahar" plötzlich Ballons über die Wüste oder eine Grenzpatrouille bemerkt, als sie eine Reihe Menschen in Burkas kontrolliert, dass einige der vermeintlichen Damen extrem tiefe Stimmen haben. Die Geschichten, die die beiden erzählen, besonders die letzte aus Afghanistan, sind tieftraurig – aber erst die Fähigkeit, auch im zerstörten Kabul noch Schönheit und Komik zu entdecken, macht den Film so lebensnah. Sie wolle mit "At Five" die Lücken füllen, die das Fernsehen hinterlässt, sagt Samira Makhmalbaf.
Es wäre gegenüber der restlichen filmschaffenden Welt nicht ganz fair, würde man so tun, als habe das Wunderkind Samira Makhmalbaf nicht familiär bedingte Vorteile. Es ist selbstverständlich hilfreich, dass ihr Vater bei den Festivals in Venedig und Cannes regelmäßig mit seinen Filmen am Wettbewerb teilnimmt. Es gibt aber beispielsweise einen jungen Filmemacher namens Roman Coppola, dessen Vater Francis Ford zwei Goldene Palmen hat und fünf Oscars. Was bisher noch keinen Festivalchef von Rang bewogen hat, Romans Film "CQ" zu Ehren zu verhelfen, die er nicht verdient hätte.
Mohsen Makhmalbaf kann seiner Tochter die Finanzierung erleichtern, dafür sorgen, dass ihre Filme von den Auswahlkommitees angeschaut werden, aber genommen werden sie für ihre Einzigartigkeit. Es gibt heute keine andere Regisseurin, die uns so am Leben von Frauen in der islamischen Welt teilhaben lässt und gleichzeitig so viel vom Filmemachen versteht. Genaugenommen hat es überhaupt noch nie eine Filmemacherin gegeben, die man mit Samira Makhmalbaf vergleichen könnte – von den wenigen Filmemacherinnen, die das Kino überhaupt zu bieten hat, kommt nämlich bisher keine aus einer islamischen Republik.
Wenn sie so weitermacht, wird sie den Laden irgendwann übernehmen: die Präsidentin Samira Makhmalbaf. Ganz wie Noqreh, die im Film einmal, als eine Mitschülerin daran zweifelt, dass ein Mädchen die Regierung von Afghanistan übernehmen könnte, sagt: "So gut wie die Männer, die den Job vor mir gemacht haben, bekomme ich es bestimmt auch noch hin."
Übrigens: Allen, die jenseits des Fiktiven die harten Fakten wissen wollen über das Leben von Frauen in Afghanistan, verweist Samira gern auf den Dokumentarfim "Joy of Madness", Regie: ihre 14-jährige Schwester ...