Die Wahrheit rausschreien
Wenn Assia Djebar am Sonntag, den 22. Oktober, gegen 10.30 Uhr auf die Frankfurter Paulskirche zuschreiten wird, dann stehen vielleicht einige Frauen und Männer vor dem Eingang, die auch vor genau fünf Jahren da standen. Damals riefen sie: "Es ist eine Schande!" und "Buh!" und "Hier werden die Menschenrechte verschleiert!" Diesmal jedoch haben sie allen Grund, das Gegenteil zu rufen: nämlich "Bravo" und "Hier werden die Menschenrechte entschleiert!"
Sie ist die bekannteste
Schriftstellerin des Maghreb
1995 erhielt die Islamforscherin und Fundamentalisten-Freundin Annemarie Schimmel (nach der eine Allee in Pakistans Hauptstadt Lahore benannt ist) den Friedenspreis. Und der Protest dagegen wogte weit über Emma hinaus, bis hin zum heutigen Kultusminister Michael Naumann. Fünf Jahre später erhält eine Frau den "Friedenspreis des Deutschen Buchhandels", die die politische Gegenspielerin der Preisträgerin 95 sein könnte. Könnte. Denn die gebürtige Algerierin Assia Djebar ist in erster Linie Schriftstellerin. Sie gilt literarisch als die bedeutendste Stimme ihres Landes und politisch als ein Symbol des Widerstandes und der Hoffnung. Auch dafür wird sie jetzt geehrt.
"Ich habe Algerien 1980 verlassen, wegen meiner Arbeit. Weil ich, eine Frau, schreiben wollte. Um arbeiten zu können, muss ich mich frei bewegen, aber in Algerien war das nicht (mehr) möglich." Seither lebt die Romanciere, Filmemacherin und Historikerin in Paris, zur Zeit unterrichtet sie im einst französischsprachigen Teil der amerikanischen Südstaaten.
An dem Tag, an dem das kleine Mädchen an einem Herbstmorgen des Jahres 1942 an der Hand des Vaters in Cherchell bei Algier erstmals zur Schule geht, kann es nicht ahnen, dass es eines Tages zu einem kosmopolitischen Leben genötigt sein wird. Der Vater ist Grundschullehrer unter den französischen Kolonialherren, und es ist sehr ungewöhnlich, dass ein algerisches kleines Mädchen in die Schule gehen darf. Assia, die damals noch Fatima-Zohra hieß, ist die einzige "Eingeborene" in der Klasse und wird lebenslang die Erste bleiben: die erste Algerierin auf der Pariser Elitehochschule Ecole Normale Superieure; die erste Algerierin, die es 1957 wagt, einen Liebesroman zu schreiben; und die erste Intellektuelle, die international die Stimme erhebt gegen den Terror der Islamisten in ihrer Heimat.
Djebar ist das Produkt dessen, was ihre schwarze Kollegin Toni Morrison die "Kreolisierung" nennt: die Vermischung der Kulturen. Sie ist geprägt von der Sinnlichkeit von 1001 Nacht und erzogen in der Intellektualität der französischen Sprache und Kultur. Als die Befreiung Algeriens begann, in engstirnigen Nationalismus umzuschlagen und die neuen Herren das 150 Jahre lang gelehrte Französisch in den 70ern quasi verboten und die (Zwangs)Arabisierung diktierten, da verstummte die einstige Widerstandskämpferin zehn lange Jahre. Sie lehrte Geschichte und machte Filme, aber sie schrieb nicht mehr.
Erst in Paris begann sie wieder zu schreiben. Im Mittelpunkt ihrer Romane stehen Entwurzelte, Fremde, Frauen. "Ihre Heldinnen haben Persönlichkeiten, sie wehren sich und befreien sich", schrieb ihre Landsmännin Anissa Kahla über Djebar vor fünf Jahren in Emma: "Typisch ist die Entdeckung ihres Körpers und ihrer Sexualität. Und das verzeiht man nicht in einer Gesellschaft, in der diese Themen tabuisiert sind." Auch in Djebars letztem, 1999 erschienenen Buch, "Nächte in Straßburg", geht es um Erotik und Politik, um Sehnsucht und Entwurzelung.
Ihr allererstes Buch, "Soif' (Durst; leider auf Deutsch in "Die Zweifelnde" übersetzt), hatte die damals 20-Jährige noch zunächst unter männlichem Pseudonym veröffentlicht. Mit Grund. Die Freiheit, mit der die junge Algerierin hier während der ersten Studentenunruhen gegen die Kolonialmacht über Sexualität schrieb, trug ihr später den Ruf einer "französischen Francoise Sagan" ein.
Ihre Bücher sind in Algerien kaum zu finden
Übrigens: Bis heute ist Assia Djebar, die bekannteste Schriftstellerin des Maghreb (Algerien, Marokko und Tunesien), in Europa bekannter als in ihrer Heimat. Ihre Bücher sind in Algerien kaum zu finden. Und der so nette Vater, an dessen Hand die Tochter 1942 der Bildung und damit der Welt entgegenschritt, hat nie auch nur ein einziges Buch von ihr gelesen. Und er hat bis zu seinem Tod kein einziges Wort mit seiner Tochter über ihren peinlichen Beruf gewechselt.
Da ist es nicht verwunderlich, dass auch die Tochter des Widerstandes manchmal noch heute vor ihrem eigenen Mut erschrickt. "Selbst wenn man in Algerien gar nicht feministisch' sein will (in Anführungszeichen), wird man es dennoch zwangsläufig", sagte sie jüngst, denn: .Angesichts der Beziehungen zwischen Mann und Frau überkommt einen manchmal das Bedürfnis, die Wahrheit nicht leise zu sagen, sondern sie hinauszuschreien."