„Liebe Alice, liebe EMMAs, helft uns!“
Es begann am 2. Januar: „Habt ihr mitbekommen, was da an Silvester am Kölner Hauptbahnhof los war?!“ So lautete eine der ersten Nachrichten, die uns im ganz neuen Jahr erreichten. Zu einem Zeitpunkt, als noch niemand ahnte, dass sich das, „was da an Silvester am Kölner Hauptbahnhof los war“, in den kommenden Tagen zu einem Skandal entwickeln sollte, der Köln auf die Titelseiten der internationalen Medien katapultieren würde.
Was können wir tun, damit sich so etwas nicht wiederholt?
Seither rattert unser Postfach, steht das Telefon nicht still, brummt unsere Facebook-Seite. Eine ganze Woche stand unsere normale Arbeit - die EMMA zu machen - still. Wir waren zur Auskunftsstelle und zum Nottelefon geworden. Selbst Verlagsleiterin Anett Keller konnte sich kaum mehr um AbonnentInnen, Druck und Vertrieb kümmern, sondern hing von morgens bis abends am Telefon. „Die Frauen haben nicht nur aus Köln angerufen, sondern aus ganz Deutschland. Sie waren fassungslos über das, was an Silvester passiert ist. Und froh, dass wir ihnen eine Stimme geben!“
Auch Angelika Mallmann, zuständig für die LeserInnenbriefe, kommt mit dem Beantworten der Zuschriften kaum noch hinterher. „Die Flut der Briefe reißt nicht ab, schon lange nicht mehr hat ein Thema die EMMA-Leserinnen so bewegt!“, sagt sie. Währenddessen sprachen die Redakteurinnen Chantal Louis und Alexandra Eul mit Kolleginnen aus der ganzen Welt – von der niederländischen Zeitung deVolkskrant bis hin zur britischen BBC. Und Margitta Hösel hatte alle Hände voll zu tun, die zahllosen JournalistInnen zu vertrösten, die möglichst schon gestern ein Interview mit Alice Schwarzer wollten.
Nach ihrer Stimme riefen auch die Frauen besonders laut: „Sehr geehrte Frau Schwarzer, bitte nehmen Sie Stellung zu den Übergriffen in Köln zu Silvester! Sie können womöglich etwas ausrichten!“, schrieb zum Beispiel Gabi. Andere wurden schon kurz nach Silvester deutlicher: „Könntet ihr bitte mal etwas lauter auftreten in dieser Frage?! Es kann nicht sein, dass sexuelle Übergriffe in dieser Dimension selbst von feministischer Seite so leise und kaum merkbar diskutiert werden!“, klagte Claudia auf EMMAs Facebook-Seite.
Wie können wir uns schützen, wenn es sonst niemand tut?
Denn an Neujahr, da waren wir alle – Alice Schwarzer eingeschlossen – noch in Urlaub. Als wir am Montagmorgen, den 4. Januar, das erste Mal wieder in der Redaktion zusammensaßen, wussten wir schon: Wir müssen sofort handeln! Denn unter den Frauen, die sich bei EMMA gemeldet haben, waren von Anfang an auch etliche, die live dabei waren in der Horror-Nacht. „Ich war da und es war furchtbar!“ erzählte Patricia. „Dort waren kaum Frauen! Es war so aggressiv, wir sind auf 50 Meter an fünf Rangeleien vorbeikommen, bei denen wir Angst hatten, sie werden zur Massenschlägerei!“, berichtete Stefanie.
Und Susanne erinnerte sich: „Ich wollte mit meiner Freundin eigentlich nur kurz durch den Bahnhof gehen, um im Brauhaus auf der anderen Seite ein Bier zu trinken. Aber schon als wir auf dem Bahnhofs-Vorplatz ankamen, habe ich plötzlich nur noch Männer gesehen. Es waren Hunderte! Und sie haben uns behandelt wie Freiwild!“. Und Selina berichtete: „Ich habe gestern Anzeige erstattet!“ Und erzählte dann, wie sie und ihre Freundin am Hauptbahnhof von Männern umzingelt und bedrängt, angefasst und gedemütigt worden seien, von Männern die - das sagen die Frauen einhellig - „arabisch“ aussahen und kein Deutsch sprachen.
Mittlerweile wissen wir von jungen Frauen, die mit blauen Flecken am ganzen Körper Schutz bei Polizisten suchten. Einer jungen Frau wurde die Unterhose vom Leib gerissen. Es ist die Rede von „Fingern in allen Körperöffnungen“, von mindestens zwei regelrechten Vergewaltigungen.
„Sprachlos!“, „Fassungslos!“, "Wütend!“, „Entsetzt!“ sind die Frauen, die sich bei uns gemeldet haben. Über diese enthemmten Übergriffe in dieser Horror-Nacht, die inzwischen als eine „neue Qualität der Gewalt“ begriffen werden, der systematischen Gewalt gegen Frauen. „Wie schützen und wehren wir uns, wenn es sonst niemand tut?“ will Margarete wissen. „Was können wir tun, damit sich so etwas nicht wiederholt?“ - das fragen sich viele.
Aber dass EMMA in den letzten Tagen zum Nottelefon für Frauen in ganz Deutschland geworden ist, hat auch noch einen Grund: Die Frauen fühlen sich woanders nicht ernst genommen! Kein Wunder: Schon als am Montag nach Neujahr, also am 4. Januar, in einer Pressekonferenz der Polizei das Ausmaß der sexuellen Gewalt in der Silvesternacht in Köln deutlich geworden war und auch überregionale Medien über die Vorfälle in Köln berichteten, kippte die Diskussion: Ganz rasch ging es nicht mehr darum, die Opfer dieser Nacht zu schützen. Sondern die mutmaßlichen Täter. Auf keinen Fall dürften die Übergriffe in der Silvesternacht dazu „instrumentalisiert“ werden, um den „Rassismus in Deutschland zu schüren“! hieß es.
Denn zum Beispiel auch auf dem Münchner Oktoberfest gäbe es ein massives Problem mit der sexuellen Gewalt. Am besten sei es, diesen Vorschlag verbreiteten selbst seriöse Medien, die Herkunft der Männer gar nicht erst zum Thema zu machen.
Ich bin verärgert über die Relati-
vierungen der Angriffe auf Frauen!
„Wir haben natürlich nicht vergessen, dass bis 1996 die Vergewaltigung in der deutschen Ehe straffrei war und die CDU schamlos dafür plädierte, dass das bitteschön so bleibt! Aber was soll man aus diesen ‚Argumenten’ folgern: Soll die Frau die bedrängt wird, stolz Rettung ablehnen, weil die Gefahr vom Falschen kommt? Leiden, schweigen und vermeiden?“ schreibt Lida dazu. Rosemarie klagt: „Ich bin verärgert über alle Relativierungen der Angriffe auf Frauen, ich empfinde es wie eine zusätzliche Schändung der Betroffenen!“ Und Milena erklärte: „Liebe Frau Schwarzer, viele Fragen, die Sie ansprechen, habe ich mir auch schon gestellt, aber nie gewagt, so etwas auszusprechen, aus der Befürchtung heraus, als Fremdenhasserin abgestempelt zu werden. Werden nun wir Frauen auf dem Altar der Political Correctness geopfert? Waren 100 Jahre Frauenbewegung und Emanzipation umsonst?“
Und noch ein weiterer Appell brandet seit 14 Tagen immer wieder bei uns an: „Wir Frauen müssen uns organisieren und wieder auf die Straße gehen!“ Damit haben die Frauen in Köln schon begonnen. Am letzten Samstag demonstrierten über 1.000 Frauen vor dem Kölner Dom. Und am Sonntag, den 17. Januar um 15 Uhr, ist auf der Domplatte der nächste „Women Walk“ angekündigt. Auch „gegen die Täter-Opfer-Umkehr.“