Martha Argerich: Die Löwin wird 75
Eine Verabredung mit Martha Argerich hat etwas von einem absurden Theaterstück. Um 14 Uhr soll sie im Hotel eintreffen. Nun ist es 16 Uhr, und sie ist immer noch nicht da. Jemand glaubt, sie im oberen Stockwerk gesehen zu haben. Argerichs Manager versucht zu beschwichtigen. Ob man nicht doch noch einen Kaffee möchte, einen Drink vielleicht? Gegen 18 Uhr heißt es, Martha komme jetzt nicht mehr, dafür aber ganz sicher in das Restaurant, in das man am Abend einkehren möchte. Doch auch dort ist sie nicht. Mitternacht wird es bald, alles isst, trinkt und lacht. Plötzlich schleicht eine dunkel gekleidete Gestalt mit bleichen Zügen um die Gäste herum, hängt wie selbstverständlich eine bunte Stofftasche auf die Lehne eines Stuhls und setzt sich. Martha? Ja. Sie ist es.
Ihr erster Lehrer fand sie so talentiert, dass er sie umsonst unterrichtete
Aufmerksam verfolgen ihre schwarzen, umschatteten Augen das Geschehen, fixieren jedes unbekannte Gesicht, während sie mit ihrem silbergrauen, schulterlangen Haar spielt. Ums Handgelenk ein schlichtes Wollbändchen, um den Hals eine billige Kette. Ein „großer“ Auftritt sieht wahrlich anders aus. Schließlich ist sie doch „La Martha“! Ein Star! Die „Löwin am Klavier"! In Japan wird sie wie eine Göttin verehrt.
Doch auch eine Göttin hat Hunger. Begierig greift sie zu dem Teller mit Pizzabrot, das der Kellner gerade einem anderen Gast reicht. „Was soll ich essen?“, fragt sie unvermittelt in die Runde. „Etwas Richtiges oder nur eine Kleinigkeit?“
Nach dem Essen scheint die Chance da. Für einen Moment ist Martha Argerich allein. Spontan setze ich mich zu ihr, spreche sie auf Spanisch an, der Sprache ihrer Kindheit in Argentinien. Sie entschuldigt sich. Erwähnt ihre Angst vor Journalisten und deren bohrenden Fragen. So schlau sei das ja auch nicht immer, was andere Kollegen sagen, meine ich. Sie lacht. Das Eis scheint vorerst gebrochen. „Ahr-ge-reech" buchstabiert sie ihren Namen, der auf kroatisch-katalanisch-jüdische Wurzeln weist und sagt, dass es sogar ein Dorf gebe, das Argeric heißt.
Sie erzählt von ihrer Kindheit in Buenos Aires. Vom Vater, der sie für „ein Genie“ hielt und sich dennoch kaum um sie kümmerte. Vom Bruder, den man „Cacique“ (Häuptling) nannte, obwohl er drei Jahre jünger war, sie jedoch stets im Mittelpunkt stand. Von Mutter Juanita, die es als Lebensaufgabe betrachtete, sie zu fördern, deren „Martha, üben!“ sie noch immer im Ohr hat.
Martha Argerich lächelt, wenn sie an Friedrich Gulda denkt, ihren ersten Lehrer in Wien. Und daran, dass der berühmte Pianist sich nicht traute, Geld für den Unterricht zu verlangen, da er sie für das „größte Talent“ hielt, das ihm „je untergekommen“ sei. 1965 gewinnt sie im Alter von 24 Jahren den Chopin-Wettbewerb in Warschau. Es ist der Beginn einer spektakulären Karriere, die immer noch anhält.
Dabei habe Argerich „alles dafür getan, ihre Karriere zu ruinieren“, wie einer ihrer Agenten meint. Den Spitznamen „Fräulein Nein!“ hatte sie von Anfang an weg, weil sie mehr Konzerte absagte, als sie welche gab. „Neurotisch, willensschwach, verwöhnt“, schimpfte auch Gulda. Ja, räumt Martha ein: Sie liebe das Klavier, hasse es aber, Pianistin zu sein. Das Lampenfieber sei schlimm.
Alleine auf der Bühne fühle diese bedeutendste lebende Pianistin sich „wie ein Insekt unter der Lampe“. 1981 zog sie die Konsequenz und tritt seitdem meist nur mit Freunden auf, oft mit dem Cellisten Mischa Maisky, den sie seit 40 Jahren kennt.
18 Minuten Interview wird mein Recorder verzeichnen. Sogar ein Foto hat jemand von uns gemacht. Für mehr Details bleibt die „autorisierte Biographie“. Von wilden Jahren in Genf ist da die Rede, ihrer Musiker-WG mit „18 Katzen“ und vielen, die ein und aus gingen. Von New York und Los Angeles sowie von Paris, wo sie heute lebt.
Eine schwere Krebserkrankung gehört in dieses rastlose Leben; zwei Ehen, drei Töchter und diverse Liaisons mit Kollegen, die mit Marthas hektischem Nachtleben nicht Schritt halten konnten und es irgendwann vorzogen, sie nur noch auf dem Podium zu verehren. Ihren Ruf als Femme Fatale in den Medien, die ihr „einen Hauch von Juliette Gréco“ attestierte, habe sie nie verstanden, sagt sie. „Ich war sehr kurzsichtig und musste die Augen zusammenkneifen, um die Leute zu erkennen. Das mag mir diesen merkwürdigen Blick verliehen haben.“ Marilyn Monroe in „Blondinen bevorzugt“ lässt grüßen.
Näher kommt man der letzten Sphinx des Musikbetriebs nur, wenn man sie hört
Mehr gibt der Film von Stéphanie Argerich, Marthas Tochter aus der Liebe zum Pianisten Stephen Kovacevich, über die Künstlerin preis. Sein Titel „Bloody Daughter“ ist Programm. Sehnsucht klingt durch, wenn Stéphanie erzählt, wie sie als Kind zu Füßen der klavierspielenden Mutter sitzt, deren Pass versteckt, damit sie nicht auf Konzertreise geht. Wirklich nahe kommt die Tochter ihrer Mutter auch heute nicht. „Maman liebt es, nicht definiert zu werden“, bringt ihre Schwester es auf den Punkt. Dabei liebt die bald 75-Jährige es, als „pianistische Übermutter“ eine „Musik-Familie“ um sich zu scharen auf den drei Festivals, die sie in Lugano, Beppu (Japan) und Buenos Aires gründete.
Näher kommt man der letzten Sphinx des Musikbetriebs wohl nur, wenn man sie hört. Bis heute hat sie sich ihre Vitalität, ihre „fliegenden Hände“ bewahrt, aber auch den Eigensinn. Mit virtuosem Furor fegt sie durch die Werke von Chopin, Liszt oder Prokofjew, nimmt sich jede Freiheit und schafft dabei Musik, die keine Herkunft mehr zu kennen scheint, nur ihr Spiel. Mit Martha zu musizieren, sagt Mischa Maisky, sei es „jedes Mal so, als wäre es das erste Mal. Sie ist so voller Leben. Immer frisch und neu. Unerwartet, mit einem Wort: aufregend!“
Teresa Pieschacón