Nadia Murad: Die Kämpferin

Nadia Murad ist für viele Jesidinnen eine Heldin. - Foto: J. Galanakis/dpa
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Als Nadia Murad Basee Taha den Raum betritt, greifen hundert Hände nach ihr. Die junge Frau verschwindet zwischen den Smartphones, die ihr entgegengestreckt werden, und den Frauen, die sie umarmen und ihr die Wangen küssen. Die, die weiter hinten stehen, recken die Köpfe, suchen sie mit ihrem Blick. Nadia. Ihre Heldin.

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Der schlichte Gemeindebau des Jesidischen Zentrums in Köln-Kalk ist fast zu klein für all die Menschen, die gekommen sind, um Nadia zu sehen. Und um zu hören, was sie sagt. Zum Leiden des jesidischen Volkes im Irak. Zum so genannten Islamischen Staat, der viele Tausend ihrer Landsleute getötet hat und viele weitere Tausend verschleppte, um sie zu Sexsklavinnen für IS-Kämpfer zu machen. Nadia Murad war eine von ihnen. Sie konnte fliehen und ist seitdem weltweit unterwegs, um den Opfern eine Stimme zu geben und ihrem Schmerz ein Gesicht. Es ist ihr eigenes.

Für ihre Lands-
leute ist sie eine Heldin. Woher nimmt sie ihre Kraft?

Nadia Murad ist sehr schmal und sehr blass. Ihre dunklen Haare fallen bis weit über die schmalen Schultern. Woher nimmt sie nur ihre Kraft? Die 21-Jährige hat MenschenrechtsaktivistInnen getroffen und PolitikerInnen. Sie hat im Dezember vor dem Sicherheitsrat der UN in New York gesprochen, hat von dem Grauen berichtet, das im August 2014 in Gestalt des so genannten Islamischen Staates in ihr Heimatdorf Kocho im Norden des Irak kam und ihr Leben, so wie sie es kannte, beendete. Ein unbeschwertes Leben sei es gewesen. Lehrerin habe sie werden wollen. Vielleicht für Geschichte. Dafür habe sie sich immer besonders interessiert. „Ich wusste nicht, was der IS ist oder was er tun würde. Ich wusste gar nichts.“  

Vor dem UN-Sicherheitsrat hat Nadia Murad Basee Taha eine Erklärung verlesen, hat nüchterne Worte gefunden für etwas, wofür es kaum Worte gibt. „Sie trennten Männer und Frauen. Sie führten uns in die Schule. Vom Fenster aus konnte ich sehen, wie sie die Männer töteten.“ Sechs ihrer Brüder und Halbbrüder werden an diesem Tag von den IS-Kämpfern ermordet, ebenso ihre Mutter. Die Angehörigen der jesidischen Religion gelten in den Augen der Terroristen als „Ungläubige“, als „Teufelsanbeter“. Das ist Grund genug, sie umzubringen. Nadia töten sie nicht. Sie wird mit anderen Frauen und Kindern mit dem Bus nach Mossul gebracht. Als Kriegsbeute für die Soldaten des IS. 

Man kann die Rede von Nadia Murad auf der Homepage der Vereinten Nationen immer noch aufrufen. Kann in jedem ihrer Worte die Anstrengung hören, die es sie kostet, ihre Geschichte zu erzählen. Sie spricht ohne Pause, als habe sie Angst, sonst nicht wieder beginnen zu können.

Das Gebäude, in das man sie in Mossul bringt, ist voller jesidischer Frauen und Mädchen. Sie werden an die IS-Kämpfer verteilt. Nadias Stimme wird brüchig, als sie von dem Mann erzählt, der sie schließlich mitnimmt. Sie erfährt, dass er eine Frau und eine Tochter hat – zu Gesicht bekommt Nadia die beiden nie. Sie wird eingesperrt, geschlagen und gedemütigt.

Nach drei Monaten vergessen ihre Peiniger einmal, die Türen zu verschließen. Nadia gelingt die Flucht. Über ein Hilfsprogramm kommt sie nach Deutschland, lebt inzwischen in der Nähe von Stuttgart. Ihre Schwester ist mit ihr in Deutschland, drei ihrer Brüder, die das Massaker in Kocho überlebten, sind in einem Flüchtlingscamp in Kurdistan. Ob sie sie je wiedersieht, ist ungewiss.

Sie hat zahllose Interviews gegeben, der Öffentlichkeit von IS-Kämpfern erzählt, die Kinder vergewaltigten; von Frauen, die sich selbst töteten, um dem Martyrium zu entgehen. In einem Haus in Mossul, in dem sie gefangen gehalten wurde, habe es einen Raum gegeben – voller Spuren des Leidens der Frauen. „An den Wänden war Blut. Und überall blutige Fingerabdrücke.“ Sie selbst habe nie vorgehabt, sich umzubringen. „Aber ich habe gehofft, dass sie es für mich tun."

Mehr als 3.000 Frauen und Kinder sind noch immer in der Gewalt des IS

An diesem späten Nachmittag in Köln erzählt Nadia Murad von den mehr als 3.000 Frauen und Kindern, die noch in der Gewalt des IS sind. Die immer noch erleiden, was sie selbst erlitten hat. Von Massengräbern, in denen die Männer verscharrt würden, und die Frauen, die der IS für zu alt befindet. „Ich will nur, dass die gefangenen Frauen und Kinder befreit werden“, sagt sie.

Die meiste Zeit ist Nadia jetzt unterwegs, reist zu Flüchtlingscamps in ganz Europa und trifft dort Menschen aus vielen Ländern, die fliehen mussten, weil der Terror ihre Freiheit und ihr Leben bedrohte. Sie versucht, ihnen ein wenig Hoffnung zu geben. Erst vor kurzem war sie im Flüchtlingslager im griechischen Idomeni. „Dort spielt sich eine humanitäre Katastrophe ab“, sagt sie über das Lager an der mazedonischen Grenze, in dem mehr als 11.000 Flüchtlinge unter zum Teil erbärmlichen Bedingungen ausharren. „Ich bin schockiert, enttäuscht und wütend“, schreibt sie nach dem Besuch auf Twitter.

Viele ihrer ZuhörerInnen im Jesidischen Zentrum sind selbst vor dem IS geflohen oder haben Verwandte, die fliehen mussten oder verschwunden sind. Fast zwei Stunden lang bleibt Nadia Murad Basee Taha bei ihnen und gibt auch ihnen Hoffnung. Dass der Albtraum ein Ende nehmen kann. Dass Familien und Freunde doch noch zu ihnen zurückkehren werden. An diesem Nachmittag in Köln ist Nadia der Beweis, dass es möglich ist.

Zum Abschied wird sie wieder von allen Seiten umringt. Die Männer, Frauen und Kinder im Jesidischen Zentrum wollen sie nicht gehen lassen. Wollen noch ein Foto mit ihr, wollen sie einmal berühren, sie an sich drücken. Nadia, ihre Heldin, die aus der Hölle zurückgekehrt ist.

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Shilan & Gian: Etwas zurückgeben!

Die Schwestern Shilan (li.) und Gian Aldonani auf dem Weg in ihre frühere Heimat.
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Natürlich musste sie schlucken, als der Pilot über Lautsprecher verkündete, dass er jetzt die Kabinenbeleuchtung ausschalten müsse – „aus Sicherheitsgründen“. Wenn man nach Erbil fliegt, mitten ins Kurdengebiet in den Nordirak, riskiert man, dass man nicht heil zurückkommt. Noch gefährlicher als in der Luft würde es später am Boden werden. Das war der Kölner Lehramtsstudentin Gian Aldonani durchaus bewusst. Aber sie wollte sich nicht von ihrem Plan abbringen lassen: Flüchtlingskindern helfen! Den Kindern jener Familien, die im August 2014 vor den Söldnern des so genannten Islamischen Staates Hals über Kopf aus ihren Häusern ins Shintar-Gebirge geflohen waren und jetzt, mitten im Winter, barfuß und in dünnen Hemdchen in den Lagern froren.

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Und so saß Gian am Tag vor Heiligabend, zusammen mit ihrer Schwester Shilan und Kommilitonin Rezan mit 11600 Euro in bar in der Tasche in diesem Flugzeug nach Erbil, unterwegs in ihre alte Heimat.

Bei jeder Welle hatte man Angst, dass man
nicht wieder hochkommt

Gian war einst selbst ein Flüchtlingskind. 14 Jahre ist das jetzt her, und fast hätte die heute 24-Jährige diese Flucht nicht überlebt. Den Weg über die türkische Grenze legten sie zu Fuß zurück, zwei Nächte schliefen sie in den Bergen. Der Vater war schon seit einem Jahr in Deutschland, die Mutter hatte sich für die Flucht mit einer anderen Frau zusammengetan. „Wir waren zwei Frauen und zwölf Kinder“, erzählt Gian. Bis Istanbul war die Reise für das neugierige Mädchen „eher ein Abenteuer“. Doch dann kam der Sturm, der bei der Fahrt übers Mittelmeer aufzog. Er schleuderte den Kutter, auf dem sie mit über 200 weiteren Flüchtlingen festsaß, durch meterhohe Wellen. „Bei jeder Welle hatte man Angst, dass man nicht wieder hochkommt“, erinnert sich Gian. Der Maschinenraum fing Feuer. Es konnte gelöscht werden. Aber nachdem der Sturm sich gelegt hatte, war die Gefahr nicht vorbei, denn die Überfahrt von Istanbul nach Italien dauerte doppelt so lang wie geplant: acht statt vier Tage. „Zwei meiner Schwestern wären fast verdurstet“, berichtet Gian. „Ich weiß noch, wie meine ­kleine Schwester die Wasserflasche einfach nicht mehr loslassen wollte.“

Wenn man all das als Zehnjährige übersteht, wird man wohl entweder ein sehr ängstlicher oder ein sehr mutiger Mensch. Gian Aldonani hat sich für Letzteres entschieden. Findet, dass es Schlimmeres gibt als eine ausgeschaltete Kabinenbeleuchtung im Flugzeug. Zum Beispiel Mädchen, die nicht zur Schule gehen dürfen.

„Für meine Mama war das der ausschlaggebende Grund, warum sie damals wegwollte“, erklärt Gian. Die Mutter wollte, dass ihre sechs Töchter eine gute Schulbildung bekommen. Aber das wäre für die jesidischen Mädchen nur unter Lebensgefahr möglich gewesen. Nach fünf Jahren Grundschule in ihrem Dorf in der Nähe von Mossul hätten sie für den Besuch der weiterführenden Schule in die Stadt fahren müssen. „Jesiden werden in dieser Region von allen diskriminiert, von den Kurden und den Arabern“, sagt Gian. Für Mädchen sei die Lage besonders heikel. „Sie werden immer wieder entführt und zwangsverheiratet. Und keiner macht was!“

Die Mutter wollte, dass ihre sechs Töchter eine gute Schulbildung bekommen.

Gians Mutter hatte auf Geheiß ihres Stiefbruders die Schule nach fünf Jahren abbrechen müssen. „Dabei war sie nicht nur Klassenbeste, sondern Schulbeste!“ ­erzählt Gian stolz. Ihr Onkel, also der Bruder der Mutter, ist Professor an der Universität von Mossul.

Ein Wort, das die Lehramtsstudentin oft verwendet, ist „bildungstechnisch“. Sie spricht es gut kölsch aus: „bildungsteschnisch“. „Da muss man ja auch bildungsteschnisch was machen“, sagt sie zum Beispiel, als sie erklärt, warum sie bei ihrem Hilfsprojekt im Dezember nicht nur Winterjacken und Decken in die Flüchtlingslager gebracht haben, sondern auch Hefte und Stifte für 700 Kinder.

Gian Aldonani will etwas zurückgeben. Denn sie hat, als sie nach zwei Monaten Flucht in Köln ankamen, „ganz viel Nächstenliebe und Selbstlosigkeit erfahren“, sagt sie. „Das hat uns geprägt.“

Zunächst dauerte es noch ein paar Wochen, bis sie ankommen konnten. Flüchtlingsschiff auf dem Rhein, Flüchtlingsheim in Düren. Aber im Oktober 2001 zog die Familie inclusive Vater in eine Vier-Zimmer-Wohnung in Ehrenfeld. Dann legten die Mädchen bildungstechnisch los.

Sie gingen in eine multinationale Klasse und „wir konnten innerhalb eines halben Jahres Deutsch“. Die Lehrerin nahm die Klasse mit in ihr Haus an der holländischen Grenze und fuhr mit ihnen zum Pfannkuchenessen. Der „Kölner Appell gegen Rassismus“, der sich 1983 gegen Kohls restriktive „Das Boot ist voll“-Asylpolitik gegründet hatte, organisierte Hausaufgabenbetreuung und Ausflüge ins Phantasialand. „Wir haben uns sehr schnell integriert“, sagt Gian. „Allerdings kenne ich auch Landsleute, die das nicht geschafft haben.“

Das hätte auch den Aldonanis passieren können – wenn es nach ihrem Vater gegangen wäre. „Mein Vater hat sich anfangs schwer getan“, sagt Gian. „Aber meine Mama war von null auf 100 dabei!“ Der Vater krankte daran, dass er von einem wohlhabenden Landwirt mit „Riesenhaus und einem Riesen-Lebensmittelladen mit Billardcafé“ in Deutschland zum Putzmann degradiert war. Und er war dagegen, dass seine Töchter so „freizügig“ leben sollten wie deutsche Mädchen. Sein Bruder, der mit seiner Familie ebenfalls nach Deutschland gegangen war, machte es vor: „Meine Cousinen durften nicht mit auf Klassenfahrt“, bedauert Gian. Aber gemeinsam mit der Mutter überzeugten sie den Vater. „Wir haben nie Scheiße gebaut und ihm gezeigt, dass er uns vertrauen kann. Und dass es was Gutes ist, wenn Mädchen und Frauen Rechte haben.“

Dazu trug auch der „Kölner Appell gegen Rassismus“ bei, der „bildungsteschnisch“ ebenfalls Angebote für Eltern machte. Es gab Deutschunterricht und Computerkurse für Frauen, die auch Gians Mutter belegte. Und: „Einmal im Jahr sind wir für zwei Wochen nach Ameland gefahren. So kamen auch unsere ­Eltern viel mit anderen Menschen in Kontakt.“ Heute hat ihr Vater, der jetzt Vorarbeiter ist, viele deutsche Freunde.

Als Gian eine Ausbildung zur Fremdsprachenassistentin machte und mit 16 ein halbes Jahr nach London wollte, ließ der Vater sie gehen. Und Gian machte weiter: Sie möchte Kindern Wissen vermitteln und, genau wie ihre Schwester, Lehrerin werden. Ihre Fächer: Wirtschaftswissenschaften und Politik. Das ehemalige Flüchtlingskind gibt nun Flüchtlingskindern Nachhilfe und begleitet Landsleute bei ihren Gängen aufs Amt.

Dann haben sie sich gefragt: Warum fliegen wir nicht selbst?

Als Gian im August 2014 von den Massakern gegen die Jesiden hörte, wusste sie: „Ich will was machen!“ Ihr war klar: Wenn ihre Eltern sich vor 14 Jahren nicht schweren Herzens entschieden hätten, ihr Dorf zu verlassen, dann würde ihre Familie jetzt vielleicht selbst in einem dieser Lager sitzen.

Zuerst wollten sie einfach Spenden sammeln und das Geld ins Kurdengebiet schicken. „Dann haben wir uns gefragt: Warum fliegen wir nicht selbst, dann wissen wir, dass die Sachen wirklich ankommen!“ Gian und Shilan stellten sich jeden Freitag mit einem Infostand in die Schildergasse und sammelten Geld. Sie nannten ihr Projekt „Hawar“, das kurdische Wort für Hilfe. Die Sache sprach sich herum. Die Flüchtlings-Initiative „Willkommen in Sürth“ machte einen Glühweinstand und einen Weihnachtsbasar. Schließlich kamen statt der erhofften 5000 Euro 11600 Euro zusammen. Und am 23. Dezember saßen Gian, Shilan und Rezan im Flugzeug. In Erbil angekommen, machten sie zwei Tage lang einen Großeinkauf: 1000 Winterjacken, 1500 Kinderschuhe, 500 Decken, 600 Schlafanzüge. Der Vater von Gians Freund, der noch im Kurdengebiet lebt, half ihnen. „Er ist Einzelhändler und konnte gute Preise für uns aushandeln.“ Und er besorgte einen LKW. Natürlich verteilten sie die Sachen an alle: Jesiden, Christen, Muslime. Gians Grundsatz: „Nationalismus stinkt und Religion ist Privatsache!“

Was sie in den Lagern sahen und hörten, „hat uns schockiert“, berichtet Gian. Und dann diese Brutalität. Eine Familie hatte drei Töchter in IS-Gefangenschaft, eine Frau 23 Angehörige verloren. „Wir haben viel geweint.“

Aber es war auch ein gutes Gefühl, etwas getan zu haben. Deshalb wollen sie weitermachen mit Hawar. „Wenn im April genug Geld da ist, fahren wir nochmal hin“, erzählt Gian entschlossen. Diesmal will sie Schuluniformen kaufen. „Damit die Flüchtlingskinder integriert sind.“ Wie das mit der Integration funktioniert, wissen wohl nur wenige ­besser als sie.

Aktualisiert am 23.4.2015: Gian und Shilan haben bisher erst 5.600 Euro zusammen und wollen weitersammeln. Sie planen, im September wieder in den Nordirak zu fahren. 

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