Jacqueline Sauvage wurde gerettet

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Jacqueline Sauvage hat nach 47 Jahren Ehehölle ihren Mann umgebracht: drei Schüsse in den Rücken. Sie ist dafür zu zehn Jahren Haft ver­urteilt worden. Nachdem ein Schwurgericht dieses Urteil im Dezember bestätigt hat, setzten sich Prominente für ihre Begna­digung ein. Innerhalb weniger ­Wochen waren 430.000 Unterschriften zusammengekommen, darunter die von 80 Abgeordneten. Sauvage wurde so in Frankreich zur Symbolfigur im Kampf gegen die so genannte Häusliche Gewalt. Präsident François Hollande hat sie Anfang Februar ­begnadigt. Doch der Kampf ihrer Anwältin fängt eigentlich jetzt erst an.

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Was ist nach 47 Jahren in der Hölle möglich?

Sechs Wochen hat die Untersuchung gedauert, sechs Wochen haben Psychologen sie befragt und geprüft, ob sie wirklich nicht gefährlich ist für ihre Mitmenschen. Sie, das ist Jacqueline Sauvage, 66 Jahre, verurteilt wegen Mordes an ihrem Ehemann zu zehn Jahren Haft, vom französischen Präsidenten höchst persönlich begnadigt. Jetzt hat die letzte Phase der Untersuchung begonnen, weitere medizinische und psychologische Tests werden folgen, viele Stempel, viele Unterschriften werden nötig sein, bis irgendwann das Tor der Haftanstalt von Réau hinter ihr zufällt und sie wieder in Freiheit ist. Es kann in ein paar Tagen der Fall sein, es kann auch noch ein paar Wochen dauern. „Vor dem Sommer wird die Entscheidung fallen“, verspricht die Staatsanwältin. 

Nach drei Jahren hinter Gittern hat Sauvage aus dem Gefängnis ein erstes, schriftliches Interview gegeben. Was sie tun werde nach ihrer Freilassung? „Ich will meine Töchter sehen, meine Enkelkinder, mich ausruhen, in Frieden leben“, schreibt sie kurz. Und dann noch diesen einen Satz: „Ich bin ein Symbol geworden, ohne es gewollt zu haben.“

Dass sie das geworden ist, dafür haben ihre beiden Anwältinnen gesorgt, Janine Bonaggiunta und Nathalie Tomasini. Sie haben diesen Kampf für sie geführt, nicht nur vor Gericht, auch in der Öffentlichkeit. Bonaggiunta sitzt am Schreibtisch ihrer makellos weißen Anwaltskanzlei in der Pariser Rue de Courcelles. Sie sieht müde aus, aber sie hat einen großen Sieg errungen. Menschlich wie juristisch. „Durch die Begnadigung ist Jacqueline Sauvage als Opfer anerkannt worden“, sagt Bonaggiunta, „das ändert alles“.

Der Kampf ist trotzdem nicht vorbei. „200.000 Französinnen werden von ihren Männern misshandelt und schweigen. Alle zwei Tage stirbt in Frankreich eine Frau unter den Schlägen ihres Lebensgefährten“, sagt Bonaggiunta. Eine traurige Bilanz. In Deutschland sieht es nicht sehr viel besser aus.

Bonaggiunta hatte ihre Anwaltsrobe schon fast an den Nagel gehängt, als zu machistisch empfand sie schon immer das Milieu, „zu viel Testosteron“. Da traf sie nach 20 Jahren ihre Kollegin Tomasini wieder. Die beiden tauschten sich aus, erzählten sich ihre Leben, ihre Enttäuschungen und beschlossen, sich gemeinsam auf Gewalt gegen Frauen zu spezialisieren. Gut fünf Jahre ist das her. „Und wie sollen euch die armen Frauen bezahlen?“, fragten die Kollegen schnippisch. 

Inzwischen haben die zwei Anwältinnen acht Mitarbeiterinnen in ihrer Kanzlei. 200 Fälle bearbeiten sie zurzeit, darunter auch zwölf Männer. „Die wehren sich noch seltener als die Frauen gegen häusliche Gewalt“, sagt die Anwältin. Die Scham ist bei Männern noch größer als bei Frauen. Es trifft alle ­sozialen Milieus: „Wir haben genauso viele Ärztinnen, Notarinnen und Bankerinnen unter unseren Mandantinnen wie Hauswartsfrauen und Arbeiterinnen.“

Wie waren sie angegriffen worden, die beiden Anwältinnen, weil sie im Fall Sauvage auf Notwehr und damit auf unschuldig plädiert hatten. Zwei Mal hatte das Gericht anders entschieden. Zuletzt am 3.Dezember 2015. Das Schwurgericht von Blois hatte das erste Urteil bestätigt. Sauvage hätte auf die ­Gewalt ihres Mannes mit einem „verhältnismäßigen Akt“ reagieren sollen, sagte Staatsanwalt Frédéric Chevallier in seinem Plädoyer. Aber was ist in einem solchen Fall verhältnismäßig? Was ist nach 47 Jahren in der Hölle möglich? Aus dem Haus gehen, Anzeige erstatten und ein neues Leben beginnen?

Es ist ein Sieg, menschlich wie juristisch

Sauvage hatte immer stillgehalten, die Beleidigungen, Beschimpfungen und auch die Schläge ertragen. Sie hatte ihre blauen Flecken überschminkt, die Veilchen hinter Sonnenbrillen versteckt. Sie hatte geschwiegen, wenn er sie vergewaltigte. Wenn er seine eigenen Töchter schlug. Die Nachbarn hatten Angst vor ihm. Manchmal warf er Steine in ihren Garten. Dass er seine Frau schlug, ahnte niemand. 

Am 10. Dezember 2012 war plötzlich Schluss. Jacqueline Sauvage wollte es nicht länger ertragen. „Wie ein Dampfkochtopf, der explodiert.“ Das waren ihre Worte vor Gericht. Sie hatte zuvor Schlaftabletten genommen. Ihr Mann, Norbert Morot, soll sie an den Haaren aus dem Bett gezogen und Essen verlangt haben. Er soll sie geschlagen haben. Dann war er auf die Terrasse getreten, ein Glas Whiskey in der Hand. Aber sie wusste, er würde wiederkommen. Sie wusste auch, dass die Schläge nach dem Whiskey noch schlimmer sein würden. Sie ging an den Schrank mit dem Jagdgewehr, holte es raus, lud es, ging auf die Terrasse und schoss ihm in den Rücken. Drei Mal. Von hinten. Dann rief sie die Feuerwehr an und ihren Sohn – nicht ahnend, dass er sich in der Nacht zuvor erhängt hatte.

„An diesem Tag hatte sie wohl gespürt, dass es nicht bei ein paar Schlägen bleiben würde“, sagt Bonaggiunta, „sie ahnte, dass sie in Todesgefahr war“. Die Anwältinnen haben deshalb auf Notwehr gesetzt. Rein juristisch war das völlig hoffnungslos. Schüsse in den Rücken gelten nicht als Notwehr. Die männlichen Anwaltskollegen sagten: „Typisch“ und stempelten ihre Kolleginnen wieder als „die Verrückten“ ab. Verrückt, weil sie nicht nur Urteile ­beeinflussen, sondern sogar die Gesetze verändern wollen. Bonaggiunta will erreichen, dass das „Symptom der geschlagenen Frau“ anerkannt wird. Opfer der so genannten Häuslichen Gewalt sind, zugespitzt aus­gedrückt, nicht mehr zurechnungsfähig. 

„Diese Frauen stehen unter dem Einfluss ihres Mannes wie Sektenmitglieder unter dem eines Gurus“, sagt die Psychiaterin Marie-France Hirigoyen. Sie vergleicht den Zustand mit einer Gehirnwäsche: „Es beginnt immer mit Verführung, aber es endet in Dominanz. Der Aggressor zwingt sein Opfer so zu denken wie er. Wenn es das nicht tut, gibt es Druck. Die Frau verliert ihren kritischen Geist und wird manipulierbar. Am Ende fühlt sie sich sogar schuldig.“

Zusammen mit der konservativen Abgeordneten Valérie Boyer hat Bonaggiunta im März einen Gesetzesvorschlag im Abgeordnetenhaus eingebracht. Die „zeitversetzte Notwehr“ soll im französischen ­Gesetz festgeschrieben werden, wie das bereits in Kanada der Fall ist: „Es geht nicht um einen Freischein zum Töten, sondern um die Anerkennung des Symptoms der geschlagenen Frau“, sagt ­Bonaggiunta. 

Zum Symbol geworden ohne es gewollt zu haben

Sauvage ist nicht der erste Sieg der engagierten Anwältinnen. In den letzten fünf Jahren haben sie einiges erreicht: 2012 haben sie den Freispruch von Alexandra Lange errungen, die nach zwölf Jahren häuslicher Gewalt ihren Mann im Streit erstochen hat. Ein Jahr später gelingt ihnen die Anerkennung der „häuslichen Vergewaltigung“, was in Frankreich bisher so gut wie nie vorgekommen war. Am 21. März haben sie in Nancy um den Freispruch von Sylvie Leclerc gekämpft, die nach 35 Jahren mit Schlägen und Vergewaltigungen ihren Mann im Schlaf umgebracht hat. Leclerc wurde schon als die „neue Jacqueline Sauvage“ bezeichnet, aber da sie ihren Mann im Schlaf getötet hatte, das wusste Bonaggiunta im Vorfeld, würde das kein einfaches Verfahren werden. Die Frauen haben es halb verloren: Leclerc ist zu neun Jahren Haft verurteilt worden.  

Der Fall von Sauvage hat allerdings bereits einiges im Bewusstsein der Öffentlichkeit und auch der Richter bewirkt: Anfang des Monats ist Bernadette Bert in Grenoble zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt worden, nachdem sie ihren Mann, der sie 40 Jahre lang misshandelt hatte, mit dem Jagdgewehr erschossen hat. Körperverletzung mit Todesfolge ­lautete das Urteil. 

In Wahrheit war das auch ein Sieg der beiden Anwältinnen, die von ihren männlichen Kollegen für „verrückt“ erklärt worden waren. Aber auf die hört Bonaggiunta schon lange nicht mehr. Viel wichtiger ist, was Jacqueline Sauvage ihr nach der Begnadigung ins Ohr geflüstert hat: „So hat vielleicht mein ganzes Leid doch einen Sinn gehabt.“        

Martina Meister

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