Zwangsent- vs. Zwangsverschleierung
Das Foto verbreitete sich im Rekordtempo im Netz: Drei Polizisten umstellten am Strand von Nizza eine Frau, die einen Burkini und eine hellblaue Tunika samt Kopfbedeckung trägt. Die Tunika zieht sich die Frau gerade unter den strengen Blicken der Polizisten über ihren Kopf.
Nicht zu Wort kommen Musli-
ma, die weder Niqab noch
Kopftuch tragen
Die Empörung ließ nicht lange auf sich warten: Seht her, mitten in Europa werden Frauen von Polizisten dazu gezwungen, sich am Strand auszuziehen! So also sieht es aus, das Burkini-Verbot in der Praxis!
In den Wochen davor hatten rund 30 französische Strandgemeinden ein solches Burkini-Verbot erlassen. Es wurde inzwischen vom höchsten französischen Verwaltungsgericht gekippt.
Auch in Deutschland war die Sorge über den „mit Waffengewalt erzwungenen Striptease!“ (Welt) groß. „Hört endlich auf, uns vorzuschreiben, was wir anziehen dürfen!“ forderte zum Beispiel das sich als feministisch verstehende Web-Frauenmagazin Edition F. Denn dass „Burkinis verboten werden sollen, steht vor allem für antimuslimische Ressentiments und Angst vor Dingen, die der Scheuklappen tragende Europäer nicht näher kennenlernen möchte“. #WTFFrance (What the fuck France) lautete der Hashtag, der den Protest gegen die Polizei-Aktion bündelte. Zitat: „Lasst uns nicht länger so tun, als wäre Frankreich ein Land von Freiheit und Gleichheit, wenn es das zulässt!“
Diese Debatte platzte, wie passend, mitten in die Diskussion über das - in Frankreich schon seit 2010 vollzogene - Verbot einer Vollverschleierung in Deutschland. Die besorgten Kommentare von vielen Frauen und einigen Männern über die diskriminierte Burkini-Trägerin wurden flankiert von groß bebilderten Erklär-Stücken darüber, was die Muslima an sich heute alles so trägt.
Dabei sind sie in Deutschland in der deutlichen Mehrheit
Im Stern, auf Spiegel Online und auch in der Süddeutschen Zeitung erfahren wir: Vollverschleierung ist nicht gleich Vollverschleierung! Da muss frau schon unterscheiden! Es gibt Vollverschleierung in Blau (Burka) und in Schwarz (Niqab). Mit Sehschlitz, Sehschlitz plus Gitter oder schwarzem, nur leicht durchsichtigem Gesichtsschleier, der das gesamte Antlitz der Frau verdeckt. Es gibt übrigens die Vollverschleierung sogar mit Gesichtsschleier plus zusätzlichem Metallgitter vor dem Mund. Diese unter anderem in Saudi-Arabien verbreitete Variante war den KollegInnen der Tages- bzw. Wochenpresse aber scheinbar nun doch too much, sie blieb unerwähnt.
Kaum zu Wort kommen in diesen Tagen die Frauen aus dem muslimischen Kulturkreis, die weder Burka noch Kopftuch tragen. Das ist übrigens die Mehrheit: Nur eine von fünf Musliminnen trägt in Deutschland ein Kopftuch. Vier tragen keines.
Spät zu Wort kommen durfte die Stadt Nizza. Die erklärte auf Nachfrage der Deutschen Welle, dass die Frau am Strand gar nicht dazu gezwungen worden war, sich auszuziehen. „Die Frau wollte zeigen, dass sie einen Badeanzug trägt - aber keiner hat sie dazu gezwungen, ihr Oberteil auszuziehen", sagt Erwann Le Hô, Sprecher der Stadt. Die Frau habe 38 Euro Strafe gezahlt und kurze Zeit später den Strand ruhig verlassen.
Aber: Immerhin haben sich jetzt wieder alle ganz trefflich empört. Und deswegen, liebe Anti-Rassistinnen, möchten wir euch ein neues Betätigungsfeld vorschlagen: In Ländern wie Iran, Saudi-Arabien, Afghanistan oder Katar werden Tag für Tag unzählige Frauen nicht dazu gezwungen, sich zu entschleiern. Sondern sich zu verschleiern. Von selbsternannten Sittenwächtern wie von der Sittenpolizei, die nicht verschleierte Frauen auf der Straße verhaften. Wer sich dem widersetzt, wird eingesperrt oder auch schon mal gesteinigt.
Und was ist mit den Frauen in Saudi-Arabien und dem Iran?
Darauf wiesen apropos Nizza auch die Iranerinnen von „My Stealthy Freedom“ hin. Sie erklärten: „Wenn Frankreich für seine Kleidervorschriften für Frauen verurteilt wird - dann sollte auch der Iran für seine Kleidervorschriften für Frauen verurteilt werden. Im Namen der 3,6 Millionen 'schlecht verschleierten' Iranerinnen, die allein im vergangenen Jahr von Religionswächtern verwarnt oder eingesperrt worden sind.“
EMMA schlägt folgenden Protest-Hashtag vor: #WTFWorld (What the fuck world).