Kleinstadt Belm: Verschleiert!
Belm hat alles, was ein Kleinstädtchen vor den Toren von Osnabrück braucht. Einen Posaunenchor und eine plattdeutsche Theatergruppe; einen Seniorenbeirat und die Kolpingjugend; einen Heimat- und Wanderverein, der stolz ist auf 80 Kilometer markierte Wanderwege rund um den Ort und auf das „Steinerne Meer“ mit seinen bis zu 3,80 Meter großen Findlingen, um die sich dustere Sagen ranken.
Und Belm hat die Johannes-Vincke-Schule. Deren Namenspatron stammt selbstverständlich aus der Region. Und es ist ein interessanter Zufall, dass der 1892 geborene katholische Theologe Johannes Vincke sich schon 1930 mit einem Thema habilitierte, das die Schule seit ein paar Jahren beschäftigt und neuerdings das ganze Land in Atem hält: dem Verhältnis von Kirche und Staat.
Drei Jahre ist es jetzt her, dass eine Schülerin der Johannes-Vincke-Schule eines Tages im Niqab in die Klasse kommt. Sie ist 13 Jahre alt. Und nun sitzt die Siebtklässlerin, die aus einer türkischstämmigen Großfamilie stammt, vollverschleiert im Unterricht, nur ihre Augen sind sichtbar. Die LehrerInnen sind irritiert. Sie führen Gespräche mit der Schülerin und deren Mutter. Die trägt zwar keinen Gesichtsschleier, aber ein streng islamisches Kopftuch und verhüllt ihren Körper unter einem langen Mantel. Die Mutter droht, das Mädchen in die Türkei zu schicken, falls es den Niqab ablegen müsse.
Meldet die Schulleiterin der Oberschule den Vorfall der Schulbehörde? Nein. Das Mädchen darf weiterhin vollverschleiert zur Schule kommen.
Drei Jahre später, im April 2016, meldet sich ein Lehrer bei der Hannoveraner „Beratungsstelle zur Prävention neo-salafistischer Radikalisierung“. Es geht um den zwei Jahre jüngeren Bruder der vollverschleierten Schülerin. Der Lehrer ist alarmiert, denn der Junge sei mit Gebetskette und Kaftan im Unterricht erschienen und habe erklärt, Selbstmordattentate seien für ihn legitim. Die Mutter erklärt, ihr Sohn sei „missverstanden“ worden.
Muss die Schülerin nun ihre Vollverschleierung ablegen? Nein.
Im August 2016 klagt eine andere Schülerin vor dem Verwaltungsgericht Osnabrück. Sie will vollverschleiert das Abendgymnasium besuchen. Das Gericht weist den Antrag ab. Erst jetzt meldet die Schulleiterin der Belmer Johannes-Vincke-Schule ihren Fall der Landesschulbehörde.
Muss die inzwischen 16-jährige Schülerin den Niqab jetzt, wo ein Osnabrücker Gericht die Vollverschleierung vorerst für unzulässig erklärt hat, abnehmen? Nein. Das Mädchen darf weiterhin im Niqab zur Schule kommen. Begründung der Schulbehörde: Sie trage den Niqab im Unterricht ja jetzt schon seit drei Jahren und genieße daher „Vertrauensschutz“.
Im Dezember 2016 berichten die Medien: Der Vater und ein älterer Bruder besagter Schülerin, Namik und Mahmut Ü., sind schon seit Jahren im Fokus des Verfassungsschutzes. Sie sind Anhänger des so genannten „Kalifatsstaats“, einer radikal-islamistischen Organisation, die die Errichtung eines Gottesstaats in Deutschland zum Ziel hat. Der Kalifatsstaat wurde 1994 in Köln von dem türkischen Islamisten Metin Kaplan gegründet, der später wegen eines Mordaufrufs zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Kaplan wurde 2005 in die Türkei abgeschoben, wo er wegen eines geplanten Anschlags auf das Atatürk-Mausoleum zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der Kalifatsstaat war in Deutschland schon 2001 wegen „Verfassungsfeindlichkeit“ und „Gefährdung der inneren Sicherheit“ verboten worden.
Muss die Schülerin jetzt, wo die radikal-islamistische Gesinnung der Familie zweifelsfrei geklärt ist, den Niqab abnehmen? Nein. Die 16-Jährige geht weiterhin vollverschleiert durch die Straßen des 13.000-EinwohnerInnen-Städtchens in ihre Klasse.
Dabei ist die Rechtslage eigentlich klar. Laut Schulgesetz sind SchülerInnen zur „aktiven Teilnahme am Unterricht“ verpflichtet, erklärt die Staatssekretärin im niedersächsischen Kultusministerium, Erika Huxhold. „Dazu gehört auch die offene Kommunikation, und das ist mit einem Niqab nicht möglich. Mimik und Gestik sind dabei nicht zu erkennen.“ Dennoch findet Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) im rot-grün regierten Niedersachsen: Das Ganze sei ein „Einzelfall“. Und in diesem „müssen wir sehr sorgfältig eine Güterrechtsabwägung vornehmen zwischen der Religionsfreiheit und dem Erziehungsauftrag des Staates“.
Religionsfreiheit? Begreift die Ministerin nicht, dass es hier nicht um Religion geht, sondern um deren Instrumentalisierung? Und dass die radikal-islamistische Familie mit ihrem angeblich harmlosen „Einzelfall“ einen Präzedenzfall schaffen will, der Signalwirkung hat weit über die Landesgrenzen hinaus?
Im Gegensatz zu der SPD-Ministerin hat die niedersächsische CDU die Strategie der Islamisten offenbar verstanden. Dass die Schülerin weiterhin vollverschleiert im Unterricht sitzen darf, sei „ein falsches Signal“ klagt Jens Nacke, der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Landtagsfraktion. „Und zwar sowohl an die Prediger und Werber für Islamisten als auch an die rechten Populisten.“ Beiden demonstriere man damit: „Dieser Staat setzt sich nicht zur Wehr!“
Seit Sommer 2016 tobt nun der erbitterte Niqab-Streit zwischen CDU und Rot-Grün in Niedersachsen. Er gipfelte Ende November 2016 darin, dass die CDU-Landtagsfraktion der sozialdemokratischen Kultusministerin mit einer Klage vor dem niedersächsischen Staatsgerichtshof drohte. Denn die Duldung des Niqab sei ein klarer Verstoß gegen die Landesverfassung.
Doch die Befürworter der Vollverschleierung ficht das wenig an. Im Gegenteil. Im Landtag mussten sich die Konservativen von dem Grünen Helge Limburg, seines Zeichens „Sprecher für Recht und Verfassung“, vorhalten lassen: „In völlig skrupelloser Weise tragen Sie den Einzelfall einer 16-Jährigen Woche für Woche immer wieder in die Landespolitik!“
Und auch auf kommunaler Ebene brodelt es. Zwar behauptet der Bürgermeister von Belm, der parteilose Viktor Hermeler, es habe zu dem Fall „keinerlei kritische Rückmeldung aus der Bevölkerung“ gegeben. Das scheint jedoch nicht so ganz zu stimmen. Der Belmer CDU-Ortsverbandsvorsitzende, Rolf Villmer, berichtet im Gespräch mit EMMA von „diversen Anrufen und Gesprächen“ mit LehrerInnen, Eltern und BürgerInnen vor Ort, die ihrem Unmut über die Duldung der verschleierten Schülerin „zwar unter der Hand, aber deutlich Luft gemacht haben“.
Es ist wohl kein Zufall, dass sich dieser Skandal ausgerechnet in Niedersachsen abspielt. Seit dem Antritt der rot-grünen Landesregierung unter Ministerpräsident Stephan Weil im Februar 2013 stehen die Zeichen auf Kuschelkurs mit den orthodox-(pseudo)religiösen Kräften. Taktgeberin ist die „Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe“, die SPD-Landtagsabgeordnete Doris Schröder-Köpf (SPD). Die erklärte schon vor ihrem Amtsantritt als Integrationsbeauftragte im November 2012 zum Thema Lehrerinnen mit Kopftuch vorauseilend: „Ich persönlich habe als Internatsschülerin bei katholischen Nonnen eines gelernt: Emanzipiertes Verhalten hat nichts mit der Kopfbedeckung zu tun. Es muss nur eine freiwillige Entscheidung sein, sie zu tragen.“
Und das erstaunliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das im Februar 2015 das Kopftuch zum „religiösen Imperativ“ erhob, begrüßte Schröder-Köpf ausdrücklich. Weiß die niedersächsische Integrationsbeauftragte eigentlich nicht, dass nur eine Minderheit muslimischer Frauen, nämlich jede fünfte, in Deutschland überhaupt ein Kopftuch trägt? Und selbst unter denen, die sich selber als „sehr gläubig“ bezeichnen, ist es nur jede zweite. Von einem religiösen Imperativ kann also nicht die Rede sein.
Noch vor ihrem Amtsantritt hatte die Regierung Weil angekündigt, einen Staatsvertrag mit den Islamverbänden abschließen zu wollen. Im Gespräch war unter anderem die Einrichtung von Gebetsräumen an Schulen. Niedersachsen wäre dann nach dem Stadtstaat Hamburg das zweite deutsche Bundesland gewesen, das den überwiegend ultrakonservativen Verbänden, darunter die türkische Ditib, weitgehende verbriefte Rechte eingeräumt hätte.
Das hatte die türkischstämmige Integrationsministerin Aygül Özkan (CDU) der Vorgängerregierung ebenso abgelehnt wie die niedersächsischen Gleichstellungsbeauftragten, die heftig protestierten. Seit dem Putsch in der Türkei und den Spitzelvorwürfen gegen die Ditib liegt der Staatsvertrag auch bei Rot-Grün inzwischen auf Eis.
Noch immer nicht abgeschlossen ist hingegen das Verfahren gegen die 16-jährige Safia S., die am 26. Februar 2016 am Hannoveraner Hauptbahnhof einen Polizisten ein Messer in den Hals gerammt hatte. Der Mann überlebte nur knapp. Im Januar verurteilte das Landgericht Celle die deutsch-marokkanische Jugendliche wegen versuchten Mordes und „Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung“ zu sechs Jahren Haft. Ob das Urteil Bestand hat, ist noch offen, Safia S. ist in Revision gegangen.
Safia S. war von ihrer streng gläubigen marokkanischen Mutter schon als Kind in salafistische Kreise eingeführt worden. Im Internet gibt es Videoclips, in denen die Siebenjährige zusammen mit dem Salafistenprediger Pierre Vogel zu sehen ist. Da trägt das Mädchen ein streng gebundenes Kopftuch, kein Haar ist zu sehen. Der Konvertit Vogel schwärmt von Familien, in denen schon zweijährige Mädchen von der Mutter ermutigt würden, ein Kopftuch zu tragen. So würden sie „dazu erzogen, als keusche Frau zu leben und sich so zu kleiden“.
Zehn Jahre später ist Safia S. Teil einer Terrorzelle, bestehend aus ihrem Bruder sowie ihren Bekannten Hasan K. und Ahmed A. Am 16. November 2015, dem Tag nach den Attentaten von Paris, schreibt Safia S. an Hasan K.: „Allah segne unsere Löwen, die gestern in Paris im Einsatz waren.“ Doch diesen Post entdeckt die Polizei erst nach dem Mordanschlag, ebenso die Chats von Safia S. mit dem IS, in denen sie eine „Märtyreroperation“ und eine „Überraschung für die Ungläubigen“ ankündigt. Die hatte sie geführt, als sie aus der Türkei zurückkehrte, wo sie sich dem „Islamischen Staat“ hatte anschließen wollen. In Istanbul wurde die 16-Jährige von ihrer Mutter aufgehalten und zurückgeholt. Die Beamten, die sie am Flughafen empfingen, beschlagnahmten zwar das Handy der IS-Anhängerin, werteten es aber erst Wochen später aus. Warum? Die lebensgefährliche Messerattacke hätte vielleicht verhindert werden können. Nicht nur die niedersächsische CDU ist darüber fassungslos. Auch so manche Journalisten stellen sich die Frage, ob den Behörden ihre „ohnehin schon anspruchsvolle Aufgabe“, den islamistischen Terror zu bekämpfen, nicht „durch politische Vorgaben zusätzlich erschwert wird“ (FAZ).
In der Johannes-Vincke-Schule im niedersächsischen Belm sitzt die 16-jährige Schülerin nach wie vor vollverschleiert im Unterricht. Im Sommer mache sie ihren Schulabschluss, dann sei die Sache ohnehin erledigt, heißt es. Die Strategie der extremistischen Eltern ist aufgegangen: Zum ersten Mal nimmt eine Schülerin an einer deutschen Schule vollverschleiert am Unterricht teil.
Höchste Zeit, dass die Bundesregierung die Schulen nicht länger mit ihren „Einzelfällen“ allein lässt, sondern endlich ein klares Signal gibt, wie es für unsere Nachbarländer Frankreich, Belgien und Holland längst selbstverständlich ist: ein Verbot der Vollverschleierung! Und dass die verantwortlichen PolitikerInnen sich nicht mehr hinter vorgeschobenen Argumenten verschanzen, sondern klar benennen, worum es geht: Die Vollverschleierung ist kein religiöses Gebot, sondern Ausdruck einer islamistischen, also demokratie- und verfassungsfeindlichen Gesinnung. Und ein Verstoß gegen die Menschenwürde.
Chantal Louis
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