Pornografie ist ein Einstieg
Mitten in der Nacht, in einem schlammigen Graben neben leeren Bierdosen und zerknüllten Zeitungen in einem Vorort außerhalb Stockholms, kauern meine Kollegin Nathalie und ich dicht nebeneinander. Vor uns liegt ein riesiger, verlassener Parkplatz und in der Ferne sehen wir die Lichter der nächsten Autobahn. Der Parkplatz ist leer, abgesehen von einem Auto, einem alten dunkelgrünen Toyota. Er parkt genau in der Mitte des Schotterparkplatzes.
Wir sind dem Mann ungefähr 15 Minuten gefolgt, seit er die Frau aufgesammelt hat, die nun mit ihm in dem Auto sitzt. Bevor er sich eine Frau ausgesucht hatte, war er fast eine Stunde die Malmskillnadsgatan immer wieder rauf und runtergefahren. Schließlich entschied er sich für Kristýna, eine dünne Frau in den Zwanzigern aus Tschechien mit einer total kaputten Vergangenheit: Sie wuchs mit viel Gewalt inklusive sexuellem Missbrauch auf, jetzt ist sie Alkoholikerin. Jedes Mal, wenn wir sie getroffen haben, war sie betrunken und hatte immer ein paar Ersatzbiere in ihrer Handtasche versteckt. Sie war durchgehend nett und höflich, wollte nie jemanden verletzen. Außer sich selbst.
Vor einem Jahr haben wir, gemeinsam mit der Einheit für Menschenhandel, ihren Zuhälter verhaftet, er sitzt jetzt hinter Gittern. Allerdings waren sämtliche Angebote verschiedener sozialer Einrichtungen und anderer Organisationen vergeblich, sie lehnte jede Hilfe ab. Und jetzt steht Kristýna wieder auf der Straße.
„Siehst du das, Simon? Das Licht und das Auto hüpfen nur so auf und ab!“ Ich schaue mir das Auto genauer an. Das Mondlicht ist hell genug, um die leichte, aber ständige Bewegung des Autos sichtbar zu machen. Aber das Licht von innen, bei dem es sich vielleicht um eine Taschenlampe handelt, leuchtet noch immer hell.
Irgendetwas stimmt nicht, wir müssen jetzt handeln, das Ganze geht schon viel zu lang. Ich schaue Nathalie an und zeige auf das Auto. Dann stehe ich langsam auf und bewege mich durch das hohe Gras und stechende Brennnesseln Richtung Auto. Natürlich trete ich direkt in eine Pfütze und mein Schuh saugt sich mit stinkendem, ekelhaften Tümpelwasser voll. Es riecht nach faulen Eiern und toten Ratten. Von der Dunkelheit beschützt, schleichen wir uns heimlich über den Parkplatz.
Das Auto bewegt sich noch immer auf und ab, als wir die Rückseite erreichen. Sie haben uns anscheinend bisher noch nicht bemerkt. Nathalie ist direkt hinter mir, während ich auf allen vieren an der Beifahrerseite entlangkrabbele. Das Geräusch des Kieses hört sich für mich an wie grollender Donner. Das federnde Auto quietscht in die Stille der Nacht hinein.
Als ich die hintere Tür der Beifahrerseite erreicht habe, drehe ich mich um. Nathalie hat ihre Polizeimarke herausgeholt, die jetzt sichtbar um ihren Hals hängt. Sie nickt mir zu. Ich drücke mich gegen die kalte Autotür und stehe langsam auf. Ein Zentimeter nach dem anderen. Im Fenster sehe ich den nackten Rücken einer Frau auf dem Rücksitz. Kristýna. Sie sitzt mit gespreizten Beinen auf einem Mann, ebenfalls nackt, und bewegt sich auf und ab. Sie reitet ihn heftig. Und dieses Licht leuchtet immer noch.
Mein erster Gedanke ist, dass er eine Taschenlampe benutzt, um sie besser sehen zu können. Aber er hält in seiner Hand tatsächlich ein Handy und seine Augen kleben auf dem Bildschirm. Er kümmert sich nicht um Kristýna. Sie reitet ihn einfach weiter, fast schon mechanisch. Vielleicht filmt er den Akt, ist mein nächster Gedanke. Aber als er das Display umdreht und der Frau zeigt, realisiere ich, dass er etwas ganz anderes tut. Auf dem kleinen Bildschirm erkenne ich eine junge Frau, die vor einem Mann kniet, den sie oral befriedigt. Ich hocke mich wieder hin, drehe mich um und flüstere Nathalie zu: „Bei den beiden geht es hart zur Sache. Und das Licht: Du wirst es nicht glauben. Der Typ schaut sich gleichzeitig einen Porno an!“
Nathalie schüttelt den Kopf und bewegt sich zurück zum Heck des Autos, dreht sich um und verschwindet. Ich höre die Stimme des Mannes. „Fick mich härter! Fick mich härter, du kleine Hure!“
Die Frau antwortet mit noch stärkerem Stöhnen und das Auto bewegt sich in schnellerem Rhythmus auf und ab. Ich bücke mich und werfe einen kurzen Blick unter das Auto. Mit meinem Kopf flach auf der Erde sehe ich Nathalies schwarze Stiefel. Sie steht in Position, wie ein Spiegelbild von mir. Wir sind bereit. Ich löse eine Taschenlampe von meinem Gürtel.
Es ist soweit. Ich springe hoch, schalte die Taschenlampe ein und leuchte in das Innere des Autos. Mit meiner anderen Hand packe ich den Türgriff und versuche, die Tür zu öffnen. Abgeschlossen. Ich hämmere mit meiner Faust gegen das Fenster und brülle: „Polizei! Öffnen Sie sofort die Tür!“
Ich drücke meine Polizeimarke gegen das Fenster. Das Licht meiner Taschenlampe ist fast schon zu hell, um irgendetwas erkennen zu können, aber ich spüre Bewegung im Auto. Aufruhr.
„Diese Tür ist auch abgeschlossen!“, ruft Nathalie von der anderen Seite.
Der Mann schubst Kristýna weg und zieht hastig seine Hose hoch. Sie rollt sich auf der Rückbank zusammen. Wir klopfen immer noch an die Fenster und befehlen ihm, die Tür zu öffnen, aber er krabbelt auf den Beifahrersitz, durchwühlt seine Jackentaschen und findet einen Schlüssel. Mit verzweifeltem Blick schiebt er sich auf die Fahrerseite. „Er hat die Autoschlüssel! Er wird abhauen!“, brüllt Nathalie mir von der anderen Seite zu.
Ich renne schnell zu dem Fenster der Fahrerseite. Ich hole den schwarzen Schlagstock aus meiner Weste. Ich schlage auf das Fenster. Der Stock prallt zurück. Ich hole nochmal aus, dieses Mal noch härter. Der Stock stößt wieder zurück. Ich drehe den Stock um und benutze stattdessen meine ganze Kraft, um den Griff durch das Fenster zu schmettern. Es knackt. Noch ein Schlag. Das Glas zerspringt. Der Mann schreit, ein paar Splitter treffen ihn.
„Polizei! Öffnen Sie die Tür, verdammt nochmal!“, schreit Nathalie. „Stop! Stop!“
Der Mann krümmt sich in Embryohaltung zusammen und verdeckt mit den Händen sein Gesicht. Sein nackter Oberkörper ist von Glassplittern übersät und er hat es noch nicht mal geschafft, seine Hose richtig zu schließen.
Ich fordere den Mann auf, mir seine Autoschlüssel zu geben. Er streckt seine zitternde Hand aus und lässt die Schlüssel erst los, als ich nach ihnen greife. Ich öffne das Auto zur gleichen Zeit, als Krýstina die hintere Tür aufmacht. Sie krabbelt hinaus und schluchzt, sie wolle das alles nicht mehr tun. Nathalie hilft ihr, ihre Kleidung auf dem Rücksitz einzusammeln. Ich starre den Mann an.
„Das ist absoluter Wahnsinn! Wissen Sie eigentlich wie böse das hätte enden können? Warum haben Sie versucht zu fliehen?“ – „Warum wohl? Vielleicht, weil ich betrunken gefahren bin und mir zur Krönung noch eine Hure gekauft habe! Macht Sinn, oder nicht?“ – „Wie ist Ihr Name?“ – „Ahmed …“ – „Hatten Sie schon vorher Kontakt zu der Polizei?“ – „Nein, noch nie.“ – „Wie alt sind Sie?“ – „22 …“
Ich entspanne. Die Gefahr ist vorbei. Plötzlich bemerke ich, wie noch immer jemand stöhnt. Neben Ahmed auf dem Beifahrersitz liegt das Handy, der Bildschirm leuchtet. Ein Mann drückt den Kopf der Frau noch näher an sich und rammt seinen Penis so tief in ihren Hals, dass sie anfangen muss zu würgen. Sie wirft ihren Kopf zurück, um dem zu entkommen, die Augen gefüllt mit Tränen.
„Warum der Porno?“ – „Porno?“ – „Ja, der auf Ihrem Handy.“ – „Ach, das. Na, natürlich um geil zu werden. Ist das illegal?“ – „Nein, aber Sie hatten gerade Sex mit einer Frau. Reicht das nicht?“ – „Nein, ich brauche auch den Film, während ich ficke. Das ist schwer zu erklären … Haben Sie schon mal Viagra probiert? Es hat ungefähr den gleichen Effekt.“ – „Wie Viagra?“ – „Ja, es ist ja nicht so, als wäre ich noch 15 Jahre alt.“
Der Mann lacht und erwartet, dass ich ihn verstehe, als wäre das, was er mir gerade erzählt hat, das Natürlichste auf der Welt.
„Ziehen Sie sich an und kommen Sie aus dem Auto. Sie sind festgenommen wegen Trunkenheit am Steuer und dem käuflichen Erwerb von sexuellen Dienstleistungen, wie Sie sich sicher schon denken können. Wir fahren jetzt zum nächsten Polizeirevier für die Beweise, und Sie werden auch befragt.“
Der Mann steigt aus dem Auto. „Das ganze Auto ist demoliert. Fuck. Was soll ich meinem Bruder sagen?“
Er sucht nach seiner Kleidung, die verstreut auf dem Rücksitz liegt. Ich entferne mich ein paar Schritte und rufe unsere Einsatzzentrale an. „Einsatzzentrale, hier ist Anna.“ „Hey, hier spricht Simon, 37-7190. Wir brauchen einen Abschleppwagen. Wir mussten eine Autoscheibe einschlagen und einen Mann festnehmen. Wir können das Auto hier nicht stehen lassen.“
Es wäre für mich unmöglich gewesen, ein Buch über Prostitution zu schreiben, ohne einen Punkt zu erwähnen, der uns immer öfter zu denken gibt. Ich hätte es mir leicht machen und das Thema einfach aussparen können. Aber wenn ich eine legale Sache sehe, die offensichtlich so einen großen Einfluss auf ein illegales Business hat, dann wäre es falsch, das in einem Buch über Prostitution nicht zu erwähnen. Also möchte ich jetzt über die Verbindung von Prostitution und Pornografie sprechen.
Als ich bei den ersten Razzien dabei war, war der typische Sexkäufer ein älterer, schwedischer Mann. Jahr für Jahr hießen sie Sven, Gustav, Anders, Ulf, Hans oder vielleicht Ingemar, meistens waren sie über 45 Jahre alt. Aber die Lage hat sich in den letzten Jahren verändert. Die Sexkunden, die wir jetzt festnehmen, sind jünger und ihr Alter sinkt weiter stetig. Heute nehmen wir Männer zwischen 18 und 25 Jahren fest, manchmal sogar noch jüngere und das jede Woche. Das durchschnittliche Alter des Sexkäufers ist in einer relativen kurzen Zeitspanne drastisch gesunken.
Zu allererst muss ich festhalten, dass diese jungen Männer, im Gegensatz zu anderen Sexkäufern, von ihrem Aussehen und auch sonst nicht besonders aus dem Rahmen fallen. Das sind ganz gewöhnliche Jungs. Die älteren Sexkäufer, Sven und Konsorten, schieben ihre Taten auf ihre jahrelange Ehe mit der immer gleichen Frau und ihrem Bedürfnis nach Veränderung. Aber die Jungs in den Zwanzigern, die meistens eine Freundin haben, können sich mit so einer Entschuldigung nicht rausreden. Ich denke, es muss noch eine andere Erklärung geben.
Die Einheit für Prostitution verhaftet pro Jahr etwa 150 bis 200 Männer wegen des käuflichen Erwerbs von Sex. Das heißt, wir durchsuchen eine beachtliche Anzahl an Smartphones, befragen Hunderte von Freiern und Frauen und durchforsten unentwegt Online-Plattformen und Foren, in denen es um Prostitution geht. Deshalb würde ich sagen, dass wir einen guten Überblick über die derzeitige Lage haben.
Ist mir noch ein anderer Trend aufgefallen, außer dass die Sexkäufer wesentlich jünger sind als früher? Die Antwort lautet: Ja. Wenn ich die Handys der Sexkunden durchsucht habe, habe ich eine große Menge an pornografischem Bildmaterial gefunden. Und ich frage mich, wie sehr die Pornografie diese Männer beeinflusst.
Wenn man den Einfluss von Pornografie auf die Sexkäufer verstehen möchte, ist es interessant sich anzuschauen, wie der gekaufte Sex abläuft. Ziemlich oft ist er nämlich die Kopie eines pornografischen Skripts. Über all die Jahre hinweg habe ich dann die Frauen, die ich in der Prostitution getroffen habe, immer wieder gefragt, wie die Pornografie die Männer beeinflusst, die sie treffen. Und es ist immer wieder frappierend für mich, wie bewusst den Frauen der Zusammenhang ist.
Wenn ich sie darauf anspreche, lachen sie normalerweise, schütteln den Kopf und finden die Frage geradezu lächerlich. Ich sollte es mittlerweile doch wissen, sagen sie. Dann höre ich eine Geschichte nach der anderen, wie die Kunden gemeinsam mit ihnen Pornos gucken und genau diese Dinge, die sie gerade gesehen haben, tun wollen.
Sowohl schwedische als auch internationale Untersuchungen ergeben, dass das durchschnittliche Alter, in dem Jungen anfangen Pornografie zu konsumieren, heute ungefähr bei elf oder zwölf Jahren liegt. Das ist natürlich auch ein Resultat des leichten Zugangs zu Pornografie durch das Internet via Smartphones. Und Pornografie ist heutzutage etwas anderes als früher. Was heute im Porno als „normal“ gilt, nannte man, als ich Teenager war, noch „hardcore“.
Was passiert mit dem Blick eines Jungen auf Frauen, wenn er regelmäßig, vielleicht sogar täglich, diese Filme guckt? Was passiert mit seinem Selbstbild? Ist es überhaupt möglich, solche Filme zu schauen, ohne davon beeinflusst zu werden? Kann es vielleicht sein, dass Pornografie unsere Gesellschaft bereits stärker geprägt hat, als wir zugeben möchten? Ich weiß es nicht. Ich habe keine Antworten, aber ich habe im Laufe der Jahre eine Menge gesehen.
Das Problem vieler junger Männer, die wir treffen, ist, dass ihnen der Konsum von Pornos irgendwann einfach nicht mehr reicht. Sie wollen das haben, was sie sehen – in echt. Damit missbrauchen sie bereits geschädigte Frauen, indem sie einfach Sex von ihnen kaufen, die keine Wahl haben und die deshalb genau das machen, was du ihnen sagst.
Simon Häggström
Der Text ist ein Auszug aus dem Buch von Simon Häggström: Shadow's Law (Bullet Point Publishing). Ü: Maren Schleimer