Fortschritt oder Backlash?
Die Prinzessin hat den Raum kaum betreten, da hat sie schon vollständig Besitz von ihm ergriffen. Als würde sie zwei Gespräche zur gleichen Zeit führen, verbindet Kholoud Bin Khalid Al Saud eine herzliche Begrüßung mit der ersten Botschaft: von dem „dunklen Zeitalter“, aus dem Saudi-Arabien gerade heraus und ins Licht trete. Von all den Neuerungen, die ihr Land in einem Tempo erfassen, das vielen im Königreich atemraubend erscheint. „Vor nicht allzu langer Zeit, da lebten die Menschen hier noch in Lehmhütten, wir hatten noch Sklaven“, sagt sie. Sie erinnert an den puritanischen, wahhabitischen Staatsislam und die erzkonservativen Religionsgelehrten, die die saudische Gesellschaft – allen voran die Frauen – in ein enges Korsett eingeschnürt haben. Wenig später erzählt sie von ihrem neuen Projekt zum Recycling von Plastikflaschen. „Neunundneunzig Prozent Frauen werden da arbeiten“, sagt die Prinzessin. „Von der Technik bis zum Management.“
Saudi-Arabien soll sich öffnen, um zukunfts-
fähig zu werden
Offen, selbstbewusst, modern, ohne die eigenen Traditionen und die eigene Identität aufzugeben – so soll Saudi-Arabien nach den Strategiepapieren seiner Führung in einigen Jahren aussehen. Die Agenda 2030 soll das erzkonservative Königreich öffnen, unabhängig vom Ölgeschäft und damit zukunftsfähig machen. Die gesellschaftlichen Zwänge sollen ebenso abnehmen wie die üppigen Zuwendungen des Staates an die Bevölkerung.
Nicht zuletzt die Frauen, seit jeher Saudis zweiter Klasse, profitieren von den Reformen. Sie sollen ermächtigt werden, in den Arbeitsmarkt zu drängen. Kholoud Bin Khalid Al Saud, die zur Königsfamilie gehört, ist eine perfekte Botschafterin für dieses gesellschaftliche Großprojekt. Eine selbstbewusste, dynamische Frau, die sich wie selbstverständlich in westlichen Großstädten bewegt und den Saudis jetzt auch den Umweltschutz näherbringen will. Sie preist das Durchsetzungsvermögen jenes Mannes, der den Wandel energisch vorantreibt: Ihr Vetter Kronprinz Muhammad Bin Salman, der neue starke Mann im Königreich.
Aber das Saudi-Arabien unter seiner Führung ist janusköpfig. Neben dem neuen, weltoffeneren Gesicht zeigt es immer wieder unerbittliche, brutale Züge. Denn der Kronprinz hat einen ausgeprägten Hang zum Autoritären und duldet keinen Widerspruch. Die Repression trifft jene, die weitere Freiheits- und Frauenrechte fordern, ebenso wie jene, die den Wandel rundweg ablehnen oder davon überfordert sind. Es ist eine von oben verordnete Revolution.
Sie hat das Leben der Saudis spürbar verändert. Der Kronprinz hat die gefürchtete Religionspolizei an die Kette gelegt. Restaurants in der Hauptstadt Riad schließen zur Gebetszeit nicht mehr so selbstverständlich wie früher, und die Menschen lassen sich nicht mehr so einfach zum Gebet in die Moschee beordern. Kinos eröffnen, Konzerte werden veranstaltet.
Mit Aufhebung des Fahrverbotes kam auch ein Gesetz gegen Belästigung
Auch der Druck auf die Frauen ist geringer geworden. Im Juni wurde das Fahrverbot für Frauen aufgehoben. Zugleich wurde ein Gesetz erlassen, das sie vor Belästigung schützt, was viele als mindestens genauso wichtig loben. Die Behörden sind überwältigt von dem Ansturm Tausender Frauen, die einen Führerschein erwerben wollen. Die Wartezeiten sind so lang, dass manche Frauen ins benachbarte Bahrein ausweichen, wo es schneller geht und einfacher ist. Manche argwöhnen, die Regierung wolle den Gestrigen im Königreich nicht zu viele fahrende Frauen auf einmal zumuten. Noch sind diese allerdings eher eine Seltenheit.
Sichtbarer sind die Frauen im Arbeitsleben. Sie sitzen hinter Schreibtischen in den Behörden. Unlängst co-moderierte erstmals eine Frau im staatlichen Fernsehen die Abendnachrichten. Nach Angaben der Regierung vom Oktober sind inzwischen rund 28 Prozent der Frauen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren berufstätig. Frauen eröffnen eigene Geschäfte und Lokale. Die Zahl der Frauen, die sich für eine Scheidung oder Unterhaltszahlungen für die Kinder vor ein Familiengericht wagen, nimmt zu, seit das Gesetz und die Richter sie besser schützen.
In der Küstenstadt Dschiddah, die seit jeher als der fortschrittlichste Ort im Königreich gilt, weicht die strikte Geschlechtertrennung in den Cafés und Restaurants zögerlich auf, manche Frau wagt sich sogar ohne Kopftuch auf die Straße. Und selbst jenes Bollwerk ist gefallen, das den saudischen Frauen bisher den Weg aus dem Status der Zweitklassigkeit verstellte: das Gesetz, nach dem jede Frau die Erlaubnis eines männlichen Vormunds braucht, wenn sie zum Beispiel studieren oder ins Ausland reisen will. Frauen über 21 Jahren dürfen nun ohne ihren männlichen Vormund einen Pass beantragen und sogar ohne seine Erlaubnis einholen zu müssen, ins Ausland reisen. Eine Kehrtwende: Noch vor knapp einem Jahr hatte die Saudische Regierung eine App zur Verfügung gestellt, die es dem Vormund meldete, sollte die Frau unerlaubt das Land verlassen wollen.
Es herrscht
ein Klima der Angst unter AktvistInnen
Doch Frauen, die hinter vorgehaltener Hand die Abschaffung dieses Gesetzes gefordert hatten, wollen auf keinen Fall mit ihrem Namen in der Presse auftauchen. Denn so sehr sich viele Saudis in diesen Tagen über die neuen Freiräume freuen, so sehr herrscht auch ein Klima der Angst unter den AktivistInnen, die sich seit Jahren für eben diese Freiräume stark gemacht haben. Seit Mai 2018 wurden nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International mindestens ein Dutzend Aktivistinnen und Aktivisten festgesetzt.
Samah Hadid, die für den Mittleren Osten zuständige Direktorin, sieht darin eine eindeutige Einschüchterungskampagne. „Niemand soll auf die Idee kommen, dass man Reformen erstreiten kann – sie sind ein Geschenk an die Untertanen“, sagt sie. Und sie beobachtet auch, dass es für ihre Organisation immer schwieriger wird, mit Anwälten, Angehörigen oder den AktivistInnen zu sprechen. Die Furcht vor der Rache des Kronprinzen sei einfach zu groß.
Unter denen, die seine harte Hand schon zu spüren bekommen haben, sind mit Abdullah al Hamid, Mohammad Fahad al Qahtani und Waleed Abu al Khair drei der bekanntesten Menschenrechtler Saudi-Arabiens. Sie wurden in diesem Jahr für ihr Engagement mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Prominente Aktivistinnen, wie zum Beispiel die 29 Jahre alte Loujain al Hathloul, die sich gegen das Fahrverbot aufgelehnt hatte, werden von Regierungsmitarbeitern und der regierungstreuen Presse als Agentinnen einer „fremden Macht“ verunglimpft, deren angebliche Aufgabe es sein soll, den Zusammenhalt der saudischen Gesellschaft und die Stabilität des Königreiches zu untergraben.
Amnesty International ist besorgt, weil einigen der Gefangenen Verfahren vor den berüchtigten Antiterrorismusgerichten und damit bis zu 20 Jahre Gefangenschaft droht. „Feminismus wird auf diese Weise mit Terrorismus gleichgesetzt“, klagt Samah Hadid. Sie sieht ferner einen „besorgniserregenden Trend“, gegen politische Aktivisten die Todesstrafe zu verhängen. Auch Frauen seien davon nicht ausgenommen.
Auf den Fluren des Hauptquartiers der Religionspolizei oder in den Moscheen, in denen sich die konservativen Saudis zum Gebet versammeln, haben die Verhaftungswellen eine ähnliche Angst und Sprachlosigkeit hervorgebracht. Konservative Religionsgelehrte bekommen kaum ein kritisches Wort heraus, dabei ist ihnen deutlich die Abscheu anzumerken, wenn sie nach Kinoeröffnungen oder der Aufweichung der Geschlechtertrennung gefragt werden.
Die Aufhebung des Fahrverbots, heißt es immer wieder, sei noch das geringste Problem. „Die Menschen sind verunsichert“, sagt ein älterer Herr in einer Moschee in Riad. In seiner Welt bleibt er der Gebieter über die Frauen, die allein im Haushalt arbeiten sollen. Dass daran auch kein Kronprinz etwas ändern werde, fasst er in den Satz: „Ich bin nur meinem Schöpfer gegenüber verantwortlich.“ Es gibt viele, die denken und fühlen wie er.
So manche Mutter sieht ihre Tochter lieber verheiratet als berufstätig.
Wie gespalten das Land ist, zeigt sich in Orten wie Buraida. Es ist eine konservative Stadt, wo der Wandel weniger sichtbar ist. Dort halten sich die gesellschaftlichen Zwänge und die alten Rollenbilder beharrlicher, weil es mindestens genauso wichtig ist, was der Nachbar denkt, wie das, was der Staat vorschreibt oder nicht mehr verbietet. Dort schauen die Leute argwöhnisch auf die Entwicklungen in Riad oder Dschiddah. Dort zeigen sich die Männer entschlossen, ihre Familien vor den Reformen abzuschirmen. So manche Mutter sähe ihre Tochter ebenfalls lieber verheiratet als erfolgreich im Beruf.
Doch ganz aufhalten lässt sich der Wandel auch in Orten wie Buraida nicht. Schon deshalb, weil die gestrichenen Zuwendungen des Staates die Männer dazu zwingen, Frauen und Töchter das Arbeiten zu erlauben, um das Familieneinkommen aufzubessern. „Das verändert die Verhältnisse in den Familien“, sagt ein örtlicher Funktionär. In seiner Stadt dürfen Frauen zwar nicht hinter der Ladentheke stehen, aber er zeigt stolz auf die Regale in einem Supermarkt, wo Süßwaren zum Verkauf stehen, die von Frauen zu Hause gefertigt wurden.
Für Prinzessin Kholoud Bin Khalid Al Saud ist das ein Zeichen dafür, dass der Umbruch nicht aufzuhalten ist. Jedes Mal habe es Widerstand gegeben, wenn ein König Neuerungen eingeführt habe, erklärt sie. Gegen das Satellitenfernsehen oder die Bildungsangebote für Frauen. Und sie rügt die Saudis, die sich über die neuen, finanziellen Härten beklagen, als undankbar. „Die meisten Leute mögen, was passiert“, sagt sie. „Alle anderen werden es akzeptieren.“ So, wie sie es sagt, klingt es wie: Sie werden es akzeptieren müssen.