Ein Zimmer für sie allein
Der Anruf kam aus Wien. Sabine Constabel brauchte in Stuttgart einen Moment, bis sie verstand, was Krisztina am anderen Ende der Leitung ihr sagen wollte, denn „sie hat die ganze Zeit geweint“. Doch schließlich war die Botschaft, die Sozialarbeiterin Constabel dem Schluchzen und Krisztinas deutsch-ungarischen Satzfetzen entnahm, klar: „Ich halte es nicht mehr aus!“
Die 40-Jährige, die sich seit ihrem 16. Lebensjahr prostituiert hatte, wollte endgültig aufhören. Klar wurde auch: Krisztina würde nicht zurück in ihre Stuttgarter Wohnung gehen können. Denn dort saß ihr Mann und Zuhälter Attila. Der hatte seine Frau zum Anschaffen nach Wien geschickt, wo er Kontakte ins Rotlichtmilieu hat. Und er wäre sehr wütend darüber, wenn seine Frau und Geldbeschaffungsmaschine jetzt nicht mehr funktionierte.
Sabine Constabel sagte also: „Setz dich in den Zug und komm zurück nach Stuttgart!“ Denn Constabel, Mitgründerin und Vorsitzende des Vereins Sisters – Für den Ausstieg aus der Prostitution, wusste, wohin sie Krisztina bringen konnte – und wo sie sicher vor ihrem Zuhälter sein würde: In die Schutzwohnung, die Sisters seit 1. Oktober 2018 betreibt.
Immer wieder müssen Frauen, die aussteigen wollen, von Constabel und ihren Mitstreiterinnen untergebracht werden. Sei es, weil sie sich vor Zuhältern oder Familienmitgliedern verstecken müssen, die nicht selten beides in Personalunion sind. Sei es, dass sie keine Bleibe mehr haben, weil sie in dem Zimmer, in dem sie sich prostituiert hatten, auch leben mussten.
Bis dato musste der Verein, der sich ausschließlich durch Spenden finanziert, in solchen Fällen Pensionszimmer anmieten. Doch drei Jahre nach Gründung des Vereins, der seither schon 38 Frauen erfolgreich beim Ausstieg geholfen hat, kann Sisters ausstiegswillige Frauen jetzt in einer eigenen Wohnung unterbringen.
„Ich morgen aufräumen und putzen“, sagt Krisztina, als sie die Wohnungstür aufschließt, in der anderen Hand eine Stofftasche mit Brot, Salami und Käse. „Ich sauber.“ Das stimmt. Es gibt gar nichts aufzuräumen oder zu putzen. Der graue Linoleumboden mit den bunten Farbsprenkeln in der großen Küche glänzt, ein kleiner Stapel Geschirr steht abgewaschen auf dem hellen Holzunterschrank mit der Spüle. Und auf dem großen Holztisch mit der gepunkteten Tischdecke liegen nur ein paar Unterlagen, darunter Krisztinas Mietvertrag. Zwar zahlt sie hier keine Miete, aber es gibt Regeln, denen sie zustimmen muss, wenn sie hier bleiben will. Zum Beispiel darf sie in der Wohnung keinen Besuch haben, damit der Ort wirklich geheim und damit sicher bleibt.
In der „Eingliederungsvereinbarung“ des Jobcenters, die auch auf dem Tisch liegt, wird bestätigt, dass Krisztina „aktuell intensiv auf Arbeitssuche ist“. Unterstützt wird sie dabei von „Plan P“, einem Projekt, das speziell ausstiegswilligen Frauen in der Prostitution bei der Arbeitssuche hilft. Stuttgart hat, im Gegensatz zu anderen deutschen Großstädten, ein gut ausgebautes Netz an Unterstützungsangeboten für den Ausstieg: vom Café „La Strada“ im Rotlichtviertel Leonhardstraße über Plan P bis hin zu Jobcenter-Mitarbeiterinnen. Und dann ist da natürlich Sisters mit einem Netz von Patinnen, die die Frauen unter ihre Fittiche nehmen.
Krisztina hat nie etwas anderes gekannt als ihren Körper zu verkaufen. Was das mit ihrer Seele gemacht hat, kann man sehen, wenn sie ihr T-Shirt hoch- und ihre Jeans runterzieht und die vielen kleinen Narben an ihrem Bauch zeigt, die sie sich selbst mit einem Messer beigebracht hat. Vor ein paar Jahren, als sie schonmal nicht mehr konnte, war sie in der Psychiatrie.
Schon ihre Mutter „musste auch machen diese Job“, erzählt sie an einem langen Abend am Küchentisch. „Mama schwere Leben. Wir Gipsys.“
Dass Sisters endlich eine Schutzwohnung betreiben kann, hat etwas mit EMMA zu tun. Als Sabine Constabel wegen der horrenden Mietpreise auf dem Stuttgarter Wohnungsmarkt kurz vorm Verzweifeln war, hatte EMMA im Sommer 2018 eine Meldung veröffentlicht: „Wohnung für Aussteigerinnen gesucht!“ Katharina, die „schon als Jugendliche von der EMMA geprägt wurde“, hatte die Meldung entdeckt – und eine Wohnung zu vermieten. „Ich hoffe“, sagt sie, „dass die Frauen Arbeit finden und sich ein neues Leben aufbauen.“ Sodann hat eine Spende von Alice Schwarzer möglich gemacht, dass die Wohnung in Betrieb genommen werden konnte. So schließt sich der Kreis. (Damit es weitergehen kann: Es sind weitere Spenden willkommen!)
Inzwischen hat bei Sabine Constabel schon wieder das Telefon geklingelt. Die Anruferin hatte verzweifelt bei ihrer örtlichen Beratungsstelle für Prostituierte angerufen und „die haben ihr kein Stück geholfen“, schimpft Constabel. Und wieder sagte die Sisters-Vorsitzende: „Setz dich in den Zug und komm nach Stuttgart.“ Krisztina wird bald eine Mitbewohnerin bekommen.
Ausgabe bestellen