Die große Asta Nielsen
Am 19. März 1911 wurde in Deutschland zum ersten Mal der Internationale Frauentag gefeiert, unter dem Motto: „Heraus mit dem Frauenwahlrecht! Dafür demonstrierten in Groß-Berlin an diesem Tag mindestens 30.000 Frauen. Der erste große Filmstar, Asta Nielsen, zeigte auf ihre Weise Flagge.
Als „Die Suffragette“ am 12. September 1913 in Berlin Premiere hat, muss die berittene Polizei erscheinen, um den Ansturm der Asta Nielsen- Fans in geregelten Bahnen zu halten. Die Ähnlichkeiten der Filmstory mit Ereignissen in England sind überdeutlich. Asta Nielsen spielt Nelly, die Tochter einer einflussreichen Suffragette (real Christabel Pankhurst), die sich leidenschaftlich dem Kampf ihrer Mutter für das Frauenwahlrecht anschließt. Straßenkämpfe und brutale Zwangsernährung werden dem deutschen Publikum gezeigt.
Zwar schließt „Die Suffragette“ im Gegensatz zu den meisten Asta Nielsen-Filmen mit einem Happy End – Nelly mit Ehemann im Kreis einer lachenden Kinderschar. Doch Asta Nielsens vorangehender Auftritt als politisch engagierte Frau bleibt prägend in Erinnerung. Der Erste Weltkrieg unterbricht die triumphale Karriere des Berliner Stars aus Dänemark. Mit ihrer Rückkehr nach Berlin 1919 führt Asta Nielsen ihre Kunst zu neuen Höhepunkten. Noch intensiver werden die Großaufnahmen ihres Gesichtes, das schöpferische Zentrum ihrer Ausdrucksfähigkeit, die sich in Sekundenschnelle wandeln kann. Ihre Augen spiegeln eine unendliche Palette von Gefühlen, ob Wut oder Leidenschaft, Erotik oder Ironie, tiefe Verzweiflung oder eiserne Selbstbehauptung.
Doch der Star ist zunehmend unzufrieden mit den Angeboten. 1924 schreibt Asta Nielsen an eine Freundin über das Filmgeschäft: Sie sei „zu dem höchst deprimierenden Standpunkt gekommen, dass das Geld die Hauptsache ist, und das ist jammerschade, wenn man wie ich wirklich Interesse an der Arbeit hatte.“ Auch wenn sie im gleichen Jahr „Die freudlose Gasse“ dreht, einen Klassiker der Weimarer „Straßenfilme“, mit Greta Garbo in einer Nebenrolle.
Angefangen hatte der zweite Teil der deutschen Weltkarriere der Dänin fünf Jahre zuvor. Die Barrikaden am Alexanderplatz, wo rechtsradikale Freikorps im März 1919 den Aufstand von Arbeitern und Sozialisten blutig niedergeschlagen hatten, waren kaum abgeräumt, da reisten Asta Nielsen und ihr zweiter Mann, der schwedische Marineoffizier Freddy Wingaardh, von Kopenhagen nach Berlin. Sie nahmen Quartier im exquisiten Grand Hotel Esplanade am Potsdamer Tor. Asta Nielsen hatte das Film-Angebot aus Deutschland, in „Rausch“ nach einer Strindberg-Vorlage die Hauptrolle zu spielen, umgehend angenommen.
Im August hatte „Rausch“ Premiere. Die Neue Hamburger Zeitung schrieb über den Star aus Dänemark: „Das Ganze ist als Leistung überwältigend, teuflisch schön.“ Ohne Pause drehte Asta Nielsen drei weitere Filme und knüpfte damit nahtlos an die Erfolge von rund dreißig Stumm- Filmen an, in denen sie zwischen 1911 und Juli 1914 die Hauptrolle hatte.
Sodann nutzte die Diva den neuen Schwung, um sich einen Herzenswunsch zu erfüllen.
Im Sommer 1920 gründet Asta Nielsen mit Freddy Wingaardh die Produktionsfirma Art. Sogleich beginnen die Dreharbeiten für den ersten Art-Film, in der Hauptrolle Asta Nielsen – als Hamlet.
Am 4. Februar 1921 war Premiere. Das Berliner Tageblatt schrieb: „Asta ist betörend, das Publikum rast vor Begeisterung.“ In ihrem Film geht es nicht um Travestie; ihr Hamlet ist kein schwuler Mann. Ein Satz, den er seiner Mutter entgegenschleudert, enthält die Botschaft dieses Films: „Ich bin kein Mann! Und muss keine Frau sein!“ Unter Männern bewegt sich dieser Hamlet wie ein Fisch im Wasser. Zugleich trägt er ein hautenges Trikot, das eindeutig einen weiblichen Körper abzeichnet. In Asta Nielsens Hamlet sind männliche und weibliche Elemente als Gegensätze angelegt, die sich ergänzen. Kritiker Willy Haas: „Meisterhaft.“
1921 verließ Asta Nielsen ihren schwedischen Ehemann, wie 1915 ihren dänischen, und verband sich mit dem Exil-Russen und Schauspieler Gregori Chmara, diesmal ohne Trauschein. Sie hatte genug vom Hotelleben und zog in eine prächtige Wohnung in der Kaiserallee.
Sie gönnte sich ein Leben im Luxus, hatte die Armut ihrer Kinderjahre im Kopenhagener Arbeiterviertel Nørrebro jedoch nicht vergessen, wo ihre Mutter als Putzfrau arbeitete. Der Star genoss nach Feierabend das Künstlermilieu, die Revuen und Kabaretts, die Berlin ab 1920 in eine freizügige Weltmetropole verwandelten.
Im Mittelpunkt ihres Lebens aber stand ihre Arbeit. In der B.Z. am Mittag schreibt die Schauspielerin nicht ohne Dramatik: Nur mit der Seele, also durch Entfesselung des Unbewussten nach völliger Beherrschung des Bewussten, lässt es sich suchen, erkennen und durchdringen, das große Mysterium des Films, dem ich seit je zu dienen glaubte.“
Schon ihr erster Film, „Afgrunden“, der am 12. September 1910 in Kopenhagen Premiere hatte, hatte die Schauspielerin über Nacht zum Weltstar gemacht. Sieben Wochen lang lief „Afgrunden“ ausverkauft in Dänemarks Hauptstadt. Wenig später wurden von Island bis Nordafrika die Kino-Vorstellungen aufgestockt, um den Ansturm auf Asta Nielsens ersten Film zu bewältigen. Am 28. November 1910 hatte „Abgründe“ in Düsseldorf Deutschland-Premiere.
Selbstbewusst schreibt Asta Nielsen in ihrer Autobiografie, dass mit „Abgründe“ „ein Wendepunkt in der Geschichte des Films eingetreten“ war. Und das war keine Übertreibung.
Im Frühjahr 1910 hatte eine Neuerung die Filmtechnik revolutioniert: Jetzt war es möglich, „bewegte Bilder“ für die Dauer von dreißig bis vierzig Minuten auf Zelluloid zu bannen und eine Geschichte zu erzählen. Die große Zeit des Stummfilms begann. Diese Revolution hatte einen Namen und ein Gesicht: Asta Nielsen.
Mit der neuen Technik schuf die Dänin als Hauptdarstellerin einen Frauentyp, der selbstbewusst aus herkömmlichen Konventionen ausbrach. Die Frau aus dem Arbeiterviertel verkörperte den Alltag ihres weiblichen Publikums mit all seinen Enttäuschungen, Hoffnungen und Träumen. Ebenso berührt Asta Nielsen tiefe Gefühle, wenn sie Frauen spielte, die in ihrer Leidenschaft Grenzen überschreiten.
Der Film „Abgründe“ beginnt mit einem bürgerlichen Idyll. Die Klavierlehrerin Magda Vang wird von Knud, einem Pfarrerssohn, umschwärmt, macht mit ihm Ferien bei seinen Eltern auf dem Land. Doch Magda lässt sich bei Nacht von einem Zirkuscowboy durch das Fenster des Pfarrhauses entführen. Von nun an teilt sie sein Zirkusleben, aber muss irgendwann erleben, wie andere Frauen ihren Platz einnehmen. Magda fügt sich nicht in die Opferrolle. In einer erregten Szene ersticht sie den ungetreuen Geliebten. Es werden etliche Filme folgen, in denen Asta Nielsen in ähnlicher Situation zum Messer oder zur Pistole greift.
Der Erfolg beweist, wie sehr das neue Massenmedium Kino in Verbindung mit Asta Nielsen den Nerv der Sehnsüchte von Frauen aller Schichten traf. Im Kino erlebten Frauen ein Gemeinschaftsgefühl, für das es zuvor keinen Raum und keinen Anlass gegeben hatte. Am Nachmittag strömten die Hausfrauen ins Kino, um aus ihrer traditionellen Einengung auszubrechen. In den Abendvorführungen genossen nach einem langen Arbeitstag Kontoristinnen und Verkäuferinnen, Telefonistinnen und Arbeiterinnen, ebenso Lehrerinnen und Krankenpflegerinnen im dunklen Kinosaal die „neue Frau“.
Es ist kein Zufall, dass Asta Nielsen in allen ihren Filmen als berufstätige Frau im Mittelpunkt steht. Der Star lebte auf der Leinwand überzeugend Emanzipation – die auch ihr persönliches Markenzeichen ist.
Der Weltstar des Stummfilms ist bereit, im neuen Tonfilm noch einmal ein Risiko einzugehen. Am 23. Dezember 1932 ist in Berlin Premiere. Als das Licht wieder angeht, überschlagen sich die Ovationen für die Hauptdarstellerin – „Unmögliche Liebe“ ist ein Tonfilm. Siegfrid Kracauer, Feuilletonchef der Frankfurter Zeitung, schwärmt: „So groß ist ihre Kunst, dass sie sich in einer veränderten Zeit ungemindert behauptet.“
Nur drei Monate später erhält der Weltstar – zusammen mit anderen Künstlern – eine Einladung zum Tee mit Reichskanzler Adolf Hitler und Propagandaminister Joseph Goebbels. Im Gespräch bietet Goebbels der Dänin eine eigene Filmgesellschaft an: „Er gab mir völlig freie Hand in Bezug auf das Repertoire und alles drumherum“. Asta Nielsen lehnte dankend ab und kehrt zurück nach Kopenhagen.
Über drei Jahrzehnte lang wird Asta Nielsen in Dänemark immer wieder Aufbrüche und Neuanfänge wagen. Bis hin zu ihrer dritten Ehe im Januar 1970 und einer Hochzeitsreise auf die Kanarischen Inseln. Sie stirbt am 25. Mai 1972 im Alter von 91 Jahren in Kopenhagen.
Barbara Beuys, Asta Nielsen -Filmgenie und neue Frau (Suhrkamp)